Erwartungen

Elisabeth Vollmer blickt zurück und nach vorn.

Zwischen Weihnachten und Neujahr lese ich immer meine Tagebücher. Diese Tradition ist mein persönlicher Jahresrückblick und hat sich bewährt. Auf wenige Tage konzentriert durchlebe ich noch einmal lesend mein Jahr – Höhen, Tiefen, Banalitäten, der ganz normale Wahnsinn. Ich stelle fest, dass sich Themen wiederholen (Warum muss ich diese Felder immer wieder beackern?) und Fettnäpfchen von mir auch mehrfach ausgelatscht werden (Bin ich so lernresistent?). Aber ich lese auch wunderbare Kleinigkeiten, die mein Leben bereichert haben (und die ich längst vergessen hatte). Und die wirklich guten Dinge und Begegnungen nehme ich mit großer Dankbarkeit noch einmal wahr. „Unerwartet“ ist ein Wort, das dabei öfter fällt und mir zum Schlüssel wird – im Guten wie im Schlechten. Beispiel gefällig? Ich erwarte nichts zum Muttertag, denke ich im Mai. Das ganze geschäftsmäßige Gedöns ist mir auch zuwider. Nicht nur einen Tag, sondern das ganze Jahr möchte ich schließlich als Mutter gesehen und geschätzt werden! Als der Muttertag kommt, ist es ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Keiner in der Familie bedenkt mich mit liebevollen Gesten oder Worten. Ich bin beleidigt. Wie blöd ist das denn? Da mache ich Sprüche und belächle milde die Frauen, denen der Muttertag wichtig ist, und merke beschämt, dass ich auch nicht so wirklich darüberstehe. Also wenigstens so ein kleines bisschen wollte ich dann doch bedacht werden … Nur habe ich nicht mal mir selbst eingestanden, dass ich solche Erwartungen habe. Ent-Täuschung tut weh. Ein Gegenbeispiel: Es ist Anfang Dezember, ein freier Samstag, ich habe Zeit und beschließe, Plätzchen zu backen. Kaum begonnen, kommt Jonas dazu: „Oh, Plätzchen! Ich mach mit!“ Kurz darauf klinkt sich auch Tabea ein. Wir werkeln, unterhalten uns und lachen. Eine Idylle wie im Bilderbuch. Einen Moment stehe ich in der Tür, nehme diese geschenkte Zeit in ihrer ganzen Schönheit wahr. Es kommen mir die Tränen vor Dankbarkeit. Völlig unerwartet werde ich beschenkt mit dieser Zeit mit meinen Teens. Im Rückblick auf mein Jahr merke ich, dass ich oft gerade dann beschenkt werde, wenn ich frei von Erwartungen bin. Wenn ich nichts er-warte, warte ich nicht auf das, was ich mir vorstelle, sondern bin frei, das wertschätzend wahrzunehmen, was mir begegnet. (Der Muttertags-Sonntag war nämlich eigentlich kein schlechter Tag, bis ich ihn mit grummeliger Miene vermiest habe …) Und ich merke, dass meine Erwartungen schnell zur Falle werden – besonders dann, wenn sie unausgesprochen sind. In diese Falle will ich im nächsten Jahr nicht mehr ganz so oft tappen. Am Valentinstag ist mir das schon mal gut gelungen. Es war ein ganz normaler, guter Tag in einer vollgepackten Zeit. Nichts Besonderes und völlig okay. Ich möchte lernen, mir meine Erwartungen einzugestehen und selbst zu entscheiden, ob diese Erwartung angemessen und wichtig für mich ist (und dann muss ich sie kommunizieren!), oder ob ich diese Erwartung auch loslassen kann. Bewusst und vielleicht mit ein bisschen Wehmut. Der Rückblick wird zeigen, wie mir das gelungen ist.

Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen bei Freiburg.

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