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Bedürfnisse von Eltern und Kindern ausbalancieren

Bei der „Bedürfnisorientierten Erziehung“ stehen die Kinder im Fokus. Doch auch die Bedürfnisse der Eltern zählen. Therapeutin Melanie Schüer gibt Tipps, wie Eltern und Kinder zufrieden bleiben.

Babys nah am Körper tragen, nach Bedarf stillen, Matratzenlager als Familienbetten … all das ist zurzeit bei jungen Eltern längst keine Ausnahme mehr, sondern gehört immer häufiger zur Normalität im Alltag mit Säuglingen und Kleinkindern. Seit einigen Jahren orientieren sich immer mehr Eltern am Ansatz der sogenannten „Bedürfnisorientieren Erziehung“. Diese Denkweise schenkt der Eltern-Kind-Beziehung besonders viel Beachtung. Körpernähe, Tragen, Einschlafbegleitung beziehungsweise gemeinsames Schlafen sind dabei wichtige Elemente. Die Bedürfnisorientierte Erziehung geht davon aus, dass Babys und Kleinkinder immer einen legitimen Grund für ihr Verhalten haben, denen bestimmte Bedürfnisse zugrunde liegt, und nie weinen oder quengeln, um ihre Eltern zu „ärgern“ oder „Grenzen auszutesten“.

Die Angst vor dem Verwöhnen

Tatsächlich ist ein Verständnis im Sinne von „Passt auf, der will nur schauen, wie weit er gehen kann!“ oder „Wenn ihr auf jedes Weinen reagiert, tanzt sie euch bald auf der Nase herum!“ und damit eine Angst vor dem „Verwöhnen“ noch weit verbreitet. Jedoch geht das an der Realität vorbei.

Wichtig dabei ist aber, zu verstehen: Eltern, die kindliche Bedürfnisse erkennen und erfüllen, verwöhnen nicht. Sie nehmen ihre Kinder ernst und geben ihnen eine wichtige Erfahrung mit auf den Weg: Nämlich, dass sie ernst genommen und liebevoll umsorgt werden. Das ist eine wichtige Basis für die Entstehung von Urvertrauen und Beziehungsfähigkeit.

Natürlich kann man Kinder „verwöhnen“ oder „verweichlichen“, doch das bedeutet etwas ganz andres:

  • wenn Kindern ständig Aufgaben abgenommen werden, die sie schon selbst ausführen könnten
  • wenn Kindern der Eindruck vermittelt wird, dass nur ihre Bedürfnisse zählen und sich die ganze Welt um sie dreht
  • wenn Kindern nie Frust oder die Erfahrung der Folgen ihres Handelns zugemutet werden

Die 7 Kernpunkte der bedürfnisorientierten Erziehung

Konkret betont die bedürfnisorientierte Erziehung sieben wesentliche Elemente:

  • Birth Bonding: Direkt nach der Geburt sollte Augen- und Körperkontakt zwischen Mutter und Kind ermöglicht werden.
  • Stillen statt Flaschennahrung (Stillen nach Bedarf, ca. ein bis vier Jahre lang, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken)
  • Häufiges Tragen des Babys nah am Körper
  • Schlafen in der Nähe des Babys (z.B. Familienbett, Beistellbett)
  • Rasches Reagieren auf das Weinen des Babys
  • Verzicht auf Schlaftrainings, die „(allein) weinen lassen“ beinhalten
  • Balance zwischen den elterlichen und den kindlichen Bedürfnissen

Wünsche oder Bedürfnisse?

Die Balance zwischen kindlichen und elterlichen Bedürfnissen ist Teil der sieben Kernelemente der bedürfnisorientierten Erziehung. Und doch kann der starke Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes dazu führen, dass Eltern sich selbst aus den Augen verlieren. Insbesondere dann, wenn Ansprüche wie natürliche Ernährung, windelfreie Erziehung, Familienbett usw. hinzukommen. Eine weitere Schwierigkeit: Die Begründer der Bedürfnisorientierten Erziehung, das Ehepaar Sears, erwähnen zwar den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen, führen dies aber nicht weiter aus. So ist nicht klar, was das Problem ist: Steht hinter dem fünften Aufstehen nach einem liebevollem Einschlafritual mit Kuscheln und Vorlesen ein Bedürfnis nach Nähe, das wir auf keinen Fall verweigern dürfen? Muss ich das Bedürfnis meines Kleinkindes nach Selbstbestimmung erfüllen, wenn es sich weigert, seine Zähne zu putzen? Was zählt mehr, wenn die Mutter abstillen will, das Kind aber nicht?

All das sind nicht nur knifflige Fragen, sondern ganz schnell auch Auslöser für Streitigkeiten zwischen Elternteilen. Und das ist oft eng verbunden mit der großen Angst, etwas falsch zu machen und damit die Eltern-Kind-Bindung zu gefährden oder dem Kind anderweitig zu schaden. Wichtig ist dabei, dass das Bedürfnis, das sich hinter dem Verhalten verbirgt, oft einem größeren Thema entspricht, z.B. „Selbstbestimmung“ oder „Nähe“. Wenn das klar ist, können Eltern schauen: Wie können wir diesem Bedürfnis auf andere Weise gerecht werden, auch wenn wir in dieser Sache etwas durchsetzen müssen – wie: „Die Zähne müssen geputzt werden, damit dein Mund gesund bleibt. Aber du darfst selbst bestimmen, ob vor oder nach dem Lesen. Und wenn du willst, darfst du auch meine Zähne putzen.“

Risiko Eltern-Burn-out

Eigene Bedürfnisse zurückzustellen, auch deutlich mehr als in anderen Lebensbereichen, gehört zum Elternsein dazu. Wenn das Baby nachts Koliken hat, tagsüber wegen Trennungsängsten ständige Nähe sucht oder das Kind zehnmal am Tag erbricht – all das sind Erfahrungen, die Eltern nur bewältigen können, wenn sie ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellen.

Aber: Dass die eigenen Bedürfnisse kaum noch zählen, sollte nie zum Dauerzustand werden. Nach einigen Tagen, spätestens Wochen, in denen nur zählt, was das Kind braucht, spüren Eltern immer mehr Anzeichen für einen leeren emotionalen Akku. Gereiztheit, depressive Verstimmungen, Schlafprobleme, körperliche Schmerzen … Vieles kann uns zeigen: Achtung! Me-Time ist kein Luxus, sondern dringend nötig!

Me-Time ist kein Luxus

Dieser Satz kann Eltern kaum oft genug gesagt werden. Wir denken doch oft still und heimlich: „Solange die Kinder glücklich sind, geht’s mir auch gut. Das passt schon. Irgendwann sind sie ja groß.“ Das Problem ist nur: Kinder spüren deutlich, wie es ihren Eltern geht. Und wenn es den Eltern schlecht geht, dann leiden früher oder später auch die Kinder darunter.

„Euer Alltag ist ihre Kindheit“, sagte die Autorin Nicola Schmidt und das bedeutet eben auch: Die elterliche Erschöpfung, Überforderung, permanente Stressbelastung – all das ist Teil dessen, was die Kinder später als „meine Kindheit“ in Erinnerung behalten werden. Natürlich bedeutet das nicht, dass Kinder keine Probleme mitbekommen sollten. Im Gegenteil, sie dürfen wissen, dass nicht immer alles einfach ist und auch Eltern mal zu kämpfen haben. Gerade so lernen sie auch den Umgang mit Stress und Schwierigkeiten. Aber eben das nur, wenn Eltern genau das angehen: Einen guten Umgang mit den Herausforderungen des Alltags zu verfolgen. Und das geht nur, indem sie auch eigene Bedürfnisse absolut ernst nehmen und ihnen Priorität einräumen.

Die „Spätestens-Regel“

Dazu ist es sinnvoll, erst einmal zu sammeln, bei welchen Aktivitäten ich als Elternteil auftanken kann – beispielsweise Schwimmen, in die Sauna gehen, wandern. Dann wird überlegt:

  • Wie oft würde ich das gern machen?
  • Wie oft könnte ich es im aktuellen Alltag womöglich schaffen, Zeit zu finden, wenn ich es wirklich versuche, einzubauen?
  • Wann mache ich das aber spätestens wieder, wenn ich es vorher wegen Krankheiten, Problemen der Kinder o.ä. aufgeschoben habe? (z.B. nach drei Wochen)
  • Was lasse ich dafür auch mal liegen?

Mini-Oasen

Zeitaufwändige Me-Time-Aktivitäten funktionieren im Alltag oft höchstens alle 1-2 Wochen. Umso wichtiger ist es, auch kürzere Möglichkeiten zur Erholung zu finden, z.B.

