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Gehörlose Mutter: So meistert Influencerin Christine ihren Alltag

Instagram-Influencerin und Mutter Christine Eggert ist gehörlos zur Welt gekommen. Ihr Alltag bewegt sich zwischen Ablehnung und Mutterstolz.

„Gebärdensprache ist die schönste Sprache“, schreibt die 30-jährige Christine Eggert auf ihrem Instagram-Profil. Und: „Ich bin stolz, taub zu sein. So, wie ich lebe, bin ich stolz.“ Die zweifache Mama aus dem kleinen Ort Hettstadt bei Würzburg hat auf Instagram fast 40.000 Follower. Auf ihrem Account „_chocosecret_“ postet sie täglich über Lifestyle-Themen wie Mode, Beauty oder Reisen – und über ihre Gehörlosigkeit.

Das war nicht immer so: Als sie 2014 ihren Account startete, verlor sie in ihren Posts kein Wort darüber, dass sie taub ist. Erst knapp vier Jahre später wagte sie das „Outing“: „Ich habe lange überlegt“, signalisiert Christine ihrer Freundin, die sie heute als „Übersetzerin“ eingeladen hat, auf Gebärdensprache. Grund zu zögern hatte sie: „In meinem Alltag habe ich die Erfahrung gemacht, dass sich Hörende zurückziehen, wenn sie mit uns Gehörlosen konfrontiert werden.“ Versucht sie Hörende, die sie nicht kennen, etwas zu fragen, komme es vor, dass sie einfach stehen gelassen wird. „Viele reagieren schockiert und gehen weg“, berichtet Christine. „Das ist typischer Alltag für mich: Viele geben sich überhaupt keine Mühe, mit mir zu kommunizieren.“

Vater lernte nie Gebärdensprache

Auch in ihrer Familie habe sie sich oft als Außenseiterin gefühlt, erzählt Christine. Ihre Eltern haben nicht gewusst, wie sie mit der Gehörlosigkeit ihrer Kinder umgehen sollen. Bis heute könne ihr Vater keine Gebärdensprache, ihre Mutter und ihre Schwester nur rudimentär. Auch ihr kleiner Bruder ist taub zur Welt gekommen, spreche aber mehr als sie, so Christine.

Ihre Befürchtung, auch ihre Instagram-Follower könnten sie wegen ihrer Gehörlosigkeit ablehnen, hat sich nicht bestätigt: „Einige haben sich sogar dafür interessiert, die Gebärdensprache zu lernen“, sagt Christine. Wir sitzen im hell und clean eingerichteten Wohn- und Esszimmer der Eggerts. Christines zweijähriger Sohn Levian schläft, Töchterchen Emilie ist in der Nachmittagsbetreuung ihrer Grundschule. Bevor sie Mama wurde, hat Christine eine Ausbildung zur Köchin gemacht. „Ich war sehr unsicher mit meiner Berufswahl und habe nur Party im Kopf gehabt, keine Ziele“, erinnert sie sich.

Während ihrer Ausbildung lernt sie ihren Mann Ringo kennen, der auch taub ist. Sie zieht nach Nürnberg, wo Ringo eine Arbeitsstelle gefunden hat – und drei Monate später ist sie schwanger. „Das war nicht geplant“, erzählt sie. „Es war eine harte Zeit, alles ging so schnell und wir mussten uns entscheiden, ob wir das Kind behalten wollen. Ich war erst 21 Jahre alt.“

Implantat oder nicht?

Ihr Gefühl habe ihr gesagt, dass ihr Kind hören können wird, sagt Christine. Als Tochter Emilie zur Welt kommt, ist sich der Arzt nicht sicher. Nach sechs Monaten wird bei Emilie unter Narkose ein Hörtest gemacht. Das Ergebnis: Emilie ist komplett gehörlos. „Ich war schockiert und konnte das erst nicht akzeptieren“, sagt Christine. „Ich wollte Emilie gleich Cochlea-Implantate einsetzen lassen, Ringo war erst skeptisch.“ Solche Implantate ermöglichen tauben Menschen das Hören und damit auch den Spracherwerb. Aber sollte ein Implantat mal einen Defekt haben, müsste Emilie wieder operiert werden.

