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„Hilfe, mein Partner ist langweilig!“ – Drei Dinge braucht Ihre Beziehung jetzt

Der Partner erzählt immer nur das Gleiche und der Sex bietet auch keine Highlights mehr? Dafür hat Psychotherapeut Jörg Berger drei einfache Lösungen.

Darf es folgende Szenen in einer Liebesbeziehung geben? „Wie war dein Tag?“ – diese Frage und das anschließende Ritual hat Lisa mit in die Beziehung gebracht. Auch heute hat Daniel gefragt, wie der Tag war, und Lisa erzählt, was sie gemacht und erlebt hat. Daniel schweift mit den Gedanken ab. Denn so sehr unterscheidet sich Lisas Tag heute nicht von dem gestern, und vermutlich auch nicht vom morgigen. Natürlich interessiert sich Daniel für Lisas Gefühle und Erlebnisse. Oder im Tiefsten doch nicht?

Nach dem Gottesdienst sind Susanne und Rainer eingeladen, ein schöner Nachmittag liegt vor den Freunden. Susanne nippt an ihrem Espresso, den die Freundin nach dem leckeren Mittagessen gereicht hat. Auf irgendein Stichwort hin setzt Rainer zu einem Vortrag an, wie wenig sozial er unsere Marktwirtschaft findet. Schon wieder, denkt Susanne, denn Rainers Gedanken zu diesem Thema hat sie schon so oft gehört. Und es sind auch immer ähnliche Gedanken, die andere dann beisteuern. Jedes Thema erschöpft sich eben irgendwann. Susanne lobt die Buchsbäumchen, die in geschmackvollen Terrakottatöpfen sitzen. Doch Rainer wacht über die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Er stupst den abgelenkten Freund am Arm, macht eine charmante Bemerkung und kommt wieder auf sein Thema zurück. Das kann doch nicht sein, denkt Susanne, dass ich mich an meinem freien Tag in Gesellschaft meiner besten Freunde langweile. Aber ihr fällt nichts ein, um die Situation für sich zu retten.

Auch im Sex gibt es Gewöhnung

Lasse ist müde von einem langen Tag, aber Karen hat angedeutet, dass sie heute für Sex offen wäre. Lasse wägt ab. So oft hat Karen ja nicht Lust, eigentlich müsste er die Gelegenheit nutzen. Außerdem würde es Karen irritieren, wenn er keine Lust hätte, sie würde sich fragen, warum. Und gerade auf diese Frage würde Lasse nur ungern antworten. Ihr Sex folgt einem vertrauten Ablauf. Es gibt nur diesen einen, mit dem sich Karen erstens wohl fühlt und zweitens zum Höhepunkt kommt. Klar, es ist immer noch schön und man kommt sich schließlich auch nahe dabei. Aber es ist eben nicht mehr so, dass Lasse für dieses Erlebnis alles andere stehen und liegen lassen würde.

Weder Daniel, Susanne noch Lasse haben sich mit ihrem Gefühl der Langeweile anvertraut. In nahen Beziehungen ist Langeweile ein Tabu. Zu Recht, finde ich, denn es gibt kaum eine Rückmeldung, die niederschmetternder ist, als dass sich der andere im eigenen Beisein langweilt. Wenn mich meine Frau überkritisch, einschüchternd, dominant oder unangepasst fände, damit käme ich zurecht, zur Not auch, wenn sie mich für ängstlich, peinlich oder nachgiebig halten würde. Aber langweilig? Das liegt ganz knapp neben: nicht mehr liebenswert.

Würde ich jemandem raten, sich dem Partner mit Gefühlen der Langeweile zu offenbaren? Wohl nur, wenn ich überzeugt wäre, dass die Beziehung einen heilsamen Schock braucht. Häufiger rate ich Partnern, den Gründen für die Langeweile auf die Spur zu kommen und diese zu beseitigen.

Verzichten Sie auf zu viele Reize!

Ob Sie etwas berührt, liegt natürlich an den Reizen, die Sie aufnehmen – zum Beispiel in einem Gespräch oder einer gemeinsamen Aktivität. Es liegt aber auch an Ihrer Fähigkeit, sich berühren zu lassen. In der Psychologie spricht man von Erlebnisfähigkeit. Mit zwei einfachen Methoden können Sie Ihre Erlebnisfähigkeit steigern.

Fasten und Verzichten
Alles, was uns einen intensiven Kick gibt, verringert unsere Wahrnehmung für die zarten Reize. Deshalb dürfen wir uns nicht zu oft einen Kick geben. In Suchtkliniken muss man Abhängige oft wochenlang überzeugen, dass auch ein Leben ohne Suchtmittel seinen Reiz hat. Im häufigen Rausch hat sich ihre Erlebnisfähigkeit so verringert, dass ein abstinentes Leben für sie tatsächlich langweilig ist – bis sich ihre Erlebnisfähigkeit wieder neu ausbildet. Wo suchen Sie sich Ihren Kick, wenn Sie sich leer und unbefriedigt fühlen? Die Antwort darauf könnte ein Schlüssel zu einer vertieften Erlebnisfähigkeit sein – sie müssen nur ab und zu verzichten.

Tempo rausnehmen
Je schneller unser Leben ist und je mehr Eindrücken wir ausgesetzt sind, umso mehr leidet unsere Erlebnisfähigkeit. Aktivitäten reduzieren, Verantwortung abgeben, Pausen, in denen Sie nichts tun, Sonntagsruhe und stille Zeiten dagegen erneuern Ihre Erlebnisfähigkeit.

Wenn sich Ihre Erlebnisfähigkeit steigert, dann hören Sie vielleicht tatsächlich einen Moment nicht zu, wenn Ihr Partner über ein „langweiliges“ Thema spricht. Aber Sie spüren vielleicht, wie schön es ist, zusammenzusitzen, wie attraktiv Ihr Partner ist, wenn er so engagiert spricht, wie viel Dankbarkeit und Liebe in Ihrem Herzen aufkommen, wenn Sie an das gemeinsame Leben denken. Lasses Sex mit Karen mag einem eingespielten Ablauf folgen, gleich ist die sexuelle Begegnung aber nie. Es liegt auch an Lasses sexueller Erlebnisfähigkeit, ob er das Besondere jeder Begegnung wahrnehmen und auskosten kann.

Unehrlichkeit provoziert Langeweile

Als junger Therapeut habe ich mich gefragt, was denn wäre, wenn ich einen Menschen, den ich begleite, langweilig fände. Immerhin verbringe ich in manchen Therapien 20, 40 oder mehr Stunden mit einem Menschen. Wenn ich mich langweilen würde, könnte ich das dann verbergen? Oder würde ich versuchen, den anderen loszuwerden? Peinliche Fragen. Zum Glück habe ich festgestellt: Kein Mensch ist langweilig. Jede Lebensgeschichte ist spannend. Jede Person ein Kosmos von einzigartigen Wahrnehmungen und Möglichkeiten, der nie auszuloten ist. Ich langweile mich also tatsächlich nie in einer Therapiestunde? – Doch.

Manchmal geschieht es in der Anfangsphase einer Therapie, dass meine Gedanken abschweifen, dann denke ich daran, was mich aus der Stunde zuvor noch beschäftigt oder was ich noch organisieren muss. Das geschieht allerdings nur, wenn Menschen eine Fassade aufgebaut haben, ihre wahren Gefühle nicht zeigen und ihre wirklichen Gedanken nicht aussprechen. Stattdessen spielen sie eine „gute Patientin“ oder einen „guten Patienten“, sie verhalten sich, wie sie glauben, dass ich es erwarte. Oder sie führen ein Pseudogespräch mit mir – sie reden, ohne etwas von sich preiszugeben. Diese Fassade ist natürlich das erste Thema in der Therapie. Wenn die Person dann hinter der Fassade hervortritt, wird es spannend.

Seien Sie ehrlich!

Sie wollen Ihre Liebe wieder aufregender machen? Dann schockieren Sie den anderen doch einmal damit, was Sie wirklich denken und fühlen. (Ausnehmen würde ich hier nur Gefühle und Gedanken, die den Selbstwert des anderen zu stark angreifen.) Das lädt auch Ihren Partner zur Echtheit ein. Interessieren Sie sich dafür, was sich unter der Oberfläche verbirgt: „Warum beschäftigt dich das Thema eigentlich?“ – „Wie geht es dir mit diesem Erlebnis?“ Mit solchen Fragen könnte Daniel Lisas Bericht über ihren Tag unterbrechen. Er darf dabei nur nicht kontrollierend oder kritisch klingen. Lisa wird dann wahrscheinlich mehr von sich zeigen. Echtheit macht die Liebe spannend. Führende Paartherapeuten wie Michael Lukas Möller oder David Schnarch sind außerdem überzeugt, dass Echtheit das beste Mittel ist, um eine Paarbeziehung immer wieder erotisch aufzuladen.