  • das Hören von Entspannungsmeditationen, Musik oder von einem Hörbuch
  • ein Telefonat mit einer vertrauten Person
  • ein leckeres Essen nur für mich selbst oder als Paar, wenn die Kinder schlafen
  • ein kleiner Spaziergang oder eine halbe Stunde Sport

Bedürfnisse der Eltern: Paar-Zeit

Die Paarbeziehung zu pflegen ist ein ganz wichtiger Teil der elterlichen Bedürfnisse. Auch das hat für die Kinder wesentlichen Vorbild-Charakter und stellt die Familie auf Dauer auf ein stabiles Fundament. Hier hilft es, sich für einmal pro Woche einen Paarabend vorzunehmen für gute Gespräche, Filme, Spiele o.ä. Auch leckeres Essen oder ein Wein können dazu gehören. Wenn die Abende noch mit Einschlafbegleitung gefüllt sind, kann für eine Weile auch eine Paar-Zeit 1-2 mal im Monat reichen – dann aber gern etwas länger, zum Beispiel mit Unterstützung von lieben Menschen, die auf die Kinder aufpassen. Natürlich geht das auch tagsüber, wenn die Kinder abends nur von ihren Eltern in’s Bett gebracht werden mögen.

Kindern Grenzen kommunizieren

Um diese Balance zwischen Eltern-Bedürfnissen und Kind-Bedürfnissen zu erreichen, ist es wichtig, dass die Kinder erfahren: Was ich will und brauche, ist wichtig. Und was meine Eltern wollen und brauchen, ebenfalls! Gemeinsam suchen wir nach Kompromissen.

Deshalb ist es gut, wenn Eltern ihren Kindern auch aufzeigen, wo ihnen selbst etwas wichtig ist oder zu viel wird. Kinder dürfen mitbekommen, dass auch Eltern Pausen brauchen, respektvoll behandelt werden wollen und traurig, verärgert oder frustriert sein können. Und, dass auch ein “Nein” liebevoll sein kann – weil zum guten Elternsein eben auch eine gute Selbstfürsorge zählt. Das können und sollten Eltern dann auch formulieren, zum Beispiel:

„Ich sehe, dass du gern noch bleiben möchtest. Das verstehe ich – du hast gerade viel Spaß auf dem Spielplatz. Aber weißt du, ich bin heute auch verabredet, mit Pia. Und es ist mir wichtig, sie zu treffen. Deshalb müssen wir jetzt los. Aber wenn du magst, können wir übermorgen wieder hierherkommen und dann mehr Zeit mitbringen!“

Melanie Schüer Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche und Autorin.

 

Resilienz – Was Kindern hilft, stark zu werden

Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder stark werden. Sie sollen Resilienz, also Widerstandsfähigkeit entwickeln, um den Anforderungen des Lebens gewachsen zu sein. Was dabei helfen kann, erklärt Resilienz-Trainerin Dorothea Beier.

Aus der Forschung wissen wir, dass ein sehr wichtiger Faktor für die Entwicklung einer gesunden Resilienz eine gute Bindungsbeziehung ist. Sie entsteht durch die wechselseitige Kommunikation – zunächst mit einer Bezugsperson – vom Säuglingsalter an. Durch feinfühliges Antworten auf die Signale des Babys, wobei es angeschaut wird und bereits Gespräche mit Gestik und Mimik geführt werden, bilden sich Urvertrauen und ein positives Grundgefühl aus. Das Kind nimmt wahr: „Ich bin sicher und geborgen, ich bin richtig, ich darf sein, wie ich bin, meine Welt ist in Ordnung.“ Durch diese Wahrnehmung prägen sich bereits ein gesundes Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeit aus. Kinder lernen durch liebevolle Interaktion mit der Bezugsperson, ihre Gefühle zu regulieren und Stress zu bewältigen. Hierdurch erlangen sie auch die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und mit ihnen zu fühlen. Sie werden beziehungsfähig, entwickeln Freundschaften, was wiederum eine starke Säule ist, die in stürmischen Zeiten Halt und Stütze gibt.

Manchmal haben Eltern bei einem ihrer Kinder den Eindruck, dass die Bindung instabil geworden ist. In jedem Lebensalter wirkt es dann Wunder, Zeit zu zweit mit dem Kind zu pflegen. Unternehmungen mit einem Elternteil allein, Gespräche auf Augenhöhe, etwas gemeinsam tun, was beiden Spaß macht, kann die verloren geglaubte Bindung wiederherstellen. „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben.“ Dieser Satz des bekannten Psychotherapeuten Milton Erickson macht Mut, positiv in die Zukunft zu schauen, Visionen und Ziele zu verfolgen und dies auch unseren Kindern zu vermitteln. Selbst wenn ein Mensch keine sichere Bindung in seinen ersten Lebensjahren erfahren hat, kann das nachgeholt werden.

Humor macht stark

Es gibt keine perfekten Eltern und das ist gut so! Aber wir können uns Anregungen holen, wie unser Miteinander schöner werden kann und was Kinder in der Entwicklung zu starken Persönlichkeiten unterstützt.

Der Psychologe und Logotherapeut Viktor E. Frankl betont: „Resilienz entsteht durch gute Gefühle und durch Humor.“ Tatsächlich hat die Art, wie wir miteinander kommunizieren, einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Resilienz unserer Kinder. Würzen wir unsere Kommunikation mit Humor, so nimmt dies oftmals Stress aus einer Situation. Kinder lieben es, wenn sie mit uns lachen können und Spaß haben. Wir erfüllen damit nicht nur ihnen, sondern auch uns eines der wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse, in diesem Fall Lustgewinn und Unlustvermeidung. Und zahlreiche Studien aus aller Welt bestätigen: Humor hilft Kindern, mit widrigen Lebensumständen umzugehen.

„Ich bin dumm, blöd und viel zu klein“

In unserer hektischen und schnelllebigen Zeit fällt es oft schwer, einfühlsam zuzuhören. Aber gerade dies fördert eine gute Kommunikation und damit auch Resilienz. Es kann helfen, wenn wir uns klarmachen, wie sehr es unsere Kinder lieben, wenn wir Blickkontakt aufnehmen und ihnen aktiv zuhören. Was möchte mein Kind mir sagen? Noch einmal nachfragen, mit Gestik und Mimik zugewandt sein, zeigt, dass wir wirklich zuhören.

Für unsere Kinder ist es wichtig, dass wir ihre verbalen und nonverbalen Botschaften verstehen, dass wir ihre Gefühle, Gedanken und Überzeugungen wahr- und ernst nehmen, indem wir sie aufnehmen und noch einmal mit unseren Worten wiederholen. Auf diese Weise fühlen sie sich von uns verstanden und mit uns verbunden. Diese Art der Kommunikation – auch aktives Zuhören genannt – ist eine sehr hilfreiche Methode, die in eine Familie viel Entspannung bringen kann. Welchen Unterschied es macht, wenn man sie anwendet, soll mit dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden: Der 8-jährige Yannis konnte sich nur sehr schwer in der Schule mit Gleichaltrigen zurechtfinden. Zu Hause erklärte er eines Tages seiner Mutter, dass er dumm, blöd und viel zu klein sei. Erschrocken über seine Worte versuchte sie sofort, ihm das auszureden, worauf er mit einem Wutanfall reagierte.

Gemeinsam Resilienz entwickeln

Nach einer kompetenten Beratung verstand die Mutter, dass sich ihr Kind durch ihre Reaktion nicht verstanden gefühlt hat. Als sich die Situation wiederholte, versuchte sie es mit aktivem Zuhören. Sie sagte: „Ich weiß, was du denkst. Du kommst dir zu klein vor, glaubst, dass du blöd und dumm bist. Ich bin sehr froh, dass du mir das sagst, auch wenn ich anders darüber denke. Ja, es gibt Dinge, die dir noch nicht so gut gelingen. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir herausfinden können, was dir helfen könnte, besser über dich zu denken“. Die Mutter hatte mit ihrer Aussage die Wahrnehmung ihres Sohnes bestätigt, er fühlte sich verstanden und ernst genommen.

Wir machen unsere Kinder stark, wenn wir sie darin unterstützen, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen. Gemeinsam mit Kindern über Lösungen für ein Problem nachzudenken und abzuwägen, was man tun könnte, hilft ihnen, gesunde, resiliente Erwachsene zu werden. Wenn wir sie darin anleiten, Handlungspläne zu entwickeln, fördert das ihre Eigenständigkeit, erfüllt ihr Bedürfnis nach Autonomie und Kontrolle. Dies fördert wiederum ihre Selbstwirksamkeit und stärkt ihr Selbstwertgefühl.