Christine hat selbst ein Implantat auf einem Ohr. Die Erfahrung, die sie bei der Operation als Siebenjährige gemacht hat, hielt sie davon ab, ein zweites Implantat einsetzen zu lassen: „Es war ein Schock für mich, nach der Operation auf einmal mit einem Verband am Kopf aufzuwachen.“ Vor der Operation habe ihr niemand verständlich erklärt, was mit ihr geschehen würde.

Später sei sie natürlich überglücklich gewesen, als sie schließlich hören konnte, sagt Christine. Doch ihre Sprachentwicklung konnte sie nicht mehr aufholen: „Ich war sehr faul mit dem Sprechen“, sagt Christine. „Es war mir nicht so wichtig, besonders als 2002 die Gebärdensprache anerkannt wurde.“ Ohne ihr Implantat, sagt Christine, könnte sie nicht leben. Auch wenn sie es in der Tasche lasse, wenn sie allein zu Hause oder nur mit Gehörlosen zusammen ist.

Kindergarten für Hörgeschädigte ist keine Lösung

Durch Christines Wohnung schießen Lichtblitze: Ihr „Alarm“, der signalisiert, dass ihr Sohn aufgewacht ist. Wenige Minuten später machen sich alle auf den zwanzigminütigen Fußweg zu Emilies Schule. Mit ihrer pinkfarbenen Schultasche kommt Emilie durchs Schultor gerannt. Ein Erzieher ruft ihr etwas hinterher. Emilie dreht sich um: „In Ordnung!“ Sie versteht und spricht ausgezeichnet. Einziger Hinweis darauf, dass sie taub ist, sind die beiden Implantate, die man unter ihren langen, braunen Haaren erst auf den zweiten Blick sieht.

„Mit der Sprache hat sich Emilie als Kleinkind schwergetan. Sie hat nur mit Gebärdensprache kommuniziert.“ Als Emilie zwei Jahre alt ist, findet Christine Arbeit im Frühstücksservice eines Hotels. Die kleine Familie ist inzwischen aus Nürnberg weg- und zurück in die Nähe beider Eltern gezogen. „Ich habe Emilie im Kindergarten für Hörgeschädigte angemeldet, aber das hat nicht gut funktioniert“, erzählt Christine. „Zu Hause hat sie viel gebärdet, aber im Kindergarten und nach außen hin war sie sehr verschlossen.“

Glücklich in der Regelschule

Ein bilingualer Kindergarten in Würzburg war die Lösung: „Emilie konnte mit und ohne Gebärdensprache sprechen und war glücklich“, erinnert sich Christine. Heute geht Emilie in die Regelschule am Ort und hat dort einen Dolmetscher. „Sie spricht sehr gut und will nicht in die Schule für Gehörlose“, sagt Christine. „22 Kinder ihrer Schulklasse lernen durch sie sogar Gebärdensprache – ich bin sehr stolz auf sie.“

Nach der Nachmittagsbetreuung gehen Christine und ihre Kids regelmäßig zum Bäcker. So auch heute – Emilie führt an und hat ihren kleinen Bruder auf seinem Kinderfahrrad stets im Blick. Beim Bäcker bestellt sie für alle und vergewissert sich bei ihrer Mama auf Gebärdensprache, dass auch nichts fehlt.

Levian wächst zweisprachig auf

Wenig später geht’s zum Spielplatz. Auf dem Weg sieht Emilie immer wieder Freunde aus der Nachbarschaft, grüßt und winkt. „Emilie möchte nicht als Gehörlose wahrgenommen werden, sondern als Hörende“, sagt Christine. „In der Öffentlichkeit gebärdet sie nicht so gern und sie will ihre Haare lieber offen tragen, um ihre Implantate zu verstecken.“ Christine ist froh, sich früh für die Implantate für Emilie entschieden zu haben: „Freunde haben mich gewarnt, dass Emilie sich eines Tages ärgern könnte, aber so ist es nicht: Sie liebt ihre CIs und trägt sie von morgens bis abends.“

Genau wie Emilie hat auch Levian im Alter von einem Jahr zwei Cochlea-Implantate bekommen, denn auch er ist von Geburt an gehörlos. „Levian war ein Wunschkind“, erzählt Christine. „Wir hätten gern noch mehr Kinder gehabt, aber da nun auch Levian taub zur Welt gekommen ist und die CI-Operationen so anstrengend sind, haben wir uns gegen weitere Kinder entschieden.“