Lassen Sie Themen los!

Wohl jeder Mensch hat ein paar ungelöste Lebensthemen, um die er immer wieder kreist, ohne weiterzukommen. Ein unbewusster emotionaler Sog lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf das ungelöste Thema. Es braucht nur ein bestimmtes Stichwort, und eine unbestimmte Traurigkeit steigt wieder auf oder eine Empörung kocht hoch über Missstände, die zwar traurig sind, aber das eigene Leben gar nicht betreffen. Ein immer gleicher Weltschmerz, immer gleiche Zweifel oder eine immer gleiche Empörung langweilen irgendwann auch das geduldigste Gegenüber.

Seine tiefen, konflikthaften Lebensthemen kann keiner selbst auflösen. Doch Sie können als Paar pragmatisch damit umgehen und vereinbaren, dass Sie bestimmte Themen beiseiteschieben, sobald diese wieder aufkommen. Wer neugierig ist, kann das Thema in eine Seelsorge oder professionelle Beratung einbringen, um zu schauen, was sich dahinter verbirgt. Das Ergebnis dann mit dem Partner zu teilen, ist natürlich wieder interessant. Warum sich Rainer wieder und wieder über Ungerechtigkeit ereifert, wäre für Susanne inzwischen spannender als das Thema selbst.

Kann die Liebe je langweilig werden? Ja, auch Langeweile gehört zum Alltag der Liebe. Kann die Liebe ihren Reiz verlieren? Niemals. Paare, die über ihre Erlebnisfähigkeit wachen, authentisch bleiben und immer wieder loslassen, was sie gefangen nehmen könnte, finden in der Liebe eine unerschöpfliche Quelle schöner Gefühle und überraschender Augenblicke.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

Konzentrationstrainerin: „Es gibt eine Reizüberflutung in unserer Gesellschaft“ – So sollten Eltern reagieren

Manchen Kindern fällt es schwer, in der Schule aufzupassen. Was dahintersteckt und wie Eltern die Konzentrationsfähigkeit ihres Kindes fördern können, erklärt die Verhaltenstrainerin Susanne Henrich.

Frau Henrich, Sie helfen Kindern, sich besser zu konzentrieren. Wie stellen Sie das an?

Ich biete sogenannte Konzentrationskurse an, die an das Marburger Konzentrations- und Verhaltenstraining angelehnt sind. Die Kinder lernen etwa auf spielerische Weise durch lautes Denken, sich selbst Anweisungen zu geben, was sie als nächstes anstellen sollen. Das nennt man verbale Selbstinstruktion. Das machen wir Erwachsenen auch manchmal, etwa, wenn wir abgelenkt werden und vergessen, was wir tun wollten. In so einem Moment kann man mit sich selbst reden und aufzählen, was man gemacht hat, um sich dann daran zu erinnern, was man eigentlich machen wollte. Das läuft in unserem Gehirn ab, ohne dass wir laut darüber nachdenken müssen. Aber manchmal machen wir es eben auch laut. Das Training in meinen Kursen ist dafür ausgelegt, dass es den Kindern Spaß macht, denn wir lernen und konzentrieren uns natürlich auch viel besser, wenn es uns Spaß macht.

Kindern wird oft zu wenig Zeit zur Entspannung gegönnt

Was sind das für Kinder, die zu Ihren Kursen kommen?

Ich betreue Grundschulkinder, die zum Teil Schwierigkeiten mit ihrer Aufmerksamkeit haben, die sich beim Lernen nicht so gut konzentrieren können, sich leicht ablenken lassen und die nur langsam in der Schule mitkommen. Und auch solche, die ein bisschen schulmüde sind.

Was bedeutet schulmüde?

Die einfach ein bisschen gestresst sind vom Rhythmus der Schule. Sie müssen morgens früh aufstehen, sich anziehen, frühstücken, in die Schule fahren, sich dort lange konzentrieren und haben dann auch am Nachmittag noch Programm. Das ist für Kinder anstrengend. Sie nehmen auch selbst wahr, dass sie in der Schule nicht so mitkommen wie ihre Mitschüler, weil sie sich nicht so gut konzentrieren können, da ihnen immer etwas anderes im Kopf herumschwirrt. Das frustriert sie und drückt auf ihr Selbstbewusstsein. Sie denken dann häufig „Ich kann nichts“ oder „Ich kriege nichts hin“. Die Kinder, die zu meinen Kursen kommen, sind so toll, so schlau und haben so viele kreative Ideen. Sie müssen einfach nur lernen, aufmerksam zu sein, aber auch, sich zu entspannen. Das ist oftmals das Problem, dass den Kindern zu wenig Zeit zur Entspannung gegönnt wird.

Zu viel von allem

Es wird manchmal bemängelt, dass „die Kinder von heute“ sich immer schlechter konzentrieren können. Können Sie das bestätigen? 

Die Tendenz ist da, und ich glaube, dass es unterschiedliche Gründe dafür gibt. Zum einen machen wir uns mehr Gedanken darüber. Es gab in der Vergangenheit bestimmt auch Kinder, die sich leicht haben ablenken lassen, aber das wurde weder in der Schule noch in den Medien so stark thematisiert wie heute. Zum anderen gibt es aber auch ganz klar eine Reizüberflutung in unserer Gesellschaft, ein „zu viel“ an allem und gleichzeitig ein „zu wenig“ an Entspannung.

Meinen Sie, die Kinder haben zu volle Terminkalender? 

Es ist gut, wenn Kinder Hobbys haben. Zum Fußball gehen, ein Instrument lernen, sich verabreden. Ich bin selbst dreifache Mutter und kenne den Alltag mit Kindern. Nachmittagsprogramm ist nicht per se schlecht, aber man muss es nicht übertreiben. Auch um unserer selbst willen nicht, denn auch für uns Eltern ist es stressig, wenn wir unsere Kinder von einem Termin zum anderen fahren müssen. Dann bin ich als Mutter auch nicht entspannt, und das überträgt sich wiederum aufs Kind. Kinder brauchen nicht rund um die Uhr Aktivitäten. Das führt zur Reizüberflutung. Kinder brauchen die Chance, das Erlebte zu verarbeiten.

Achten Sie auf Bewegung!

Was können Eltern tun, um die Konzentrationsfähigkeit ihrer Kinder zu fördern? 

Grundsätzlich ist es gut, darauf zu achten, dass Kinder ausreichend und guten Schlaf bekommen, das heißt zum Beispiel, vor der Bettgehzeit keine Filme mehr zu gucken oder Videospiele zu spielen, die sie aufwühlen und die sie erst mal verarbeiten müssen. Achten Sie auf ausreichend Bewegung! Melden Sie Ihr Kind in einem Verein an oder gehen Sie mit ihm viel nach draußen – das schult gleichzeitig auch die Wahrnehmung. Es ist etwas anderes, ob man sich einen Film über Tiere und Wälder anguckt oder es draußen konkret erfährt, indem man sich auf eine Wiese setzt und das Gras unter seinen Füßen fühlt.

Spielt die Ernährung auch eine Rolle?

Ja. Wir wissen inzwischen alle, dass zu viel Zucker schädlich ist – nicht nur für unseren Körper, sondern auch für unsere Konzentration. Das bedeutet nicht, dass man Kindern grundsätzlich verbieten sollte, Zucker zu essen. Aber achten Sie auf das Maß! Achten Sie auch darauf, dass Ihr Kind viel trinkt. Und schaffen Sie Erholungsphasen und Zeiten der Entspannung. In meiner Kindheit saß ich oft am Fenster und hab Schneeflocken beobachtet. Wenn das fünf Minuten sind, ist das schon eine Entspannung. Wir als Familie handhaben es auch so, dass die Kinder, wenn sie von der Schule kommen und Mittag gegessen haben, sich erst einmal eine halbe Stunde lang auf ihren Zimmern zurückziehen, um zur Ruhe zu kommen, mit Lego spielen, ein Hörspiel hören oder einen Mittagsschlaf machen – jeder auf seine Art und Weise. Schaffen Sie eine Zeit, in der Ihr Kind einfach mal nichts tut, und haben Sie auch mal den Mut, Langeweile zuzulassen. Nichtstun muss man lernen.