Fehler feiern

Es bleibt nicht aus, dass unsere Kinder auch mit Misserfolgen konfrontiert werden. Viele Menschen leiden unter der Angst, Fehler zu machen. Das kostet viel Kraft. Wir machen unsere Kinder stark fürs Leben, wenn wir ihnen helfen, zu verstehen, dass Fehler zum Leben dazugehören und dass man daraus lernen kann.

Eine Lehrerin fragte dazu am Beginn eines Schuljahres ihre Schüler: „Wer von euch hat das Gefühl, in diesem Jahr vielleicht Fehler zu machen oder manche Dinge nicht zu verstehen?“ Dann hob sie als erstes ihre Hand, woraufhin auch die Kinder sich trauten, das zuzugeben. Sie stellte einen Krug und einen Behälter mit Steinen auf ihr Pult und erklärte den Kindern: „Immer, wenn einer von uns einen Fehler macht, werfen wir einen Stein in den Krug. Wenn der Krug voll ist, feiern wir.“ Da der Krug nicht sehr groß war, konnte die erste Party schon bald darauf beginnen. Kinder, die sich zuvor – oft aus Angst vor Fehlern – nicht getraut hatten zu antworten, waren jetzt ermutigt und beteiligten sich am Unterricht. Das Leistungsniveau der Klasse steigerte sich hierdurch enorm und es gab so gut wie keine Disziplinschwierigkeiten.

Optimismus und Glaube

Kinder lieben es, wenn Eltern optimistisch in die Zukunft schauen. Das macht gute Gefühle und gibt ihnen Sicherheit. Sie beobachten, wie Eltern Probleme lösen und Entscheidungen treffen. Nicht allein hier kann auch der Glaube an Gott, der zu jeder Zeit einen Weg und eine Hilfe für uns hat, für den nichts zu schwer und unmöglich ist, eine große Hilfe sein. Wir können es mit den Kindern zu einem Ritual werden lassen, darüber nachzudenken, was am Tag besonders schön war. Gemeinsames Staunen über schöne Dinge, Dankbarkeit und Frohsinn helfen zu einem optimistischen Familienklima. Zuversichtlich in die Zukunft zu blicken, sich nicht von Negativem herunterziehen zu lassen, sondern zu vertrauen, macht stark und fördert Resilienz.

Einfach Kind sein

Kinder brauchen auch Zeiten, in denen sie sich entspannen können und zur Ruhe finden. Ein ausgewogener Zeitplan, in dem unsere Kinder Kinder sein dürfen, unterstützt eine ausgewogene Hirnentwicklung. Sie entwickeln emotionale Regulationsfertigkeiten und sogar die Intelligenz wird gefördert, wenn sie zu spontanem und kreativem Spiel Zeit finden. Hierbei wird ihnen die Gelegenheit geboten, neugierig und erfinderisch zu sein. Sogar Langeweile kann förderlich sein, um die Welt und sich selbst zu entdecken.

Jede Interaktion mit unseren Kindern bietet die Gelegenheit, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie einzigartig und wertvoll sind. Wie wichtig und nötig auch „Extra-Zeiten“ sind, die wir in der Familie einrichten können, und in denen jedes einzelne Kind ganz besonders bedacht wird, kann man immer wieder beobachten. Kinder nehmen hierdurch in besonderer Weise die Liebe der Eltern wahr. Diese Zeiten sind Kraftquellen für Kinder. Hier können sie auftanken, den Stress des Alltags hinter sich lassen und einfach glücklich sein. Nicht zuletzt sind besondere Familienzeiten mit Spiel und Spaß, gemeinsame Ausflüge, Wanderungen und vieles mehr Oasenzeiten, die unsere Kinder resilient machen und ihnen helfen, mit Stress in gesunder Weise umzugehen.

Dorothea Beier ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Selbstbehauptungs- und Resilienz-Trainerin, Spiel- und Bewegungstrainerin sowie Coach für Kinder und Jugendliche. Sie lebt und arbeitet in Uelzen. praxis-dbeier.de

Pause! Wie Familien wieder auftanken können

Der Familienalltag ist oft anstrengend und hektisch. Sozialpädagogin Julia Otterbein verrät, wie Pausen individuell geplant und bewusst genutzt werden können.

Familienalltag fühlt sich manchmal wie das Durchqueren einer großen Wüste an: brütende Hitze, anstrengende Tage – und Pausen in der prallen Sonne sind keine echte Option. Zumindest lässt sich so nicht nachhaltig Kraft schöpfen für die nächste Wegstrecke. Es braucht also eine sinnvolle Routenplanung, die es ermöglicht, in regelmäßigen Abständen eine Oase aufzusuchen.

Pausen einplanen

Eltern, die immer versuchen, alles unter einen Hut zu bekommen, erzeugen damit einen Familienalltag, der eng getaktet ist. Und auch die Kinder sind durch (Ganztags-)Schule und verschiedene Hobbys zeitlich eng eingebunden. Wofür dann häufig keine Zeit mehr bleibt, sind die eigentlich so wichtigen Pausen und unverplante Zeiten.

Generell hilft es, unnötigen Druck herauszunehmen, To-do-Listen zu verschlanken und wieder eine aktivere Haltung einzunehmen. „Nein“ zu sagen zum dritten verbindlichen Hobby mit entsprechend festen Terminen unter der Woche oder sogar noch am Wochenende, und stattdessen Pausenzeiten fest einzuplanen, in den Kalender einzutragen und mit der gleichen Priorität zu versehen wie einen Arzttermin.

Oasen im Familienalltag

Damit diese Pausen auch zu wirklichen Oasen werden, darfst du dir folgende Fragen stellen: Was möchte ich tun oder lassen? Was tut mir gut? Wie sieht meine persönliche Oase aus? Denn Oasen im Familienalltag sind so verschieden, wie wir Menschen verschieden sind. Vielleicht hilft dir dabei auch dieses Experiment:

Nichts tun. Nur aus dem Fenster schauen. In der Sonne sitzen und die Augen schließen. Einfach nur sein. Auf deinen Atem oder Herzschlag achten. Und dann kannst du mal deine unerfüllten Bedürfnisse erkunden: die körperlichen, sozialen und geistigen Bedürfnisse. Was fehlt dir gerade? Ist es Schlaf, Essen, Trinken, Bewegung, Entspannung, Austausch mit anderen (erwachsenen) Menschen, Inspiration?

Gemeinsam und getrennt

Im nächsten Schritt gilt es, eine passende Strategie für das Bedürfnis zu finden: Gärtnern oder lesen? Freunde treffen oder Zeit für sich haben? Musik hören oder Musik machen? Aktiv sein oder chillen? Da hat jeder so seine persönlichen Favoriten. Was allen Strategien gemeinsam ist: Jeder tut es mit Freude und Genuss.

Manche von uns laufen allerdings schon so lange durch die sprichwörtliche Wüste, dass sie nur noch eine vage Erinnerung daran haben, wie die persönliche Wohlfühloase aussieht. Daher ist es wichtig, (mal wieder) herauszufinden, was zu einem passt und was nicht. Dafür kannst du den Test in der Box nutzen (siehe unten).

Nicht selten steht man als Familie aber vor folgendem Problem: Die Strategien der einzelnen Familienmitglieder passen nicht zusammen. Was die einen entspannt, ist für die anderen eher anstrengend, zum Beispiel der Besuch eines Indoor-Spielplatzes. Da gilt es dann, individuelle Lösungen zu finden und sich vielleicht in der Familie aufzuteilen.

Gerade diejenigen, die im Alltag eine hohe Belastung durch die Übernahme von Sorgearbeit in der Familie haben, brauchen auch Zeiten, in denen sie die Verantwortung für andere Menschen abgeben und ihren eigenen Bedürfnissen ohne Einschränkungen und Kompromisse nachgehen können.

Dennoch ist es toll, wenn es das eine oder andere Familienritual gibt, das bei allen für Ruhe und Entspannung sorgt: kuschelige Vorlesezeiten, ein Familien-Heimkino-Abend, gemeinsam in Erinnerungen schwelgen…

Oder einmal im Monat einen Wochenendtag bewusst unverplant zu lassen und sich gemeinsam treiben zu lassen. Zeit zum Nichtstun oder mal wieder eine Runde „Mensch ärgere dich nicht“ oder „Uno“ spielen. Oft sind es gerade solche Kleinigkeiten, die zu besonderen Erinnerungen werden.

Was passt zu dir?