Wie Emilie wird Levian „zweisprachig“ aufwachsen. Vormittags kommt die Frühförderung ins Haus und bringt ihm bei, mit dem Mund zu sprechen. Für den Rest des Tages kümmern sich seine Eltern darum, dass er auch mit Mimik und Händen sprechen kann. „Bis jetzt hat er keine Lust zu sprechen, und er gebärdet noch wenig“, sagt Christine. „Er hört wie ein ganz normales Kind, aber er muss sich erst langsam an Töne gewöhnen und Geräusche kennenlernen.“

„Taubstumm“ ist eine Beleidigung

Dank CIs und der frühen Förderung werden Christines Kids nicht mit Situationen zu kämpfen haben, die für Christine zum Alltag gehören: Emilie und Levian werden beispielsweise problemlos ohne Dolmetscher beim Notarzt erklären können, was ihnen fehlt. „In Deutschland gibt es für Gehörlose noch sehr viele Barrieren“, sagt Christine. „Wir leben in einer modernen Zeit, und doch ist die Zeit in vieler Hinsicht zurückgeblieben.“ Rückständig sei etwa der Begriff ‚taubstumm‘: „Eine Beleidigung“, sagt Christine. „Schließlich sprechen wir sehr wohl – nur eben mit Gebärdensprache.“ Diese kennt übrigens auch Dialekte, in jedem Land gibt es andere Zeichen.

„Viele Unternehmen möchten keine gehörlosen Mitarbeiter einstellen, die nur mit Gebärdensprache sprechen können“, sagt Christine. „Dass sich Gehörlose viel besser auf ihre Arbeit konzentrieren, gerade weil sie nicht hören und daher weniger abgelenkt sind, sehen Firmen meist nicht.“ Als Christines Mann in der Corona-Krise seinen Job als Fensterbauer verlor und drei Monate lang arbeitslos war, wurde Christines Einkommen als Instagram-Influencerin dringend gebraucht. „Es war eine Unterstützung, aber allein davon können wir nicht leben“, sagt Christine. Sie könnte erfolgreicher sein, wenn sie die Gesichter ihrer Kinder auf den Fotos zeigen würde. Das komme für sie aber nicht in Frage: „Auf Social Media gibt es Menschen, die Hass verbreiten“, erklärt sie. „Meine Kinder zu zeigen, wäre mir zu unsicher.“ Inzwischen hat ihr Mann eine neue Arbeitsstelle gefunden, und der Familien-Rhythmus hat sich wieder eingependelt. „Familie ist das wahre Glück des Lebens“, schreibt Christine in einem ihrer Posts. Dieses Glück hat sie gefunden.

Nadine Wilmanns ist Lifestyle-Journalistin, -Fotografin und Modedesignerin. Auf ihrem Blog nadinewilmanns.com schreibt sie über Kreativität und Fotografie. Sie lebt in Metzingen und in London.

Im Abseits

„Mein Sohn (12) tut sich mit sozialen Kontakten sehr schwer. Ich habe das Gefühl, dass er zu Hause und in der Schule ein Außenseiter ist. Wie kann ich ihn unterstützen?“

Das Leben war gerade noch so schön und klar: In der Grundschule hat keiner Kommentare zu der Schleich-Tier-Sammlung gemacht und nun … Kaum ist man zwölf Jahre alt, hat man das Gefühl, alles im Zimmer ist uncool und kindisch. Dieses Beispiel lässt für Eltern erahnen, wie sich die Lebenswelt der Teens verändert. Auch in Beziehungen erleben sie gerade in dieser Zeit eine große Spannung und Unsicherheit. Eine Reaktion auf diese unguten Gefühle ist für einige der Rückzug. In sich selbst oder in eine sichere „Blase“ aus Musik oder digitalen Welten. Eine andere Reaktion kann Angriff sein: im Verhalten oder durch Aussagen andere abzuwerten oder zu ignorieren. Beide Muster sind nicht hilfreich, um aus der Außenseiterrolle herauszukommen. Wer sich mit sozialen Kontakten schwer tut, hat es oft auch schwer mit sich selbst, und das erfordert sehr viel Kraft. Zuallererst ist für Eltern ein Gespräch nötig, in dem der Teenager zu seiner Lebenssituation gehört werden kann – vielleicht ist er ja ganz entspannt mit sich?