Will mein Kind sich umbringen?

„Meine Tochter (6) droht mir manchmal an, sich umzubringen, wenn ich etwas von ihr verlange, sie es aber nicht tun will. Wie ernst muss ich solche Androhungen nehmen, und was kann ich dagegen tun?“

Wenn ein Kind damit droht, sich umzubringen, ist das für Eltern sicherlich erschreckend und verunsichernd. Auch wenn Selbstmorde bei Kindern unter zehn Jahren so gut wie nie vorkommen, sollte man diese Aussage nicht ignorieren, sondern sich genauer anschauen, was dahintersteckt.

Merkmale einer kindlichen Depression

Um diese Aussage zunächst besser einordnen zu können, sollte man mit seinem Kind darüber sprechen. Was versteht es darunter, sich umbringen zu wollen? Hat es eine Vorstellung davon oder hat es diesen Satz irgendwo gehört und merkt, dass es damit Aufgaben vermeiden kann, die es nicht ausführen möchte? Nehmen Sie sich Zeit, in Ruhe mit Ihrem Kind darüber zu sprechen. Zudem ist es wichtig zu beobachten, in welchen Situationen Kinder davon sprechen, sich das Leben nehmen zu wollen. Sagen sie dies nur in Situationen, in denen sie eine Aufgabe vermeiden möchten, oder sagen sie dies auch in anderen Situationen?

Wenn man das Gefühl hat, das Kind ist insgesamt trauriger, dann sollte dem weiter nachgegangen werden. Eine kindliche Depression äußert sich häufig in anderen Symptomen als im Erwachsenenalter und wird daher nicht immer direkt erkannt. So geben Kinder mit einer depressiven Verstimmung oftmals eher körperliche Beschwerden an. Zudem zeigen sie weniger Begeisterungsfähigkeit, manchmal wirken sie in sich gekehrt. Manchmal wirken sie jedoch auch unruhiger oder zeigen vermehrt aggressives Verhalten. Sollte Ihr Kind Symptome einer kindlichen Depression zeigen und in verschiedenen Situationen davon sprechen, sich umbringen zu wollen, dann sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.

Ruf nach Aufmerksamkeit

Des Weiteren sollte man überlegen, ob es sich bei dieser Androhung um einen Ruf nach Aufmerksamkeit handeln könnte. Vielleicht gibt es Geschwister oder andere Aufgaben, die viel Aufmerksamkeit einfordern und die sechsjährige Tochter hat zurzeit das Gefühl, etwas zu kurz zu kommen? Nehmen Sie sich bewusst Zeit für das einzelne Kind und überlegen Sie, was Ihrer Tochter guttut. Welche Sprache der Liebe spricht dieses Kind? Eine Idee könnte eine spezielle Mama-Tochter-Zeit oder Papa-Tochter-Zeit sein. Dies können jeden Tag fünf Minuten sein oder auch regelmäßig längere Aktionen. Ihr Kind wird sich über diese positiven Zeiten der vollen Aufmerksamkeit freuen und die Einzelzuwendung genießen. In solchen Zeiten können Kinder gezielt Liebe und Aufmerksamkeit auftanken, die sie dann weniger über negatives Verhalten einfordern brauchen.

Wenn Sie den Eindruck haben, dass Ihr Kind den Satz nur gezielt dazu einsetzt, um Aufgaben zu vermeiden, dann sollten Sie darauf achten, dass Ihr Kind damit nicht durchkommt. Es sollte trotzdem seine Aufgabe erledigen. Gehen Sie in der Konfliktsituation am besten nicht darauf ein und bleiben Sie konsequent. Dann wird Ihr Kind lernen, dass es keinen Sinn hat, Sie unter Druck zu setzen, und dieses Verhalten nicht mehr zeigen.

Anna Post ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin.

Sie ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Frankfurt.

Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

Mettwurst oder Spitzenwäsche: So zeigen Sie Ihrem Partner, dass Sie ihn wirklich lieben

Romantische Fünf-Sterne-Dinner mit Sonnenuntergang sind super, ohne Frage. Aber es sind ganz andere Aufmerksamkeiten, die eine Beziehung ausmachen.

Um der Liebe unseres Lebens zu beweisen, wie wunderbar und einzigartig sie ist, geben wir uns viel Mühe, vor allem, wenn wir frisch verliebt sind. Die Verliebtheit aktiviert unsere Hirnwindungen in der rechten Großhirnrinde und treibt uns an. Wir schreiben Gedichte, basteln Karten, sparen für ein Vier-Gänge-Menü, stricken Schals, üben den Kniefall oder eine sinnliche Geste, schnuppern uns durch die Parfumabteilung und holen die Sterne vom Himmel.

Das Beziehungs-Gen

Woher kommt die Sehnsucht, der Liebe einen Ausdruck zu geben? Wir sind Beziehungswesen. Keiner lebt für sich allein. Wir brauchen das Gegenüber, um uns selbst zu erkennen, Bedürfnisse wahrzunehmen und uns weiterentwickeln zu können. Eremiten sind die absolute Ausnahme, aber selbst sie suchen ein Gegenüber. Eine mystische Begegnung. Eine Erkenntnis. Gott. Es scheint eine genetische Struktur in uns zu geben, die sich nach Begegnungen sehnt.

Einmal geklärt. Fertig.

Der Ausspruch: „Ich liebe“ ist nur sinnvoll, wenn es einen Adressaten gibt. Ich liebe Kunst, Sport, Essen – dich! Auch, wenn es praktisch zu sein scheint, ein einmaliges Bekenntnis der Liebe genügt nicht, denn „lieben“ ist ein aktives Verb. Es verlangt die Aktivität von kleinen und großen Liebesbeweisen, um nicht zu verkümmern. In der ersten Phase der Verliebtheit fällt es uns leicht, Aufmerksamkeiten zu ersinnen und zu verschenken. Doch irgendwann kommt unsere Liebesbeziehung im Alltag an, findet sich zwischen Routine und Gewöhnlichem wieder und wir gehen davon aus, dass der/die andere schon weiß, dass wir ihn/sie lieben. Wenn wir wollen, dass unsere Liebe Spuren hinterlässt, muss sie erlebbar sein, zum Anfassen und Spüren, zum Erinnern und Träumen. Doch wie sieht der perfekte Liebesbeweis überhaupt aus?

Hände weg von Hollywood

Hollywood und romantische Romane liefern Ideen, doch die scheinen sich nur umsetzen zu lassen, wenn man viel Geld, einen Adoniskörper, unbegrenzte Risikobereitschaft oder am besten alles zusammen hätte. Die Ansprüche an einen perfekten Liebesbeweis lassen uns erschöpft und überfordert zurück. Wir sind weder Romanheldin noch Prince Charming und dennoch sehnen wir uns danach, unserem Partner auf ganz besondere Weise zu zeigen, wie sehr wie ihn/sie lieben.

Im Kleinen wie im Großen

Aber vielleicht muss es auch nicht immer der ganz große Wurf sein. Wenn man sich nicht an Kleinigkeiten freuen kann, kann man sich auch nicht an den großen Überraschungen freuen. Kann man ein Sternemenü zelebrieren, wenn man die schlichte Mahlzeit verachtet? Kann man den Wellness-Urlaub genießen, wenn man sich nicht im Alltag entspannen kann? Was nützen die spektakulären Liebesbeweise, wenn man sich nicht an den kleinen Gesten der Zuneigung erfreuen kann? Eine Umarmung. Ein Post-it mit Herzchen. Eine gepflückte Blume vom Wegrand. Eine SMS mit: „Du fehlst!“. Die aufgehaltene Tür. Ein Streicheln über den Handrücken. Eine Süßigkeit auf dem Schreibtisch.

Unsere Liebe verdichtet für einen Augenblick in eine liebevolle Geste. Wenn ein Augenblick die Zeit zwischen zwei Lidschlägen ist und wir zwischen 11 und 19 Mal in der Minute blinzeln, dann sind das bis zu 16.200 Augenblicke am Tag. Wird da nicht ein Moment dabei sein, den wir unserem Partner schenken können?