Vielleicht braucht es aber auch mal eine größere Oasenzeit und mehr Abstand zum Alltag, zum Beispiel auf einer Freizeit zum Auftanken oder einem Urlaub ohne die Familie. Auch eine Mutter- oder Vater-Kind-Kur oder bei älteren Kindern eine Kur allein kann dafür sorgen, mal für drei Wochen fern des Alltags Entlastung zu erleben und die Beziehung untereinander zu stärken.

Finde heraus, welche Dimension deine Oase haben soll und was zu dir passt. Erinnere dich an frühere Hobbys, die vielleicht im Trubel des Familienalltags aus dem Blick geraten sind. Wenn Strategien von früher nicht mehr funktionieren, probiere etwas Neues aus. Ausgetretene Pfade zu verlassen und kleine Abenteuer zu erleben, sorgt für Abwechslung – und schon sieht die Wüste ein bisschen lebendiger aus.

Julia Otterbein ist Diplom-Sozialpädagogin und Selbstfürsorge-Coach und lebt mit ihrer Familie in Süderbrarup/Schleswig-Holstein. familywithlove.de

 

SELBSTTEST ZUM AUFTANKEN

Introvertiert oder extrovertiert?
Während introvertierte Menschen besser regenerieren, wenn sie allein sind, können Extrovertierte im Kontakt mit anderen Menschen ihre Akkus aufladen.

Aktiv sein oder entspannen?
Brauchst du mehr Bewegung als Ausgleich zu deinem Alltag oder bewusstes Nichtstun und Ent-Spannung?

Inspiration für den Kopf oder Gedanken zur Ruhe kommen lassen?
Ermüdet dein Geist durch zu wenig oder zu viel Input? Sorge dann bewusst für das Gegenteil durch ein interessantes Buch, einen inspirierenden Podcast oder durch Stille und das Niederschreiben von Gedanken.

Raus in die Natur?
Viele Menschen halten sich viel zu oft in Innenräumen auf – da kann Zeit an der frischen Luft und außerhalb von bebauten Gebieten den nötigen Ausgleich schaffen.

Mittagsschlaf?
Gerade wenn der Nachtschlaf im Familienleben häufiger zu kurz kommt, kann ein Mittagsschlaf oder eine gemeinsam vereinbarte Mittagsruhe zu einer wohltuenden Oase werden.

Gemeinsame Familienrituale oder Zeit für sich allein?
Mal braucht es das eine und mal das andere – plant am besten beides für euch ein.

Heute schon gelacht?
Lachen ist gesund für Körper und Psyche. Es entspannt den Körper, reduziert Stress und lindert sogar Schmerzen. Probiert es mal aus!

Hilfe, mein Kind (4) spielt Krieg! Expertin beruhigt: Das ist nicht ungewöhnlich

Viele Jungs im Kindergarten spielen gerne Krieg. Angesichts der derzeitigen Lage kann das befremdlich wirken. Es ist allerdings nicht ungewöhnlich, sagt Familienberaterin Daniela Albert und erklärt die Hintergründe.

Manche Eltern sind völlig aufgelöst wenn die Kinder im Kindergarten gerne Krieg spielen. Manch Eltern berichten, dass eine Kindergartengruppe als Ukraine gegen eine andere Gruppe als Russland kämpft. Dabei äußern auch einie Kinder den Wunsch, Soldaten zu werden und gegen Putin zu kämpfen. Das stellt Eltern vor eine wichtige Frage: Wie gehen wir damit um? Sollen wir das unterbinden?

Grundsätzlich ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder sich in diesem Alter auch spielerisch miteinander messen und „kämpfen“, oder, wie in diesem Fall, „Krieg“ spielen. Zum einen ermöglichen ihnen solche Raufspielchen, die eigenen Kräfte und Grenzen zu entdecken und auch Erfahrungen mit den Kräfen und Grenzen anderer Menschen zu machen. Zum anderen verleiht ihnen das Schlüpfen in eine Rolle, in der sie als Superheld oder Krieger mit Waffen oder besonderen Kräften auftreten können, ein Gefühl von Macht und Stärke, das ihnen im normalen Alltag oft verwehrt bleibt.

Kinder verarbeiten im Spiel

So ist auch der Wunsch, „Soldat“ zu werden einzuordnen. Es geht dabei nicht darum, wirklich einmal in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten, sondern der eigenen Hilflosigkeit, die Kinder in dieser Krise spüren, etwas entgegenzusetzen. Was man hier beobachten kann, ist Teil einer spielerischen Verarbeitung von Realität, die die Kinder gerade miterleben müssen.

Wir alle spüren ja im Moment ein Gefühl von Machtlosigkeit, wenn wir den Krieg in der Ukraine beobachten. Nur haben wir als Erwachsene andere Möglichkeiten, damit umzugehen. Kinder finden hier einen Ausweg über Spiel und magisches Denken. Da wird ein kriegsführender Diktator auf einmal besiegbar wie eine Gruppe anderer Vierjähriger und ein kleiner „Soldat“ kann kommen und ihn stoppen.

Die Bedürfnisse dahinter

Vor diesem Hintergrund wäre ein reines Verbot dieses Spiels nicht zielführend. Wenn Eltern oder das pädagogische Personal in der Kita trotzdem ein ungutes Gefühl bei diesem Spiel haben – was ich angesichts der Lage nachvollziehen kann –, ist es besser, die dahinterstehenden Bedürfnisse auf andere Art zu füllen: Zum einen sollte es Raum zum Toben, Raufen und Kämpfen geben, der von den Erwachsenen so gestaltet wird, dass sich die Kinder darin möglichst frei ausleben dürfen. Erwachsene und Kinder können sich gemeinsam Fantasiegestalten ausdenken, die dort aufeinandertreffen.

Zum anderen muss aber auch Raum da sein, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen: Hier geht es vor allen Dingen darum, den Blick der Kinder auf das zu lenken, was sie tun können, um zu helfen, und wo ihre tatkräftige Unterstützung wirklich nützlich sein kann. Es geht darum, der Machtlosigkeit Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin (familienberatung-albert.de).

Wenn die Seele schmerzt: Alte Verletzungen erkennen und heilen

Manche seelischen Verletzungen aus der Kindheit holen uns im Erwachsenenalter ein. Um innerlich heilen zu können, ist es wichtig, diese aufzudecken.

Woran könnten wir erkennen, dass uns seelische Verletzungen aus der Vergangenheit einholen? Es ist oft ein Konglomerat aus Angst, Wut, Verzweiflung, mangelndem Selbstwert, Antriebslosigkeit, Trauer, Desinteresse, sozialem Rückzug, starker Gereiztheit, aggressivem Verhalten, fremd wirkenden Gefühlen oder gar Lebensmüdigkeit. Es können aber auch psychosomatische Beschwerden entstehen wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder Verdauungsschwierigkeiten. Um nicht darüber hinwegzusehen, ist es wichtig, regelmäßig auch mit sich selbst in Kontakt zu sein. Fragen wie: „Wie geht es meiner Seele?“, „Wonach sehnt sie sich?“, „Was raubt mir die Kraft?“ sind wichtig. Wir nennen es Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge.

Die oben genannten Symptome psychischen Angeschlagenseins, die auch in kleineren Krisenzeiten auftauchen können und dann wieder verschwinden, haben das Potenzial, sich in Zeiten der Erschütterung und des Umbruchs zu klinischen Krankheitsbildern zu verdichten. Das müssen nicht zwangsläufig negative Umbrüche sein, wie zum Beispiel Trennungen, Kündigungen oder Krankheiten. Auch freudige Ereignisse wie Schwangerschaft und Hochzeit sind mögliche Auslöser. Dann entstehen zum Beispiel Angststörungen, Depressionen oder psychosomatische Erkrankungen. Nicht selten fördern diese Ereignisse seelische Verletzungen zutage, die in der Entwicklung in der Kindheit oder Jugend liegen, die es gilt, zu erkennen und daran zu arbeiten. Die Psychologie hat gute Konzepte entwickelt, die Menschen eine wertvolle Unterstützung geben können, um schädliche Muster zu erkennen, aus krisenhaften Konflikten herauszufinden und seelisch zu gesunden. Wie so etwas funktionieren kann, möchte ich kurz zeigen. Zwei meiner PatientInnen waren bereit, uns an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen.

