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Kritik ist wie Salz – Eine Dosierungsanleitung für eine Zutat der Liebe

Zwischen einem guten Essen und einem ungenießbarem liegen nur wenige Gramm. Beim Salz hängt alles von der richten Menge ab. Kritik ist das Salz in der Liebe:
Meike schaltet das Licht an und streift die Schuhe ab, Alex legt Geldbeutel und Autoschlüssel auf das Regal. „Darf ich ehrlich sein?“, fragt Meike.
„Hmmm?“
„Du warst ein ziemlich schlechter Zuhörer heute Abend. Ich habe es kaum ertragen.“
„Was?“
„Ja, Katrin hat von ihrem Urlaub erzählt und du hast das Weinetikett studiert. Noch bevor Katrin fertig war, hast du Gerd etwas anderes gefragt.“
„Aber das war doch vielleicht gar kein Problem für Katrin. Du hast schließlich zugehört.“
„Trotzdem. Mich hat es gestört. Ich finde das unhöflich.“
„Das klingt irgendwie anstrengend. Ich muss den ganzen Tag hochkonzentriert sein. Darf es dann abends nicht etwas lockerer zugehen?“
„So locker, dass es die Gefühle von anderen verletzt?“

Wann ist Kritik angemessen? Und wie viel ist man dem anderen schuldig? Wird Alex beim nächsten Besuch aufmerksamer werden? Oder wird er sich befangen und angespannt fühlen? Und wie wirkt sich die Kritik auf die Liebe aus? Wird Alex dankbar sein, dass ihn Meike herausfordert? Oder wird er sich bevormundet fühlen und vielleicht sogar abgewertet in seiner Art und Weise, Beziehungen zu leben?

Wir ahnen: Es kommt auf die Vorgeschichte an. Wenn Meike Alex häufig auf etwas aufmerksam macht, wird die Kritik wahrscheinlich negativ wirken. Wenn Meike dagegen sparsam kritisiert, wird sie Alex einen Denkanstoß geben und einen Impuls für die persönliche Entwicklung. In verschiedenen Bereichen des gemeinsamen Lebens stellt sich uns die Herausforderung, wie wir ein gutes Maß für Kritik finden:

Garten oder Wildnis: unsere Lebensorganisation
Ein kurzer Ausflug in die Botanik: Noch wenige Wochen gilt unsere Jahreskarte für den Park des Schwetzinger Schlosses, der im Barockstil angelegt ist wie etwa auch der Schlosspark von Versailles. So sehr ich über die Geometrie und die abgezirkelte Bepflanzung staune, gibt es doch eine Stimme in mir, die sagt: „Das geht zu weit. So sehr darf man Natur nicht zurechtstutzen.“ Auch im Garten unseres Alltags braucht es Übersicht und Ordnung. Wie weit das allerdings gehen soll, darüber kann man streiten. Paare tun das auch.

Das Thema „Ordnung“ bietet eine Menge Anlass zur Kritik – aus ästhetischen und Wohlfühlgründen, aber auch, weil die Effektivität unseres Alltags von Ordnung abhängt. Wo aber Ordnung zum Zwang wird, geht uns die wohlige Gedankenlosigkeit verloren, bei der man so schön entspannen kann. Maßvolle Kritik wird sich daher auf einige Orte und Abläufe beschränken, die für das Wohlbefinden des ordnungsliebenden Partners besonders wichtig sind. In der Ehetherapie gebe ich überkritischen Partnern manchmal ein Maß: „Nicht mehr als eine Kritik pro Tag. Wenn Ihr Partner in einem Jahr 365 Dinge verändert, haben Sie viel gewonnen, oder?“ Trotzdem kann es für den kritischen Partner schwer sein, sich derart zurückzuhalten. Wer seinen täglichen Kritikpunkt bereits beim Thema Ordnung verbraucht, muss in anderen Bereichen tolerant bleiben.

Image oder Fingerabdruck: unsere Außenwirkung
Ähnlich wie die Ordnung ist auch die Außenwirkung immer wieder ein Thema in Familien. „Mit Frankreich sieht es ja glänzend aus, weit besser, als ich immer gedacht habe“, scheint es mir, als ich im Manual Frankreich blättere, das meine Frau unserer Klolektüre beigesellt hat. Mein misstrauischer Blick ins Impressum lohnt sich: Das Magazin wurde von der Deutsch-Französischen Industrie- und Handelskammer herausgegeben – eine Imagebroschüre.

Wie gut müssen wir vor anderen dastehen? Bei dieser Frage winken wir ab: „Wir müssen anderen doch nichts vormachen.“ Aber in praktischen Fragen dreht sich doch einiges um unsere Außenwirkung: Wie oft muss das Auto in die Waschanlage? Dürfen unsere Kinder auch einmal mit fleckigen oder löchrigen Kleidern in die Schule? Welche Umgangsformen sollte man zeigen? Brauchen wir ein Eigenheim und wenn ja, in welcher Ausstattung? Auf wie vielen Plattformen pflegen wir unsere Kontakte? Wie pünktlich sind wir? Meist nimmt ein Partner die Außenwirkung etwas wichtiger als der andere. Manchmal sind beide ausgewogen, nur die Bereiche sind unterschiedlich, in denen mal die eine, mal der andere nicht schlecht dastehen möchte. Daher gibt es auch Kritik, die der Außenwirkung geschuldet ist: „Das macht man doch nicht.“ Oder: „Die anderen machen das doch auch.“