Individuelle Vorlieben

Es mag Frauen geben, die empfinden Handlungen wie Tür aufhalten, in den Mantel helfen oder eine Rechnung zu übernehmen als Bevormundung. Übereifriger Feminismus und Gender Mainstreaming haben der Höflichkeit so manche Kerbe geschlagen. Ich finde es angenehm, wenn mir jemand in die Jacke hilft, damit ich mich nicht mit den verknuddelten Ärmeln plage. Sobald wir die Motivation einer freundlichen Geste entdecken, tut sie einfach nur gut.

Wir kennen doch unseren Partner und wissen, worüber er oder sie sich besonders freut. Ist es ein kleines Geschenk oder eine gemeinsame Unternehmung oder ermutigende Worte?

Wer mag die runde Brötchenhälfte?

Wenn wir nicht wissen, was unserem Partner gefällt, dann müssen wir darüber sprechen und unser Gegenüber muss ehrlich antworten. Wie oft hat man schon ein vermeintliches Lieblingsessen zubereitet und dabei denkt der Mann: „Jetzt hat sie schon wieder gefüllte Paprika gekocht. Ich konnte das Gericht schon als Kind nicht leiden.“ Es wäre doch schade, wenn wir aus Liebe auf die runde Brötchenhälfte verzichten, in der Annahme, dass unser Partner sie mag, und dabei ist es ihm schnurzpiepegal.

Mettwurst und Spitzenwäsche

Mein Mann ist als Außendienstmitarbeiter in verschiedenen Städten unterwegs. Er hat die Möglichkeit, zwischen zwei Terminen in ein Geschäft zu gehen und bringt mir dann Dinge, von denen ich mal gesagt habe, dass ich sie gebrauchen könnte, wie einen Topfkratzer oder eine Tasche für meine Ordner, mit. Manchmal bringt er mir auch Dinge mit, die ich nicht dringend brauche, zum Beispiel ein Spitzenbustier. In meinem Alltag komme ich höchstens beim Bäcker und Metzger vorbei. Dann kaufe ich ihm seine Lieblingsmettwurst, die er mit rohen Zwiebeln isst. Er freut sich, auch wenn er anschließend keine Küsse mehr bekommt. Blumen bringt er mir nie mit und das ist gut so, ich kaufe sie mir selbst, denn sie müssen zu den Vasen, Sofakissen und Tischdecken passen.

Sagt was!

Unter Frauen höre ich solche Klagen: „Mein Mann kennt nicht einmal meine Kleidergröße und bringt mir nie etwas mit.“ „Andere Männer sind viel aufmerksamer als meiner.“ „Nie kocht er für mich.“

An Valentinstag drängeln sich die Männer ins Blumengeschäft und zum Hochzeitstag schleppen sie sich schweratmend durch die Parfumabteilung. Lasst uns die Männer von diesen Vorstellungen an Aufmerksamkeiten befreien! Lasst uns direkt sagen, was uns gefällt und nicht nur hoffen, dass der Partner die indirekten Andeutungen decodieren kann. Wie die kleinen Gesten aussehen, entscheidet jedes Paar für sich. Wir dürfen nicht vergleichen. Der einen Frau sind ihre von ihrem Mann frisch gebügelten Blusen ein Liebesbeweis, dem anderen, dass man zusammengekuschelt einschläft und bei meinem ist es die Zwiebelmettwurst.

Kleine Gesten im Alltag

Eine kleine Geste ist ein lebendig gewordener Gedanke der Zuneigung im Alltag. Ohne großen Aufwand kann ich etwas für den anderen erledigen, was er nur ungern tut, zum Beispiel zur Post gehen, die Flaschen wegbringen, die Betten machen, staubsaugen, die Blumen gießen.

Kleine Gesten haben die Kraft, Missverständnisse zu entwaffnen. Sie schützen uns vor Empfindlichkeiten und zu hohen Ansprüchen. Sobald sich eine Geste mit Dankbarkeit paart, hat sie die Fähigkeit, uns durch Alltagsstürme zu tragen.

Ein Butterbrot voll Liebe

Jeden Morgen richte ich für meine Kinder und meinen Mann eine Brotdose her. Ja, es ist gesünder und kostengünstiger als ein gekaufter Snack, aber es ist auch eine Tupperdose voller Zuneigung. Ein Zettel mit „Du schaffst das“ oder „Ich denke an dich“ oder mit Herzchen signalisiert, dass wir auch während des Arbeitstages miteinander verbunden sind und er lässt mich wissen, dass es ihm gefällt. Wieso sonst sollte ich mir die Brotschmiererei im schlaftrunkenen Zustand antun?

Bleibt authentisch!

Wenn ich mich ständig verbiegen muss, damit mein Partner sich wertgeschätzt weiß, wird die Ehe zur Last. Die kleinen Gesten müssen nicht eingeübt und trainiert werden, sie schlummern in uns, vielleicht müssen sie nur wachgerüttelt werden. Aufmerksamkeiten lassen sich leicht in den Alltag integrieren, wenn sie authentisch sind.

Es fällt mir leicht, meinem Mann körperliche Zuneigung zu schenken, aber es würde mir schwerfallen, mich für Fußball und Stadionbesuche zu begeistern. Der andere wird es sowieso spüren, wenn man etwas ungern tut. Als ich ein Kind war, sagte meine Oma: „Wenn du nicht gern teilst, brauchst du überhaupt nicht zu teilen.“ Ich habe mir dann immer überlegt, wie ich trotz des Teilens freudig aussehen kann. Es geht nicht! Ein Geschenk muss von Herzen kommen, damit es sich im Gesicht widerspiegelt. Ja, und manchmal gibt es die Momente, die man für sich alleine haben möchte. Für diesen Fall hat mein Mann ein kleines Snacklager in seinem Kleiderschrank und ich trockne meine Fruchtgummiteile in meinem Bücherregal, bis sie hart wie Bonbons sind. (Das muss man im Verborgenen tun, sonst futtern die Kinder alles weg.)

Das Aufzählmonster

Kleine Aufmerksamkeiten entfalten sich durch Dankbarkeit und verkümmern durch Vorhaltungen: Es gibt Zeiten, da ist man nicht so aufmerksam, vielleicht weil Stress bei der Arbeit herrscht oder weil man Ärger mit den Nachbarn hat oder weil man körperlich erschöpft ist. In diesen Phasen investiert einer von beiden mehr in die Beziehung. Wenn man jetzt anfängt aufzuzählen, was man schon alles getan hat und wie viel man für den anderen opfert, dann entfesselt man das Aufzählmonster. Es hat die Macht, aus Kleinigkeiten Konflikte zu erschaffen. Plötzlich nervt alles! Zu lautes Einatmen. Zu lautes Ausatmen. Der Schlüssel wird nicht an den gewohnten Platz abgelegt, im Auto rieseln Krümel über die Sitze oder die Spülmaschine wird nicht effektiv eingeräumt. Im gleichen Maß, wie uns Kleinigkeiten erfreuen, können sie uns ärgern. In diesen Momenten müssen wir innehalten, durchatmen und uns dem Aufzählmonster in den Weg stellen. Wir werden kaum die Energie und Kreativität haben, uns etwas Außergewöhnliches für den Partner zu überlegen. Umso besser, wenn wir auf ein Repertoire aus Aufmerksamkeiten zurückgreifen können.

Der Partner ist genervt? Ich gebe ihm Möglichkeiten, sich zurückzuziehen.

Der Partner ist gehetzt? Ich umarme ihn ganz fest.

Der Partner ist entmutigt? Ich bete mit ihm.

Vom Sekundengeizhals zum Zeitschenker

Viele Unglücke passieren, weil man denkt, man hätte nicht genug Zeit. Man hastet durch den Alltag, drängelt sich durch den Verkehr und verbrennt sich am heißen Kaffee den Mund in dem Glauben, dadurch ein paar Sekunden zu sparen. Aus den gleichen Gründen verlieren wir unsere Aufmerksamkeit. Keine Zeit für den Abschiedskuss, weil ein Termin ansteht? Keine Zeit, dem Partner einen gesegneten Tag zu wünschen, weil das Kind quengelt? Die kleinen Aufmerksamkeiten kosten uns nur einen Augenblick und jeder Tag besteht aus wenigstens 16.000 Augenblicken. Wir dürfen nicht zum Sekundengeizhals mutieren. Lasst uns am Tag zehn Minuten Zeit nehmen, die wir in überlegten Portionen an unseren Partner verschenken. Vier Augenblicke, um sich zu umarmen. Zehn Augenblicke, um zwei Cappuccinos zu kochen. Zwei Augenblicke für den Gute-Nacht-Kuss.