Pascal: Selbstständigkeit lernen

Als Pascal (alle Namen geändert) in meine Praxis kam, war er äußerlich gesehen „erfolgreich“. Er studierte im Masterstudiengang Maschinenbau, hatte eine feste Freundin, eine Ehe zogen sie in Betracht. Er lebte immer häufiger in ihrer Wohnung. Folgende Probleme benannte er: „Ich möchte selbstständiger werden, aber meine Eltern setzen mich mit ihrer finanziellen Unterstützung für meine Wohnung unter Druck. Um meine Entscheidungen frei treffen zu können, muss ich mich von ihnen wohl finanziell ganz ablösen und mir mein Leben selbst verdienen!“

Allerdings fühlte es sich für ihn an, als würde er seinen Eltern die Freundschaft kündigen. Alles in ihm sträubte sich gegen diese Entscheidung. Sie führte bei ihm zu Ängsten, starker innerer Unruhe sowie Grübeln mit depressiven Gefühlen. Seine Mutter entwickelte Sorgen um ihn, konnte nachts nicht mehr schlafen und warf ihm vor, nichts mehr mit ihnen zu tun haben zu wollen. „Mir war damals nicht bewusst, dass diese Situation nur die Spitze eines großen Eisbergs von Situationen und Mustern war, denen ich mich stellen musste“, erinnert sich Pascal.

In den Gesprächen wurde mir klar, dass Pascals Probleme ihre Wurzeln im Familiensystem haben mussten, sodass wir uns auf eine Spurensuche begaben. Wir bildeten einen Familienstammbaum (Genogramm) über vier Generationen und entdeckten, dass in der Linie seiner Mutter die Frauen oft herrisch waren, während die Männer zu Gewalt neigten. In der Linie seines Vaters hingegen arbeiteten die Männer viel und waren abwesend. Darüber hinaus führten wir eine Familienaufstellung mit Holzfiguren durch, um die Konstellation seiner Familie in der Kindheit zu analysieren. Hier stellte sich heraus, dass Pascal sich stark von seiner Mutter unterdrückt fühlte. Sie legte ihre Angst auf ihn und war häufig gereizt und überfordert. Die Figur seines Vaters stand schräg hinter der Mutter, da er andauernd arbeitete und zu Hause müde war. Pascal stellte fest: „Mir fehlte ein starkes Vorbild, das mir beibrachte, wie man sich verteidigt und dass man sich für sich selbst einsetzen darf.“

Er war – tiefenpsychologisch gesprochen – als Erwachsener gefangen in einem Konflikt der Kontrolle versus Unterwerfung. In einer Entwicklungsphase, in der er als Kind begann, sich selbstwirksam zu erleben, neue motorische Fähigkeiten auszuprobieren (wie z. B. Krabbeln), mit individuellen Bedürfnissen, und auch mal Nein zu sagen, ist er wahrscheinlich zu sehr kontrolliert und entmutigt worden. Anstatt Autonomie zu lernen, hat Pascal sich den Eltern „unterworfen“, ist gehorsam und angepasst geworden, um ihre Liebe nicht zu verlieren. In einer Lebensphase, in der er naturgemäß immer selbstständiger werden wollte und musste, fühlte er unbewusst den Druck, sich unterzuordnen. Diese tiefe innere Spannung kam an die Oberfläche und die unbewussten Ängste haben einen Konflikt entfacht. Je mehr er diese zugrunde liegende Problematik verstand, desto besser konnte er sich von den Vorstellungen seiner Eltern abgrenzen und erlebte, wie die Symptome zurückgingen.

Sylvia: Selbstwert entwickeln

Sylvia hätte überglücklich sein können. Sie hatte zwei Ausbildungen und war erfolgreich und zufrieden in ihrem Beruf. Ihr Freund hatte ihr einen Heiratsantrag gemacht. Sie konnte sich darüber aber nicht freuen. Sie wurde ihm gegenüber immer aggressiver und ausfallender. War sie allein, musste sie viel weinen. Sie empfand sich als ungenügend und bedeutungslos, sie verstand die Welt nicht mehr. Auch hier half ein Blick in das Familiensystem, denn der Selbstwert-Konflikt, der zum Vorschein kam, war bereits in ihrer Kindheit angelegt.

Sylvias Vater war ihr gegenüber respektlos und übertrat ständig ihre Grenzen, zum Beispiel, indem er ihre Tagebücher las. Ihre Mutter war überfordert und nicht in der Lage, ihre Tochter zu schützen. Zugleich war Sylvia aber für ihre Individualität und Selbstwertentwicklung darauf angewiesen, in ihren Eltern liebevolle Vorbilder zu sehen, die auf ihr Kind stolz sein können. Da ihr diese Bestätigung verwehrt blieb, zog sich Sylvia resignativ in ein Gefühl der Bedeutungs- und Wertlosigkeit zurück und versuchte, durch Leistung Bewunderung und Anerkennung zu bekommen. In ihrer jetzigen Beziehung fühlte sich Sylvia in ihre Kindheit versetzt und bediente sich früherer Lösungsansätze: Sie versuchte Anerkennung durch Leistung und durch die Abwertung ihrer eigenen Person zu bekommen. Aber in ihr stieg auch verborgene Wut auf. Erst in der Therapie verstand sie, dass ihre Kindheit und das Verhalten ihrer Eltern alles andere als normal und gesundheitsfördernd für sie gewesen waren.

Zur seelischen Stabilisierung und Neuorientierung war für sie als erster Schritt ein (vorübergehender) Abstand zu ihren Eltern wichtig, da die Bindung immer noch sehr eng und die schädlichen Muster aktiv waren. In weiteren Schritten arbeiteten wir vor allem mithilfe von Imaginationen (dem Herstellen von inneren Bildern) schmerzhafte Erinnerungen durch, in denen das Kind von damals Hilfestellung und Korrektur erfahren konnte, sodass sich innere Glaubenssätze und tief verankerte Grundgefühle verändern können. Auf diese Weise können negative neuronale Netzwerke neu verknüpft bzw. überschrieben werden und schon in der Kindheit entstandener Stress kann abgebaut werden. Sylvia ist auf dem Weg, sich als wertvoll anzunehmen, ohne dafür etwas Besonderes leisten zu müssen, und auch ihre – bis dahin unbewusste – Frustration und Wut zu verarbeiten.

Das sind nur zwei Beispiele, wie wir durch die Aufarbeitung von familiären Systemen oder unerfüllten Grundbedürfnissen Konflikte aufdecken und seelisch gesunden können. Daraus ergibt sich für uns als Eltern, die Bedürfnisse unserer Kinder im Blick zu behalten und auch in uns selbst hineinzuschauen, wo wir unbewusst Konflikte in uns tragen. Es muss nicht immer sein, dass schwerwiegende Symptome entstehen. Aber wenn es dazu kommt, ist professioneller Rat in jedem Fall angemessen.

Wir brauchen Bindung

Was schützt uns nun also vor solchen Fehlentwicklungen, und was brauchen unsere Kinder, um die vor ihnen liegenden Entwicklungsstufen zu bewältigen und seelisch gesund zu sein und bleiben zu können? Auch später als Erwachsene? Sie brauchen das Gefühl, sicher gebunden und um ihrer selbst willen geliebt zu sein.

Marion Geissler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet in Kassel in einer Praxis.

Seelische Gesundheit: Diese fünf Dinge braucht jedes Kind

Was braucht ein Kind, um sich seelisch gesund zu entwickeln? In fünf Grundbedürfnissen liegt der Schlüssel. Therapeutin Dorothea Beier erklärt, was Eltern tun können, um den Bedürfnissen gerecht zu werden.

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, wie zum Beispiel Hunger und Durst, die rein körperlicher Art sind. Darüber hinaus gibt es wichtige seelische Bedürfnisse. Sie zu sehen und zu befriedigen, legt entscheidende Grundlagen für eine seelisch gesunde Entwicklung. Anhand eines fiktiven Beispiels sollen die fünf Grundbedürfnisse kurz erklärt werden.

Johann, gerade acht Monate alt, jauchzt vor Vergnügen. Mama beugt sich über seine Wippe, hat eine Quietscheente in der Hand und spielt ihm etwas vor. Das ganze Szenario geht nun schon fünf Minuten und der kleine Kerl ist immer noch begeistert. Nun greift er nach der Ente und wirft sie auf den Boden. Mama hebt sie auf, gibt sie zurück. Und aus Runterwerfen und Aufheben entsteht ein neues Spiel.

Johann spürt: „Mama kennt meine Bedürfnisse und antwortet darauf.“ In seinen ersten Lebensmonaten hat sie sogar prompt auf seine Laute reagiert und ist auf ihn eingegangen. Sie hat erspürt, was er braucht, das Bedürfnis ausgesprochen und seinen Wunsch erfüllt. Nicht immer war es die Brust, manchmal wollte er einfach beschäftigt werden.