SICHERHEIT UND WANDEL
In dieser sensiblen Phase helfen sichere Partner und neue Erlebnisse, die das Bewusstsein schärfen. Damit können ganz körperliche Erfahrungen, wie eine Wanderung mit dem Vater oder ein Segel-Kurs mit einem Freund der Familie, gemeint sein. Natürlich sind diese Aktionen zunächst keine beliebte Ansage und stoßen auf Unwillen, aber eine tiefe Erfahrung mit seinen Grenzen oder ein Gegenüber, das sich einem intensiv zuwendet, kann Mut geben, zu sich selbst zu stehen.

VERBINDLICHKEIT
Im Alter von zwölf Jahren darf der Teen mit den Eltern zusammen überlegen, welche verbindliche Gruppe er besuchen will. Besprochen wird dabei nicht ob, sondern welche passend ist: Pfadfinder, Jugendrotkreuz oder Fußball? Ebenso kann es heilsam sein, Teil einer christlichen Jugendgruppe zu werden. In Gemeinschaft zu sein ist zunächst schmerzhaft, weil es das Gefühl verstärkt, nicht „passend zu sein“ – lösen kann sich diese innere Verkrampfung aber nicht durch Flucht, sondern durch Konfrontation. Dabei fällt den Eltern die schwere Aufgabe zu, die wöchentliche Vermeidungstaktik zu ignorieren und die Verbindlichkeit einzuüben. Ein Gespräch mit Mitarbeitenden und Lehrern ist unbedingt nötig. Auch sie können ihre Sicht schildern und durch Berichte und Fragen der Eltern verstehen lernen, was die Außenseiterrolle festigt.

Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

Einfach da

Ein Gastbeitrag von Annette Fabinski

 

Da saß er.

Ganz links am Fenster. Neben ihm drei Stühle frei.

Sein schlanker Körper mit dem feinen Profil erinnerte an einen ägyptischen Prinzen.

In seinen Händen das Gesangbuch. Konzentriert blickte er mit leicht gesenktem Kopf hinein, seine Lippen bewegten sich zur Klaviermusik, die von einer alten Dame bedächtig gespielt wurde. Die Musik durchzog den Raum, sanft und warm. Durch das Milchglasfenster fielen Sonnenstrahlen gebrochen herein.

Und da saß er.

Er, der Schulschwänzer, er, der immer unterwegs war. Nie wusste seine Mutter, wo sie ihn finden konnte. Heimatlos – ja, das Wort passte auf ihn.

Vor unserer Tür stand er oft. Manchmal kam er einfach hereinspaziert, aß mit uns, spielte mit uns und blieb und blieb. Dann verschwand er und tauchte tagelang nicht auf.

An einem Wochenende schlief er bei uns.

Das Haus war von Lachen durchzogen, Fußgetrappel auf der Treppe. Es wurde gespielt, gemeinsam gegessen, geredet und irgendwann auch, später und später, erschöpft geschlafen. Dann kam der Sonntag. Unser Sonntag mit unserem Gang zum Gottesdienst.

Vorsichtig fragte ich ihn, ob er mitkommen wolle.

Er wollte.

Er tauchte ein in eine für ihn vollkommen fremde Welt. Noch nie zuvor hatte er einen Gottesdienst besucht. Noch nie zuvor hatten ihn Menschen auf eine solch freundlich zugewandte Art begrüßt. Wie im Traum lauschte er der Predigt, sang er zum ersten Mal ein Kirchenlied, betete er. Danach gab es Wasser, Saft und Kuchen. Alle standen fröhlich zusammen und er mitten unter ihnen. Er strahlte, aß ein zweites Stück Kuchen, redete, lachte, war einfach da, mitten unter ihnen.

Dann kam die Woche.

Es regnete.

Er schwänzte die Schule.

War unterwegs.

Blieb irgendwo.

Alltag.

Am nächsten Wochenende schlief er nicht bei uns.

War zu Hause, weit draußen auf dem Land.

Es war kalt und wir waren müde. Etwas zu spät setzten wir uns während des Eingangsliedes auf Plätze nahe der Tür.

Griffen das Gesangbuch.

Die Musik wärmte.

Langsam wurde ich wacher.

Mein Blick wanderte nach links.

Ich traute meinen Augen nicht.

Da saß er.

Neben ihm unsere drei freien Plätze.

Und war einfach da.