Alles, was wir als wichtig erachten, wurde uns geschenkt: Leben, Zeit, Liebe, Beziehungen, Familie, Talente, Hoffnung. Wir sind Beschenkte. Wir dürfen großzügig sein mit unserer Aufmerksamkeit, mit Dank und Lob. Ja, und manchmal schlüpft aus unseren Hirnwindungen eine außergewöhnliche Idee, wie wir unseren Partner auf ganz besondere Weise mit unserer Liebe überraschen können.

Susanne Ospelkaus lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München, bloggt unter susanne-ospelkaus.com und arbeitet als Ergotherapeutin.

„Das Kind meiner Freundin haut“

„Der Sohn meiner Freundin schlägt manchmal andere Kinder und Erwachsene – auch mich. Meine Freundin greift aber oft nicht ein. Was kann ich tun?“

Das ist eine heikle Situation. Auf der einen Seite verhält sich das Kind Ihrer Freundin so, dass Sie eingreifen möchten, auf der anderen Seite ist es nicht einfach, in den Verantwortungsbereich einer anderen Mutter einzudringen. Aber Ihr Gefühl, dass man nicht einfach darüber hinwegsehen darf, ist absolut gerechtfertigt.

DAS HAUEN HAT EINEN GRUND

Die Frage, die sich mir als Erstes stellt, ist, warum der Junge andere Kinder schlägt. In der Regel kann man davon ausgehen, dass dieses Hauen nicht einfach nur frech ist, sondern dass ein ungesehenes Bedürfnis oder eine Not dahintersteckt. Vielleicht fühlt sich der Junge mit anderen Kindern gestresst oder ungerecht behandelt? Oder er fühlt sich in einer bestimmten Situation übersehen und erhofft sich mehr Aufmerksamkeit? Nicht selten hat so ein Verhalten auch damit zu tun, dass Kinder selbstbestimmt leben wollen und ihre Gefühle in diesem Alter noch nicht regulieren können, wenn sie an eine Grenze stoßen. Es kann also viele Gründe für solche Reaktionen geben. Deswegen ist es sinnvoll zu überlegen, was die Ursache sein könnte, und sie vorsichtig mit der Mutter zu thematisieren.

Fragen Sie Ihre Freundin auch, warum sie das so laufen lässt. Auch hier können unterschiedliche Gründe vorliegen. Ist es Unsicherheit, Resignation oder Überforderung, unter der sie leidet? Dann ist Ihre Freundin vielleicht sogar dankbar, wenn sie sich austauschen kann und Unterstützung bekommt. Ist es aber Gleichgültigkeit oder eine bewusste Entscheidung für diesen Erziehungsstil, könnte das Gespräch etwas schwieriger oder sogar kontrovers werden. Aber auch dann dürfen Sie klar und liebevoll Ihre Position vertreten und auf den Missstand aufmerksam machen.

EIGENE GRENZEN KLAR FORMULIEREN

Natürlich ist es nie leicht, andere mit Kritik zu konfrontieren. Aber wenn Sie vorrangig von ihren Empfindungen und Sorgen sprechen, könnte das Gespräch zu einer Haltungsänderung führen. Wie sehr Sie sich selbst in diesen Konflikt investieren möchten und können, hängt sicherlich auch von der Intensität Ihrer Freundschaft ab. Je enger der Kontakt ist und je häufiger sich die Problematik aufdrängt, desto wichtiger ist es, eine Lösung zu finden. Doch letztlich müssen wir uns bewusst machen, dass wir andere Menschen nicht ändern können, wenn Sie keine Einsicht haben.

Erleben sie eine konkrete Situation, in der Sie selbst geschlagen werden, ist es angebracht zu reagieren, auch auf die Gefahr hin, dass das zu einem Konflikt mit der Freundin führt. Wenn Ihre Freundin über das Hauen ihres Kindes hinweggeht, können Sie trotzdem Ihre Grenze klar formulieren: „Stopp, ich möchte nicht, dass du mich haust.“ Diese Rückmeldung braucht das Kind unbedingt. Genauso wichtig ist es, andere Kinder, die gehauen werden, zu schützen und den Sohn ihrer Freundin zu begrenzen und aus der Situation zu nehmen. Auch wenn das eigentlich vorrangig die Aufgabe der Mutter wäre, ist es angemessen, sich hier einzumischen, weil es um andere Kinder geht.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F.
www.sonja-brocksieper.de
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Versuch etwas anderes!

Fünf Ideen, eingefahrene Erziehungssituationen zu verändern. Von Debora Güting

Mein Mann und ich haben früh Kinder bekommen und damit auch früh mit der Erziehung von Kindern begonnen. Mit Mitte zwanzig hatten wir bereits zwei kleine Kinder. Einige Freunde haben in dieser Zeit noch nicht an Kinder gedacht. So waren wir einige Jahre voraus in Thema Erziehung, als diese dann ihr erstes und zweites Kind bekamen. Immer mal kam und kommt es vor, dass sie uns fragen, was wir über Erziehung denn gelernt hätten und ob wir ein paar Tipps weitergeben können. Dieser eine Erziehungstipp, schlicht und flexibel, wirkungsvoll und jederzeit anwendbar, hat sich immer wieder bewährt und gefestigt: „Wenn es auf eine Art und Weise nicht funktioniert, dann versuch‘ etwas anderes.“

Jedes Kind ist einzigartig, und jedes Kind reagiert anders auf diverse Erziehungsmethoden. Gibt es also ein unerwünschtes Verhalten des Kindes, das wir als Eltern nicht in den Griff bekommen? Oder soll das Kind etwas lernen, und es klappt nicht? Dann ist es immer wieder notwendig, sich an die Situation anzupassen und kreativ zu werden. Habe ich als Mutter auf eine Situation immer gleich reagiert, zum Beispiel geschimpft, wenn das Kind Schuhe stehen lässt, ist es unwahrscheinlich, dass das Kind bei einer weiteren gleichen Situation sein Verhalten ändert. Daher ist es schlauer, wenn ich selbst mein Verhalten ändere. Damit provoziere ich eher eine andere, neue und hoffentlich bessere Reaktion auf Seiten des Kindes. Wenn wir als Eltern die dafür notwendige Energie investiert haben, und es tut sich was auf der Seite des Kindes, dann macht es Freude, schafft Freiräume und verbessert die Beziehung zum Kind.

Hier einige Beispiele, die es leichter machen sollen, an festen Schemen zu rütteln und auf neue Ideen zu kommen:

1. DEM UNERWÜNSCHTEN VERHALTEN KEINE AUFMERKSAMKEIT SCHENKEN

Unser ältester Sohn, Nino, hat immer gut darauf angesprochen, wenn wir ihm Dinge erklärt haben. Wenn er etwas verstanden hat, dann hielt er sich meist an die damit verbundenen Erwartungen, auch schon als ganz kleiner Junge. Mit etwa vier Jahren fing er an, mit den Zähnen zu knirschen. Ich hatte gehört, dass das nicht gut für die Zähne sei, und zusätzlich war das Geräusch für mich unangenehm. In diesem Fall versagten die uns bekannten Methoden: Kein Erklären half. Kein Schimpfen half. Kein Bitten half. Schließlich beschlossen wir, dem Knirschen für eine Weile einfach keine Aufmerksamkeit zu schenken und zu sehen, was passiert. Das Erstaunliche geschah: Innerhalb von ein paar Tagen hat Nino von allein aufgehört, die Zähne aneinander zu reiben. Durch unser geändertes Verhalten änderte sich auch das Verhalten unseres Sohnes.

2. VORBILD SEIN

Unsere Tochter Lucy rannte als älteres Kindergartenkind immer quer über jede Straße, ohne zu schauen, ob ein Auto kam. Wir warnten sie, wir zeigten die Gefahr, wir erschraken in solchen Situationen und schimpften schließlich. Lucy ließ sich nicht dazu bringen, nach den Autos zu schauen. Was die Situation änderte, war, dass mir bei einem gemeinsamen Spaziergang klar wurde, dass die Art und Weise, wie ich die Straße überquerte, für Lucy genauso aussah, wie das, was sie tat. Dass wir als Erwachsene eine Verkehrssituation schnell überblicken können, war für sie nicht zu erkennen. Für sie sah es so aus, als gingen wir ohne zu gucken über die Straße. Also änderten mein Mann und ich mit Lucy gemeinsam unser Verhalten. Wir blieben aktiv und deutlich stehen, und ich zeigte ihr, wie ich nach rechts und nach links schaue, bevor ich über die Straße gehe. Unser Vorbild machte den Unterschied. Wir zeigten es ihr, und sie machte es dann richtig nach. So lernte sie das Verhalten, was wir uns von ihr wünschten.