Auf Bedürfnisse einzugehen, bedeutet nicht nur, sie zu erfüllen, sondern auch, sie verbal und nonverbal zu spiegeln. Das gibt Sicherheit und das Gefühl, verstanden zu werden. Johann hat bereits gelernt: „Meine Welt ist sicher, ich kann mich auf andere verlassen, ich bin liebenswert – ich bin wertvoll.“ Ein wichtiges Grundbedürfnis wurde bereits durch das feinfühlige Antworten der Mutter auf seine Signale gestillt: das Bedürfnis nach Bindung. Das Wahrund Ernstnehmen schafft eine Verbindung, die gleichzeitig hilft, ein gesundes Selbstwertgefühl auszuprägen.

Freiheit entdecken

Inzwischen hat Johann sich auf die Beine gestellt. Es war für ihn ein großer Tag, als er sich zum ersten Mal allein durch den offenen Türspalt bewegen konnte. Sein Lieblingswort ist nun: „leine“. Begeistert greift Johann zum Beispiel nach den Kartoffeln, Karotten, Nudeln und Wurststückchen auf seinem Teller, denn er möchte nicht mehr gefüttert werden.

In seinem Verhalten zeigt sich ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis: das Bedürfnis nach Autonomie. Die Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie stehen in einem Wechselverhältnis: Eine sichere Bindung ist für das Erkundungsverhalten (Autonomie) eines Kindes sehr wichtig. Hieraus schöpft es seinen Entdeckermut, braucht aber auch noch weiterhin den „sicheren Hafen“, zu dem es immer wieder zurückkehren kann.

Grenzen erfahren

Johann ist nun schon fast zwei Jahre alt und er entdeckt die Welt. Das Leben ist so schön! Er probiert vieles aus, doch manchmal sagen Mama und auch Papa „Nein!“. Das mag Johann nicht, aber es gehört dazu; denn auch angemessene Grenzen sind nötig, um sich gesund entwickeln zu können. Tatsächlich gehört es auch zu den fünf wichtigen seelischen Grundbedürfnissen: das Bedürfnis nach realistischen Grenzen und Selbstkontrolle. Die Entwicklungspsychologie spricht davon, dass Kinder (nicht Säuglinge!) hin und wieder auch die Erfahrung von „Vergeblichkeit“ machen müssen. Indem ein Kind manchmal etwas nicht (gleich) bekommt, lernt es, in gemischten Gefühlen zu denken und aus dem Schema des Schwarz-Weiß-Denkens herauszufinden. Das ist ein wichtiger Reifeschritt, der im späteren Erwachsenenleben viele Vorteile hat, zum Beispiel im Treffen von Entscheidungen. Auf der Basis einer sicheren Bindung kann ein angemessenes „Nein“ sogar helfen, einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt zu machen. Nicht zuletzt erlangt das Kind hierdurch auch eine gesunde Frustrationstoleranz.

In diesem Prozess ist es wichtig, sich immer wieder gut in das Kind einzufühlen und ihm seine Gefühle zu spiegeln. Kinder können erst ab dem fünften Lebensjahr ihre Gefühle allmählich selbst regulieren. Werden sie damit wiederholt alleingelassen, erschwert das die Emotionsregulation, was häufig zu unerklärlichen Gefühlsausbrüchen führen kann. Indem Eltern ihren Kindern Gefühle spiegeln, helfen sie ihnen, sie wahrzunehmen und einzuordnen. „Du bist gerade wütend, mein Schatz! Mama/Papa versteht dich, Mama/Papa ist bei dir …“ Solche und ähnliche Sätze helfen dem Kind und bringen das Gefühlschaos wieder zur Ruhe.

Spielen und Spaß haben

Johann ist jetzt drei Jahre alt. Er liebt es zu spielen und hat eine ausgeprägte Fantasie. Mama und Papa helfen ihm, in ein Spiel hineinzufinden, um ihn dann auch wieder vergnüglich allein spielen zu lassen. Manchmal sitzen sie auf dem Fußboden des Kinderzimmers, spielen mit Playmobil und Mama oder Papa denken sich dabei viele Geschichten aus. Johann liebt es, wenn die Eltern ihn in seiner Fantasiewelt anregen und abholen. Jeder Gegenstand beginnt zu leben: Der Ball wird Dickie, ein Buntstift ist Olga und eine Zahnbürste ist Jolante. Am Abend fällt das Zähneputzen gar nicht schwer, denn Jolante ist neugierig und möchte gern Johanns Zähne sehen.

Kinder haben in diesem Alter eine ausgeprägte Fantasie, die ihnen dabei hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Diese Fantasiewelt ernst zu nehmen und sie darin abzuholen bzw. anzuregen, ist sehr hilfreich und kann auch genutzt werden, um brenzlige Situationen im Alltag zu entschärfen, wie zum Beispiel das Zähneputzen oder Schuheanziehen.

Kindergartenkinder wie Johann lieben das Rennen, Balancieren und Klettern. Neben den körperlichen entwickeln sich auch die kognitiven Fähigkeiten. Kinder lernen, sich immer besser auszudrücken. Die beste Unterstützung dieser Fähigkeiten ist das Vorlesen – am Abend, aber auch zwischendurch.

Lob und Anerkennung

Mit fünf Jahren ist Johann nun schon richtig selbstbewusst. Er weiß, was er möchte, und kann das seinen Eltern mitteilen. Mama und Papa haben entdeckt, dass Johann sehr musikalisch ist. Er wünscht sich eine Geige und möchte gemeinsam mit den Eltern musizieren. Sie bestärken ihn darin und zeigen ihre Freude darüber. Auf solche Weise wird das Bedürfnis nach Autonomie, zu dem auch Identität und Kompetenz (Selbstwert und Anerkennung) gehören, gestärkt. Auch beim Fußballspielen mit Papa wird dieses Bedürfnis immer wieder befriedigt; denn Papa staunt jedes Mal über Johanns Geschicklichkeit mit dem Ball.

Resilienz durch Spiel und Spaß

Inzwischen geht Johann gern zur Schule. Er hat Freunde gefunden, mit denen er sich häufig trifft. Einmal in der Woche ist Geigenunterricht. Mama und Papa sorgen dafür, dass Johann neben den Schulaufgaben und dem Geige-Üben genug Zeit findet, um seinem Bedürfnis nach Spiel und Spontaneität nachgehen zu können. Das macht Kinder stark und fördert ihre Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Kinder brauchen für ihre seelisch gesunde Entwicklung genug Ruhezeiten, in denen sie ganz bei sich selbst sein dürfen.

Bedürfnisse und schlechte Gefühle

Die Bedürfnisse sind ein Schlüssel zur Gefühlswelt unserer Kinder, denn hinter schlechten Gefühlen oder auch hinter auffälligen Verhaltensweisen stecken immer ungestillte Bedürfnisse. Indem wir auf die Bedürfnisse achten, sie benennen und anerkennen, können wir uns selbst und unsere Kinder besser verstehen lernen. Oft sprechen wir von „schwierigen Kindern“ und geben ihnen damit einen Stempel. Erkennen wir das Bedürfnis hinter einem offensichtlich auffälligen Verhalten des Kindes, können wir angemessen helfen.

Marshall Rosenberg, der Begründer der gewaltfreien Kommunikation GFK, zeigt Strategien auf, die besonders in konfliktreichen Situationen sehr hilfreich sind: In einem ersten Schritt ist es wichtig, auszusprechen, was ich als Erwachsener sehe, ohne dies zu bewerten. Im zweiten Schritt geht es darum, das Gefühl in der jeweiligen Situation zu benennen – das eigene oder das des Kindes. Im dritten Schritt hilft es, das Bedürfnis der Beteiligten zu verbalisieren. Ein vierter Schritt in der GFK ermutigt dazu, eine Bitte des Erziehenden zu äußern. Hiermit wird ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis erfüllt: das Bedürfnis nach Freiheit im Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen. Diese Freiheit führt dazu, dass Kinder einen positiven Zugang zu sich selbst und zu ihren Gefühlen finden.

Unsere Kinder müssen übrigens nicht immer mit uns einer Meinung sein! Sie haben auch das Recht, Nein zu sagen. Dadurch nehmen sie nicht gleich eine Herrscherrolle in der Familie ein. Stattdessen entwickelt sich ein respektvoller Umgang im Miteinander, der die Selbstwirksamkeit fördert und das Bedürfnis nach Autonomie stillt.

In dem Beispiel von Johanns Entwicklung sehen wir, was Kinder brauchen. Natürlich läuft es nicht immer perfekt im oft stressigen Alltag. Da hilft es zu wissen: Auch Eltern dürfen Fehler machen! Ja, diese sind normal und sogar wichtig; denn hierdurch können Kinder lernen, wie man sich verhalten sollte, wenn man etwas falsch gemacht hat. Fehler anzuerkennen und sich dafür bei den Kindern zu entschuldigen, stärkt die Beziehung im Miteinander, schafft einen noch engeren Zusammenhalt und ein positives Familienklima.