Wie findet Kritik hier ein gutes Maß? Unser berechtigtes Bedürfnis, uns mit dem Eindruck wohl zu fühlen, den wir auf andere machen, darf nicht über der Liebe stehen und auch nicht über der Freiheit, auch einmal etwas zu tun, was anderen nicht gefällt. Dieses Gleichgewicht kann ein Maß für die Kritik setzen: Ab und zu einmal ansprechen, wenn das Verhalten des Partners peinlich erscheint, aber das in viel Annahme einbetten und in die fröhliche Freiheit, mit dem gemeinsamen Leben einen ganz eigenen Fingerabdruck zu hinterlassen. Doch auch da, wo es niemand sieht, kann man Dinge auf den Prüfstand stellen.

Vorhaltungen oder Vertrauen: unsere Bindung
Wir lassen den anderen im Stich, stellen unsere eigenen Bedürfnisse über die des anderen und sind gelegentlich blind für die wunden Punkte, auf die wir doch Rücksicht nehmen sollten. Wir verlieren die Ziele und Prioritäten des anderen aus dem Blick und vergessen, den anderen zu ermutigen und zu unterstützen.
Doch wo führt das hin, wenn all die genannten kleinen und großen Kränkungen dazu führen, dass uns unser Partner täglich eine Liste all unsrer Versäumnisse präsentiert? Eine Viertelstunde Kritik würde wohl kaum ausreichen. Aber bereits fünf Minuten wären zu viel und würden das Miteinander allmählich ungenießbar machen. Hier lautet die Dosierungsanleitung: Die Unvollkommenheit des anderen so weit wie möglich ertragen und nur hin und wieder einmal darauf aufmerksam machen, wo Gefühle verletzt und wichtige Bedürfnisse übersehen werden. Wenn wir dann loslassen und vertrauen, wird uns der andere mit Zeichen der Liebe überraschen. Sie berühren uns umso tiefer, wenn sie keine Reaktion auf unsere Kritik sind, sondern uns aus einem Verstehen heraus und aus Zuneigung geschenkt werden.

Erziehung oder Wachstum: unsere Persönlichkeiten
Nicht zuletzt kritisieren wir den anderen auch um seiner selbst willen. Unser Partner soll sich doch entfalten und die Persönlichkeit werden, die sie/er im Tiefsten ist. Als Partner spüren wir genau, wo der andere unter seinen Möglichkeiten lebt: Partner vernachlässigen Freundschaften, bringen keine Disziplin für eine anstehende Fortbildung auf, unterliegen einem Laster, leben ungesund oder werden den eigenen Überzeugungen untreu. Sind wir nicht verpflichtet, aus Liebe an das Beste im anderen zu erinnern? Was wir dabei als Konzept im Kopf haben, entscheidet über das Maß unserer Kritik. Denken wir dabei eher an Erziehung, werden wir unseren Partner häufig auf Dinge hinweisen, die sich bessern sollten. Denken wir aber an Wachstum, kommen wir auf ganz andere Gedanken: Dann werden wir Wärme, Aufmerksamkeit und Unterstützung schenken, um einen Nährboden für das persönliche Wachstum zu schaffen. Wir wissen, dass manche Veränderung verborgen unter der Erde geschieht, bis sie überraschend und kräftig hervorbricht. Wir werden zwar auch hin und wieder etwas Unkraut zupfen und auf einen Wildwuchs hinweisen, aber das wird nur der kleinere Teil unserer wachstumsfördernden Aktivitäten sein.

Die Liebe abschmecken
„Allein die Dosis macht‘s, dass ein Ding kein Gift sei“, philosophierte der Arzt Paracelsus im Mittelalter. Die gleiche Substanz kann heilen oder töten, manchmal machen winzige Mengen den Unterschied. Was die Liebe angeht, gilt dies für nichts so sehr wie für unseren Umgang mit Kritik. Zu ihrer Dosierung eignet sich die erwähnte Faustregel: Nicht mehr als einen Kritikpunkt pro Tag. Eine weitere Regel aus der Paarforschung setzt die Kritik in ein Verhältnis zu positiven Zuwendungen wie Lob, Zärtlichkeit, lieben Worten, Zeichen der Dankbarkeit und Ähnlichem. Wenn eine Kritik durch fünf positive Worte oder Handlungen aufgewogen wird, fühlen sich Paare glücklich in ihrer Beziehung. Außerdem kann Ihr Einfühlungsvermögen erspüren, wo die Schmerzgrenze Ihres Partners liegt. Manche Persönlichkeiten vertragen viel Kritik, andere sind hier sehr sensibel. Daher kann man beim einen ruhig Klartext reden, bei anderen sollte man Kritik sparsam und behutsam anwenden. Auf diese Weise können Sie Ihre Beziehung abschmecken wie ein gutes Gericht: reichlich Spaß, Entspannung, Wertschätzung und Verbundenheit werden abgerundet durch jenes Maß an kritischer Auseinandersetzung, die das gemeinsame Leben voranbringt.
Jörg Berger ist Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.