3. SCHLECHTES VERHALTEN NACHMACHEN

Unser jüngster Sohn Jakob, der einige Jahre später als zweiter Nachzügler nachkam, hatte sich angewöhnt, Grimassen zu schneiden. Es waren nicht unbedingt provokative Gesichter, wie Zunge rausstrecken, aber es waren unangenehme Grimassen, die so mancher Fremde grundlos zu sehen bekam und die Jakob auch oft in unserer Familie zeigte – manchmal einfach so, manchmal auch als Reaktion auf eine Frage oder Anforderung. Ignorieren, schimpfen, erklären und wettern half nicht. Aus einem spontanen Impuls heraus zog ich ihm als Reaktion auf sein Gesichterziehen auch mal ein Gesicht. Ich rollte die Augen, verzerrte den Mund und versuchte, auch mal grimmig zu sein. Ich war etwas geschockt, als Jakob anfing zu weinen. Es war ihm offenbar sehr unangenehm, selbst eine Grimasse abzubekommen. Ich bin nicht sicher, ob ich danach noch etwas erklärte oder sagte, um seinen Frust pädagogisch zu lenken. Aber seither ist das Grimassenschneiden kein Thema mehr.

Ich ziehe nicht den Schluss daraus, dass es schlau ist, mit dem Kind immer zu machen, was es selbst mit anderen gemacht hat. Aber ich ziehe es als Möglichkeit in Betracht. Im Nachhinein war es so besser, als weitere Wochen nur darum zu kämpfen und nicht weiterzukommen. Immer mal muss man sich klarmachen, dass es weder für die Kinder noch für die Eltern angenehm ist, in einem ungelösten Erziehungs-Kampf zu stecken. Für beide Partien ist es gut, wenn wir Eltern nach einer weiteren und schließlich funktionierenden Lösung suchen, die nicht ständig auf Kosten einer guten Beziehung geht.

4. EIGENVERANTWORTLICHKEIT STÄRKEN

Als unsere beiden Großen Grundschüler waren, hatten wir nach dem Gottesdienst immer wieder den gleichen Reibungspunkt: Jeden Sonntag hingen sie meinem Mann und mir am Ärmel und fragten, ob sie Geld für eine Cola bekommen. Ohne System haben wir manchmal Ja gesagt, manchmal Nein, manchmal mussten sie es selbst bezahlen. Immer wieder wurden dabei Unterhaltungen unterbrochen, und immer wieder mussten wir die gleiche Entscheidung neu treffen. Uns als Eltern hat das angestrengt. Aber das war dann auch das Gute: Dass wir in einer Situation feststeckten und immer wieder genervt waren, musste uns auch erst mal auffallen. Wir mussten uns bewusst machen, wie aufreibend diese ständig wiederkehrende, unangenehme Situation war! Denn erst mit diesem Bewusstsein fingen wir als Eltern an nachzudenken, welche Hebel aus einer aufreibenden Situation herausführen könnten. Wir lösten es damals so, dass wir bei der anstehenden Taschengelderhöhung einen kleinen weiteren Betrag daraufgelegt haben. Damit hatten beide Kinder etwas Geld extra für den Bereich „Trinken nach dem Gottesdienst“ zur Verfügung, und es war die Entscheidung unserer Kinder, ob sie das Geld dafür ausgeben wollten oder nicht. Der Reibungspunkt war für alle überwunden. Klarheit und Eigenverantwortlichkeit haben für uns alle die Lage verbessert.

5. AUCH MAL AUFGEBEN

Ich habe mal in einem Artikel gelesen, dass die Kinder selbst machen sollen, was sie selbst machen können. Das klang gut, und ich wollte es anwenden. Jakob hatte schon gelernt, Schuhe mit Klettverschluss anziehen. Ich fand es daher eine gute Idee, das auch im Alltag von ihm zu verlangen. Aber Jakob nahm es gar nicht an. Es war jedes Mal ein Diskutieren und Schimpfen – schlichtweg nervenzehrend. Auch ein Belohnungssystem zog nicht. Nach einigen Wochen fand ich den Kampf einfach unrentabel. Ich verschwendete meine Energie für null Ergebnis. Diesen Frust wollte ich mir nicht länger aufladen. Ich beschloss, diesen guten Erziehungsrat in diesem Fall nicht weiter umzusetzen und meine Kraft lieber für andere Situationen einzusetzen. Also zog ich unserem Jakob die Schuhe wieder an. Jetzt hatte ich emotional wieder mehr Raum, andere Dinge anzugehen, die vielleicht mehr Erfolg versprachen. Wenige Wochen später war Saisonwechsel. Mit einem Paar neuer Schuhe, die Jakob begeisterten, lief das Schuheanziehen auf einmal von ganz allein. Die Zeit hatte Jakob dann doch noch dazu gebracht, seine Schuhe selbst anzuziehen.

LOS GEHT’S!

Es gibt natürlich Themen, da sind wir als Eltern jahrelang gefordert, dran zu bleiben, und es wird immer ein Auf und Ab geben. Es wird nicht den einen Trick geben, mit dem wir unseren Kindern zum Beispiel Höflichkeit beibringen. Aber gerade, wenn bestimmte Situationen immer wieder auftauchen und uns Kraft und vielleicht sogar eine gute Beziehung zum Kind kosten, lohnt es sich, einen extra Gedanken zu investieren.

Wir sollten möglichst nicht so weit kommen, über unsere Kinder die Augen zu rollen und zu ihnen zu sagen „Wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst …!“ Damit vermitteln wir unseren Kindern, wie hoffnungslos die ganze Erziehung ist. Das tut uns und dem Kind weh. Die Kinder lassen sich davon auch wenig beeindrucken und haben kaum Mitleid mit uns Eltern, auch wenn wir in einer Sackgasse stecken. Zudem kommen die Kinder nach einem solchen Satz auch in den seltensten Fällen auf die Idee, ihr unerwünschtes Verhalten zu ändern, um uns Eltern zu entlasten. Also: Wir sind die Eltern, und wir sind am Zug!

Debora Güting ist Referentin und Teil des Patoralteams der Kirche des Nazareners in Seligenstadt, verheiratet mit Johannes und hat vier Kinder.

UND BEI EUCH?

Habt ihr ähnliche Erfahrungen im Erziehungsalltag gemacht? Was hat euch geholfen, wenn ein Verhalten keine Wirkung gezeigt hat? Und welche Tipps von Debora Güting findet ihr hilfreich? Schreibt uns an redaktion@family.de, Stichwort „Versuch etwas anderes“.

Achtsam durch den Alltag

Achtsamkeit ist ziemlich im Trend. Doch was genau ist damit gemeint? Und welche Chance beinhaltet sie für Familien? Von Melanie Schüer

Wer achtsam ist, konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt. Er schweift gedanklich nicht ständig ab in das, was gestern war, oder beschäftigt sich mit Sorgen um das, was morgen kommt. Er legt seinen Fokus ganz auf den gegenwärtigen Moment. Dieser wird sehr aufmerksam und intensiv, mit allen Sinnen wahrgenommen: Was sehe ich? Wie riecht es gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Was höre ich? Wie fließt mein Atem?
Diese verschiedenen Fragen werden nicht schnell „abgearbeitet“. Jeder Aspekt wird ruhig und langsam erkundet. Abschweifende Gedanken werden bewusst wahrgenommen, ohne sie zu bewerten – und wieder losgelassen, um sich erneut im Hier und Jetzt zu verankern.
In unserem hektischen Alltag ist uns diese Haltung häufig fremd. Bei der Menge an Aufgaben und Themen fühlen wir uns meist zu Multitasking gezwungen: Während wir putzen, denken wir darüber nach, wie wir das Seminar morgen gestalten. Während wir duschen, spüren wir weniger den angenehmen Wasserstrahl, sondern grübeln über das Gespräch mit dem Chef nach … Doch dieses ständige Multitasking fördert innere Unruhe und Stress – deshalb bergen Achtsamkeits- Übungen eine große Chance. Sie lassen sich einfach in den Alltag integrieren: Beim Zähneputzen bewusst den Kopf ausschalten und sich nur auf die Bewegungen der Zahnbürste konzentrieren. Beim Spazierengehen spüren, wie die Füße bei jedem einzelnen Schritt den Boden berühren.