Auch Erwachsene haben Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Daher ist ein achtsamer Umgang mit den Kindern genauso wichtig wie der achtsame Umgang mit sich selbst.

Dorothea Beier ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Selbstbehauptungs- und Resilienztrainerin, Spiel- und Bewegungstrainerin sowie Coach für Kinder und Jugendliche. Sie lebt und arbeitet in Uelzen. praxis-dbeier.de

Sicher und geborgen die Welt entdecken

Was brauchen Kinder für eine seelisch gesunde Entwicklung? Die Therapeutin Dorothea Beier erklärt die fünf Grundbedürfnisse und wie Eltern darauf eingehen können.

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, wie zum Beispiel Hunger und Durst, die rein körperlicher Art sind. Darüber hinaus gibt es wichtige seelische Bedürfnisse. Sie zu sehen und zu befriedigen, legt entscheidende Grundlagen für eine seelisch gesunde Entwicklung. Anhand eines fiktiven Beispiels sollen die fünf Grundbedürfnisse kurz erklärt werden.

Johann, gerade acht Monate alt, jauchzt vor Vergnügen. Mama beugt sich über seine Wippe, hat eine Quietscheente in der Hand und spielt ihm etwas vor. Das ganze Szenario geht nun schon fünf Minuten und der kleine Kerl ist immer noch begeistert. Nun greift er nach der Ente und wirft sie auf den Boden. Mama hebt sie auf, gibt sie zurück. Und aus Runterwerfen und Aufheben entsteht ein neues Spiel.

Johann spürt: „Mama kennt meine Bedürfnisse und antwortet darauf.“ In seinen ersten Lebensmonaten hat sie sogar prompt auf seine Laute reagiert und ist auf ihn eingegangen. Sie hat erspürt, was er braucht, das Bedürfnis ausgesprochen und seinen Wunsch erfüllt. Nicht immer war es die Brust, manchmal wollte er einfach beschäftigt werden.

Auf Bedürfnisse einzugehen, bedeutet nicht nur, sie zu erfüllen, sondern auch, sie verbal und nonverbal zu spiegeln. Das gibt Sicherheit und das Gefühl, verstanden zu werden. Johann hat bereits gelernt: „Meine Welt ist sicher, ich kann mich auf andere verlassen, ich bin liebenswert – ich bin wertvoll.“ Ein wichtiges Grundbedürfnis wurde bereits durch das feinfühlige Antworten der Mutter auf seine Signale gestillt: das Bedürfnis nach Bindung. Das Wahrund Ernstnehmen schafft eine Verbindung, die gleichzeitig hilft, ein gesundes Selbstwertgefühl auszuprägen.

Freiheit entdecken

Inzwischen hat Johann sich auf die Beine gestellt. Es war für ihn ein großer Tag, als er sich zum ersten Mal allein durch den offenen Türspalt bewegen konnte. Sein Lieblingswort ist nun: „leine“. Begeistert greift Johann zum Beispiel nach den Kartoffeln, Karotten, Nudeln und Wurststückchen auf seinem Teller, denn er möchte nicht mehr gefüttert werden.

In seinem Verhalten zeigt sich ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis: das Bedürfnis nach Autonomie. Die Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie stehen in einem Wechselverhältnis: Eine sichere Bindung ist für das Erkundungsverhalten (Autonomie) eines Kindes sehr wichtig. Hieraus schöpft es seinen Entdeckermut, braucht aber auch noch weiterhin den „sicheren Hafen“, zu dem es immer wieder zurückkehren kann.

Grenzen erfahren

Johann ist nun schon fast zwei Jahre alt und er entdeckt die Welt. Das Leben ist so schön! Er probiert vieles aus, doch manchmal sagen Mama und auch Papa „Nein!“. Das mag Johann nicht, aber es gehört dazu; denn auch angemessene Grenzen sind nötig, um sich gesund entwickeln zu können. Tatsächlich gehört es auch zu den fünf wichtigen seelischen Grundbedürfnissen: das Bedürfnis nach realistischen Grenzen und Selbstkontrolle. Die Entwicklungspsychologie spricht davon, dass Kinder (nicht Säuglinge!) hin und wieder auch die Erfahrung von „Vergeblichkeit“ machen müssen. Indem ein Kind manchmal etwas nicht (gleich) bekommt, lernt es, in gemischten Gefühlen zu denken und aus dem Schema des Schwarz-Weiß-Denkens herauszufinden. Das ist ein wichtiger Reifeschritt, der im späteren Erwachsenenleben viele Vorteile hat, zum Beispiel im Treffen von Entscheidungen. Auf der Basis einer sicheren Bindung kann ein angemessenes „Nein“ sogar helfen, einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt zu machen. Nicht zuletzt erlangt das Kind hierdurch auch eine gesunde Frustrationstoleranz.

In diesem Prozess ist es wichtig, sich immer wieder gut in das Kind einzufühlen und ihm seine Gefühle zu spiegeln. Kinder können erst ab dem fünften Lebensjahr ihre Gefühle allmählich selbst regulieren. Werden sie damit wiederholt alleingelassen, erschwert das die Emotionsregulation, was häufig zu unerklärlichen Gefühlsausbrüchen führen kann. Indem Eltern ihren Kindern Gefühle spiegeln, helfen sie ihnen, sie wahrzunehmen und einzuordnen. „Du bist gerade wütend, mein Schatz! Mama/Papa versteht dich, Mama/Papa ist bei dir …“ Solche und ähnliche Sätze helfen dem Kind und bringen das Gefühlschaos wieder zur Ruhe.

Spielen und Spaß haben

Johann ist jetzt drei Jahre alt. Er liebt es zu spielen und hat eine ausgeprägte Fantasie. Mama und Papa helfen ihm, in ein Spiel hineinzufinden, um ihn dann auch wieder vergnüglich allein spielen zu lassen. Manchmal sitzen sie auf dem Fußboden des Kinderzimmers, spielen mit Playmobil und Mama oder Papa denken sich dabei viele Geschichten aus. Johann liebt es, wenn die Eltern ihn in seiner Fantasiewelt anregen und abholen. Jeder Gegenstand beginnt zu leben: Der Ball wird Dickie, ein Buntstift ist Olga und eine Zahnbürste ist Jolante. Am Abend fällt das Zähneputzen gar nicht schwer, denn Jolante ist neugierig und möchte gern Johanns Zähne sehen.

Kinder haben in diesem Alter eine ausgeprägte Fantasie, die ihnen dabei hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Diese Fantasiewelt ernst zu nehmen und sie darin abzuholen bzw. anzuregen, ist sehr hilfreich und kann auch genutzt werden, um brenzlige Situationen im Alltag zu entschärfen, wie zum Beispiel das Zähneputzen oder Schuheanziehen.

Kindergartenkinder wie Johann lieben das Rennen, Balancieren und Klettern. Neben den körperlichen entwickeln sich auch die kognitiven Fähigkeiten. Kinder lernen, sich immer besser auszudrücken. Die beste Unterstützung dieser Fähigkeiten ist das Vorlesen – am Abend, aber auch zwischendurch.

Lob und Anerkennung

Mit fünf Jahren ist Johann nun schon richtig selbstbewusst. Er weiß, was er möchte, und kann das seinen Eltern mitteilen. Mama und Papa haben entdeckt, dass Johann sehr musikalisch ist. Er wünscht sich eine Geige und möchte gemeinsam mit den Eltern musizieren. Sie bestärken ihn darin und zeigen ihre Freude darüber. Auf solche Weise wird das Bedürfnis nach Autonomie, zu dem auch Identität und Kompetenz (Selbstwert und Anerkennung) gehören, gestärkt. Auch beim Fußballspielen mit Papa wird dieses Bedürfnis immer wieder befriedigt; denn Papa staunt jedes Mal über Johanns Geschicklichkeit mit dem Ball.

Resilienz durch Spiel und Spaß

Inzwischen geht Johann gern zur Schule. Er hat Freunde gefunden, mit denen er sich häufig trifft. Einmal in der Woche ist Geigenunterricht. Mama und Papa sorgen dafür, dass Johann neben den Schulaufgaben und dem Geige-Üben genug Zeit findet, um seinem Bedürfnis nach Spiel und Spontaneität nachgehen zu können. Das macht Kinder stark und fördert ihre Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Kinder brauchen für ihre seelisch gesunde Entwicklung genug Ruhezeiten, in denen sie ganz bei sich selbst sein dürfen.