ACHTSAMKEIT HILFT BEI WEHEN

Auch für Eltern ist Achtsamkeit ein wertvoller Ansatz – schon in der Schwangerschaft. Die Hebamme Nancy Bardacke hat mit ihrer Methode „Mindful Birthing“ das Konzept der Achtsamkeit auf Schwangerschaft und Geburt übertragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, loszulassen und sich auf das, was geschieht, einzulassen – und daraus das Beste zu machen.
So dauert eine Wehe in der Regel 60 bis 90 Sekunden – das sind etwa sieben bis zehn Atemzüge. Wenn eine Wehe beginnt, kann die Frau sich bewusst machen: „Ich atme jetzt zehnmal ganz tief ein und aus, dann ist diese Wehe schon wieder geschafft“ als Gegenentwurf zu Gedanken wie: „Ich ertrage das nicht mehr!“ Eine gute Unterstützung ist es, Formulierungen wie „Loslassen“ oder „Zehn Atemzüge, dann ist es geschafft!“ auf Karteikarten zu schreiben und zur Geburt mitzunehmen.
Achtsamkeit bedeutet auch, nicht zu werten, und das, was ist, anzunehmen. Wenn uns etwas weh tut, neigen wir dazu, uns zu verspannen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Dabei geht es viel besser, wenn wir tief in den Schmerz hineinatmen und ihn annehmen – als etwas, das jetzt eben sein muss, das aber vorübergeht.

DAS FAMILIENLEBEN ACHTSAM GESTALTEN

Der Ansatz von Nancy Bardacke bezieht auch die Zeit nach der Geburt mit ein, zum Beispiel wenn das Baby weint. Eltern können sich bewusst werden, welche Gefühle das Schreien in ihnen auslöst: Traurigkeit? Wut? Hilflosigkeit? Es gilt, diese Gefühle zuzulassen, ohne sie zu bewerten – sie einfach anzunehmen, zu fühlen und dann loszulassen und sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Tief in den Bauch einatmen, als würde man ganz viel Frieden und Ruhe einatmen und lange wieder ausatmen, als würde man allen Stress und alle Anspannung hinausatmen. Bauchatmung reduziert die eigene Körperspannung. Das spürt auch das Baby und hilft ihm, sich sicherer zu fühlen.
Auch im Umgang mit älteren Kindern ist Achtsamkeit eine wertvolle Haltung. Sie beinhaltet, unsere Kinder so wertzuschätzen und anzunehmen, wie sie sind – und auch mit den eigenen Fehlern barmherzig umzugehen. Die Achtsamkeitslehrer Myla und Jon Kabat-Zinn erklären: „Wir sehen dies als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst –, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen.“
Myla Kabat-Zinn versteht unter achtsamer Erziehung, „zu versuchen, die Dinge aus den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern.“ Das ist ein guter Rat – bewusst die Perspektive des Kindes einzunehmen, zu überlegen und zu erfragen: Wie erlebt er oder sie diese Situation?

AUFMERKSAM DURCH DEN TAG

Ganz konkret umfasst ein achtsamer Familienalltag auch das Einrichten von regelmäßigen Zeiten, in denen die Eltern sich ganz dem Kind zuwenden, ohne nebenher zu putzen, zu lesen oder aufs Handy zu schauen. Dazu gehört aufmerksames Zuhören und eine Form der Anerkennung, die eher ermutigt als lobt. Das bedeutet, dass man sein Kind nicht mit einem schnell dahergesagten Lob wie „Gut gemacht!“ abspeist, sondern dass man wirklich hinschaut und konkret sagt, warum man sich über etwas freut.
Eng verbunden mit Achtsamkeit ist eine dankbare Haltung: Die Überzeugung, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern dass der Alltag voller kleiner Wunder und Geschenke ist. Im Familienleben kann man Kindern wunderbar Achtsamkeit und Dankbarkeit vorleben, indem man selbst aufmerksam durch den Tag geht.
Auch die Beziehung zum Partner ist ein Bereich, der Achtsamkeit verdient: Wirklich hinhören, was meinen Partner beschäftigt und nicht gleich urteilen, sondern meinem Partner auch in Konflikten mit einem offenen Herzen begegnen. Den anderen nicht als selbstverständlich betrachten, neugierig aufeinander bleiben und regelmäßige Paarzeiten einplanen.

ALLES IM FLUSS

Achtsamkeit in der Familie kann auch helfen, schwere Zeiten besser zu bewältigen. Wer achtsam ist, fragt sich nicht ständig, wie das wohl weitergeht und wie lange man das noch aushalten kann. Stattdessen übt man, im Hier und Jetzt zu bleiben – mit dem Wissen, dass alles eine Phase ist, die vorbeigeht. Diese Herangehensweise ist auch in der Bibel zu finden:
„Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist:
Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“ (Prediger 3,1-8)
Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat, hilft, sich auf das, was gerade ist, einzulassen – ohne innerlich noch am Gestern zu hängen oder erwartungs- oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Heute ist der einzige Tag, den wir gestalten können. Gestern ist unwiderruflich vorbei – und wer weiß schon, was das Morgen bringt? Jesus selbst lebt uns diese Fokussierung auf die Gegenwart vor, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“ (Matthäus 6, 34).
John Kabat-Zinn formuliert es so: „Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen.“

Melanie SchüerMelanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und bietet Onlineberatung für Eltern von Babys und Kleinkindern sowie für Schwangere an: www.neuewege.me

Die „Mein-Kind-bedeutet-mir-alles“-Falle

Kinder brauchen Aufmerksamkeit. Wenn sie allerdings zu viel davon bekommen, geraten sie in eine Rolle, die weder ihnen noch der Familie gut tut. Von Clara Evers-Zimmer

Maxi ist fast acht Jahre alt, als ich ihn in der Tagesklinik kennenlerne. Ein hübscher Junge mit braunem Igelhaar und großen Augen. Er ist hier, weil er in der Schule nicht klarkam. Er stand regelmäßig im Unterricht auf, um zu tun, wonach ihm gerade zumute war. Er forderte fast die gesamte Aufmerksamkeit der Lehrerin für sich ein. In der zweiten Klasse sagte die Lehrerin, sie könne ihn nicht länger unterrichten. Nun ist er in der Tagesklinik der Kinderpsychiatrie. Ich mag Maxi gern. Wir machen Unterricht in der Natur, pflücken Blumen für seine Mutter, und im Zusammensein wird mir klar, unter welch schwerer Last Maxi leidet. Er ist das Familienoberhaupt einer siebenköpfigen Patchworkfamilie, der erstgeborene Sohn nach vier Schwestern. Während wir uns auf den Weg vom Unterrichtsplatz im Grünen zurück zur Tagesklinik machen, sehe ich hinter den Bäumen eine hellgekleidete Frau umherhuschen. Maxis Mutter. Sie beobachtet uns. Sie ist wie Maxis Schatten. Immer denkt sie über ihn nach, immer ist sie in seiner Nähe. Immer unter Druck. Die Familie sitzt fest in der „Kind-auf-dem- Thron“-Falle. Maxi ist etwas Besonderes, so wie Josef es für seine Eltern war – seine Geschichte kann man in der Bibel im 1. Buch Mose, Kapitel 37 nachlesen: Josef war der Liebling seines Vaters, bekam von ihm ein besonderes Gewand und gab damit an, dass er was Besseres sei als seine Brüder. Auch Maxi macht jedem klar, dass er auf dem Thron sitzt. Weil er von seinen Eltern gelernt hat, dass er etwas ganz Besonderes ist, versteht er in der Schule die Welt nicht mehr. Wie sollte er sitzen und lernen können wie die anderen Kinder? Und Rechnen fällt ihm ganz schwer. Na, das macht er dann erst mal gar nicht mehr. Seine Seele kann es nicht ertragen, dass er sich anstrengen muss, dass er nicht nur großartig ist, sondern ein Mensch mit Fehlern und Schwächen.

EINE ZU GROSSE ROLLE
Ich möchte damit nicht sagen, es sei falsch, wenn unser Kind uns sehr viel bedeutet. Kinder sind uns von Gott gegeben. Die Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, lässt sich durch Kinder wunderbar erfahren. In den ersten Jahren und in besonderen Notzeiten ist es richtig, wenn unser Kind uns alles bedeutet. Schwierig wird es aber, wenn ein Kind eine zu große Rolle in der Familie spielt. Wenn es als so besonders wahrgenommen wird, dass es immer eine Sonderbehandlung bekommt. Die Zahl dieser „Josefskinder“ hat zugenommen: „Mein Kind ist etwas Besonderes.“ „Ohne mein Kind wäre es in seiner Schulklasse viel langweiliger“. Der Anteil der Eltern, die dies in Untersuchungen so oder ähnlich angeben, ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Darin spiegeln sich die narzisstischen Tendenzen unserer Zeit. Über „Josefskinder“ wird sehr viel gesprochen. Bei jedem Hinbringen oder Abholen dringen die Wortfetzen der Eltern unvermeidlich an mein Ohr: vorzeitige Einschulung, mehr geistiges Futter, hervorragend, IQ, Testung, Beratung, mehr Förderung und auf jeden Fall Sport und Englisch! Als mein Ältester 2006 in den Kindergarten kam, gab es in seiner Gruppe offiziell weder ein hochbegabtes noch ein hochsensibles, hyperaktives oder autistisches Kind. Neun Jahre später weiß ich in der Kindergartengruppe unserer Zwillinge von mindestens fünf Hochbegabten und zehn Hochsensiblen. Diese Zahlen liegen weit über denen, die statistisch zu erwarten wären (Hochbegabung: ein Kind von 50 bis 60 Kindern, Hochsensibilität: ein bis zwei Kinder pro Klasse). Schwedischen Wissenschaftlern ist der Nachweis gelungen, dass zu viele Kinder eine Diagnose haben, die nicht auf sie zutrifft. Ich erlebe Eltern, die von Arzt zu Arzt laufen, weil sie eine Diagnose für den Kindergarten oder die Schule brauchen. Könnte es sein, dass es sich in manchen Fällen um Josefskinder handelt?

GEWÜNSCHTESTE WUNSCHKINDER
Kinder zu haben, ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Eltern haben die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, in der Regel selbst getroffen. Sie haben die Anzahl der Kinder und den Zeitpunkt für die Geburt geplant. Kinder haben ihren Preis. Wer diesen Preis bezahlt, möchte dann auch alles richtig machen. In unserer Gesellschaft gibt es wenig Anerkennung für diejenigen, die Kinder großziehen. Da Anerkennung und Aufmerksamkeit die gefragteste Währung in einer von Medien dominierten Welt sind, müssen die Kinder den Aufwand rechtfertigen, den sie verursachen. Sie müssen gelingen und etwas Besonderes sein. Deshalb bedeuten sie ihren Eltern alles und werden zu Josefskindern gemacht. Neugeborene und Kleinkinder brauchen Eltern, die rund um die Uhr verfügbar sind. Aber wer braucht es, dass Kindergarten- und Schulkinder der Lebensinhalt ihrer Eltern sind, dass es keine anderen Gesprächsthemen mehr gibt, dass die Ehe zur Versorgergemeinschaft für die gewünschtesten Wunschkinder wird, dass ein Kindergeburtstag zu vollständiger Erschöpfung führt, dass Kinder entscheiden, mit wem die Familie sich trifft und dass die Gedanken fast pausenlos um die Bedürfnisse und Förderangebote für diese Kinder kreisen?

DEN MANGEL WIEDERGUTMACHEN
Die „Mein-Kind-bedeutet-mir alles“-Falle ist typisch für eine Welt, in der Bedürfnisbefriedigung per „Wisch und Klick“ im Sekundentakt zur Gewohnheit wird. Selbstoptimierung erscheint nicht nur machbar, sondern notwendig. Als Eltern sind wir davor ein Stück weit geschützt. Wir können nicht ständig um unsere Bedürfnisse kreisen. Aber dann wird eben nicht das Selbst optimiert, sondern das Kind. Ich geriet mit meinem ältesten Kind in den ersten Jahren immer wieder in die „Mein-Kind-bedeutet-mir-alles“- Falle. Daher weiß ich, dass jede und jeder, der in dieser Falle steckt, seine eigene Geschichte hat. Meine Geschichte, die mir erst nach und nach bewusst wurde, ging so: Als Kind hockte ich morgens um 5:50 Uhr vor einem noch geschlossenen Kindergarten und zehn Stunden später hing ich mit schmerzenden Armen am Zaun, um endlich einen Blick auf die heraneilende Mama zu ergattern. Als ich selbst Mutter wurde, fehlte mir völlig das Maß. So versuchte ich unbewusst durch mein übergroßes Engagement den erlittenen Mangel an Zeit und Aufmerksamkeit stellvertretend an meinem Kind wiedergutzumachen. Dies führte in die völlige Erschöpfung. Gott arbeitete mit mir an diesem Thema und half mir die Falle, in der ich saß, zu erkennen.

DAS LOCH IN DER SEELE STOPFEN
Für Kinder, denen in ihrer Familie eine Position eingeräumt worden ist, die ihnen nicht zusteht, ist dies ein großes Entwicklungsrisiko. Manche spüren, dass die Eltern ein schlechtes Gewissen haben. Dieses schlechte Gewissen bezieht sich häufig auf Ereignisse aus der Schwangerschaft, auf die Geburt oder die Säuglingszeit. Den meisten Eltern ist es nicht wirklich bewusst, woher ihre Motivation kommt, diesem Kind alles unterzuordnen. Besonders schmerzlich ist es für Eltern, die vor die Aufgabe gestellt werden, ein Kind großzuziehen, wenn nicht alles nach Plan lief: ungeplante Kinder, frühgeborene Kinder, Kinder, die nach langer ungewollter Kinderlosigkeit oder vielen Fehlgeburten geboren werden, Kinder mit Behinderungen oder Krankheiten, Mehrlinge, Kinder in materiell schwierigen Verhältnissen, Scheidungskinder … Hier droht die Falle besonders häufig zuzuschnappen. Die Eltern versuchen alles, um die Not oder den Mangel zu kompensieren. Gefühle von Schuld, Scham oder Angst regieren im Hintergrund und führen dazu, dass ein Kind auf den Familienthron gerät. Häufig ist den Familien nicht klar, dass sie ein Josefskind heranziehen. Dieses Unbewusste raubt den Familienfrieden, bis es ans Licht kommt. Kinder bieten für viele Menschen das, wonach unser menschliches Wesen sich ursprünglich sehnt: Liebe und Sinn. Kinder sind mit beidem völlig überfordert. Sie können nicht das Loch in unserer Seele stopfen. Kinder sind auch keine Sinnstifter.

DER WEG AUS DER FALLE
Was in der Säuglings- und teilweise in der Kleinkindzeit gut für die Entwicklung ist, weil es die Bindung und das Vertrauen fördert, wird später zu einem Teufelskreis. Josefskinder werden immer schwieriger zufriedenzustellen. Ihr Belohnungszentrum im Gehirn ist durch die vielen Erfahrungen von Sonderbehandlung größer ausgeprägt. Häufig spielen sie eine so herausragende Rolle in der Familie, dass ihre Allmachtsphantasien auch lange nach dem Ende dieser Entwicklungsphase (mit etwa sechs Jahren) bestehen bleiben. Josefskinder fordern ihren Eltern immer mehr ab und drängen in die Führungsrolle. Aber hinter dem kleinen Chef der Familie versteckt sich ein Kind, das nach Führung sucht und nach der Erfahrung menschlicher Begrenztheit. Genau diese Erfahrung verweigern die Eltern, um sich selbst nicht den damit verbundenen Gefühlen von Ohnmacht, Trauer, Wut und eigener Unzulänglichkeit stellen zu müssen. Die zugrundeliegenden Mechanismen können betroffene Eltern aufgrund der hohen Anforderungen, die sie an sich und ihr Kind stellen, oft nicht reflektieren. Gerade hier liegt aber der Weg aus der Falle: sich Zeit nehmen und reflektieren. Gute Freunde oder Seelsorger können dabei helfen. Wir brauchen Vertrauen in Gott und Demut, um Kinder als das zu sehen, was sie sind: Geschenke Gottes, die für eine Zeit lang in unsere Obhut gegeben sind, mit einem eigenen Weg und einer eigenen Geschichte.

 

Clara Evers-Zimmer lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie studiert im Master Psychologie, ist ehrenamtliche Seelsorgerin und arbeitet als Fachautorin für Frauen,- Kinder- und Familienthemen: www.psycho-logisch.hamburg