Bedürfnisse und schlechte Gefühle

Die Bedürfnisse sind ein Schlüssel zur Gefühlswelt unserer Kinder, denn hinter schlechten Gefühlen oder auch hinter auffälligen Verhaltensweisen stecken immer ungestillte Bedürfnisse. Indem wir auf die Bedürfnisse achten, sie benennen und anerkennen, können wir uns selbst und unsere Kinder besser verstehen lernen. Oft sprechen wir von „schwierigen Kindern“ und geben ihnen damit einen Stempel. Erkennen wir das Bedürfnis hinter einem offensichtlich auffälligen Verhalten des Kindes, können wir angemessen helfen.

Marshall Rosenberg, der Begründer der gewaltfreien Kommunikation GFK, zeigt Strategien auf, die besonders in konfliktreichen Situationen sehr hilfreich sind: In einem ersten Schritt ist es wichtig, auszusprechen, was ich als Erwachsener sehe, ohne dies zu bewerten. Im zweiten Schritt geht es darum, das Gefühl in der jeweiligen Situation zu benennen – das eigene oder das des Kindes. Im dritten Schritt hilft es, das Bedürfnis der Beteiligten zu verbalisieren. Ein vierter Schritt in der GFK ermutigt dazu, eine Bitte des Erziehenden zu äußern. Hiermit wird ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis erfüllt: das Bedürfnis nach Freiheit im Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen. Diese Freiheit führt dazu, dass Kinder einen positiven Zugang zu sich selbst und zu ihren Gefühlen finden.

Unsere Kinder müssen übrigens nicht immer mit uns einer Meinung sein! Sie haben auch das Recht, Nein zu sagen. Dadurch nehmen sie nicht gleich eine Herrscherrolle in der Familie ein. Stattdessen entwickelt sich ein respektvoller Umgang im Miteinander, der die Selbstwirksamkeit fördert und das Bedürfnis nach Autonomie stillt.

In dem Beispiel von Johanns Entwicklung sehen wir, was Kinder brauchen. Natürlich läuft es nicht immer perfekt im oft stressigen Alltag. Da hilft es zu wissen: Auch Eltern dürfen Fehler machen! Ja, diese sind normal und sogar wichtig; denn hierdurch können Kinder lernen, wie man sich verhalten sollte, wenn man etwas falsch gemacht hat. Fehler anzuerkennen und sich dafür bei den Kindern zu entschuldigen, stärkt die Beziehung im Miteinander, schafft einen noch engeren Zusammenhalt und ein positives Familienklima.

Auch Erwachsene haben Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Daher ist ein achtsamer Umgang mit den Kindern genauso wichtig wie der achtsame Umgang mit sich selbst.

Dorothea Beier ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Selbstbehauptungs- und Resilienztrainerin, Spiel- und Bewegungstrainerin sowie Coach für Kinder und Jugendliche. Sie lebt und arbeitet in Uelzen. www.praxis-dbeier.de

Offene Kommunikation statt Zwickmühle und Opferrolle

In der Paarkommunikation können sich schädliche Muster einschleichen. Eheberater Marc Bareth empfiehlt: Lieber konstruktiv gestalten als in die Opferrolle flüchten

Fußball ist ein großes Thema im Hause Müller. Irgendein Spiel läuft immer und Michael schaut gerne zu. Seine Frau Maike hält das für Zeitverschwendung. Nun steht Michaels Lieblingsverein überraschend im Champions League-Achtelfinale. Ein Freund hat Michael zum gemeinsamen Fernsehabend eingeladen. Michael weiß, dass die Lieblingstante von Maike an diesem Abend ihren Geburtstag feiert. Also fragt er seine Frau: „Schatz, ich weiß, dass wir bei deiner Tante eingeladen sind, aber heute Abend ist auch das Achtelfinale, kannst du nicht alleine gehen?“

Die Opferrolle delegiert und gewinnt

Michael schafft mit dieser Frage eine Situation, in welcher seine Frau nur verlieren kann – eine Zwickmühle. Er weiß, dass ihr die Tante wichtig ist und dass diese enttäuscht sein wird, wenn Maike alleine kommt. Wenn seine Frau nachgibt, hat er sein Ziel erreicht. Wenn seine Frau hingegen darauf besteht, dass er mitkommt, wird Michael seine Rolle als Opfer zelebrieren. In dieser kann er dann missmutig sein, sich ungerecht behandelt fühlen und Wiedergutmachung nach dem Motto: „Ich durfte ja schon nicht Fußball schauen“ einfordern. So oder so also ein Gewinn für Michael.

Das Opfer delegiert die Entscheidung, damit es Opfer bleiben kann. Ein solches Verhalten ist nicht geschlechterspezifisch und kommt in allen möglichen Lebenssituationen vor, in denen sich zwei unterschiedliche Bedürfnisse gegenüberstehen. Das kann Themen wie Finanzen, Sexualität, Ferien, Familienplanung oder viele andere betreffen. Immer nach dem Leitsatz: Du entscheidest und ich darf unzufrieden sein – ein Dilemma in der Kommunikation und in der Beziehung.

Michaels Opferverhalten ist recht offensichtlich, aber manche stellen es so geschickt an, dass man es kaum wahrnimmt. Tatsache ist, dass es in vielen Beziehungen vorkommt. Wer es durchschaut und durchbricht, wird mit einer für beide Seiten befriedigenderen Partnerschaft belohnt.

Konstruktiv gestalten statt erleiden

Wie könnte Michael die Situation besser angehen um schädliche Kommunikationsmuster zu durchbrechen? Indem er die Entscheidung nicht ganz an seine Frau delegiert. Er sollte seine Bedürfnisse äußern, dann aber auch einen konstruktiven Vorschlag machen, wie sie damit umgehen könnten. Zum Beispiel so: „Schatz, ich weiß, dass wir heute bei deiner Tante eingeladen sind. Ich würde trotzdem gerne Fußball schauen, weil mich dieses Spiel sehr interessiert. Die Party beginnt ja schon um sieben. Ich schlage vor, dass wir zusammen zu deiner Tante gehen und ich mich gegen neun dort verdrücke. Was meinst du? Ist das für dich denkbar oder hast du einen anderen Vorschlag, wie wir beides unter einen Hut bringen können?“

Marc Bareth und seine Frau stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. 2020 ist sein Buch „Beziehungsstark“ erschienen. Er bloggt unter familylife.ch/five.

 

Stolperfalle Harmonie

Harmonie ist grundsätzlich etwas Gutes. Wenn Konflikte aber unter den Teppich gekehrt werden, kommen Menschen ins Stolpern. Von Sandra Geissler

Vor einiger Zeit telefonierte ich mit einer Mutter aus der Schule, um eine Verabredung abzusprechen. Zum Abschied rief sie fröhlich ins Telefon: „Aber immer doch, wir sehen diesen Schatz so gern bei uns! Das ist das einzige Kind, mit dem es wirklich nie Streit gibt. Man merkt gar nicht, dass Besuch da ist!“

Ich legte auf mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unbehagen. Eigentlich ist so ein pflegeleichtes Kind ja wunderbar. Ein Kind, dass sich überall so problemlos einfügt, dass man es gern zu Gast hat. Andererseits wurde mir schlagartig mulmig im Bauch. Ich kenne mein Kind und weiß, dass es sehr wohl potenzielle Konflikt- und Streitsituationen an solchen Spielnachmittagen gibt. Sie fallen nur nicht weiter auf, denn das Kind gibt stets nach und scheut den Konflikt. Sein Bedürfnis nach Harmonie wiegt nahezu immer stärker als der Anlass eines Streites. Mir ist dieses Verhalten wohlvertraut, denn ich bin selbst ein äußerst harmoniebedürftiger Mensch und lasse kaum eine Gelegenheit aus, einen ordentlichen Streit zu vermeiden. Ich freue mich nur sehr bedingt, dass ich diese Eigenschaft offensichtlich mit meinem Kind teile.

EINE EINZIGE STOLPERFALLE

Das Bedürfnis nach Harmonie ist erst mal nur das Bedürfnis nach Einklang, Einvernehmen, nach Eintracht und friedlichem Miteinander. Genau das sind die Bedeutungen des griechischen Wortes „harmonia“. Warum also jubelt mein Mutterherz nicht umgehend, wenn das eigene Kind dieses Bedürfnis in ausgeprägtem Maße hat? Hauptsächlich liegt es wohl daran, dass das Harmoniebedürfnis dazu neigt, sich schlechten Umgang zu suchen. Dann spaziert es mit seinen Freunden Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugnung durch die Lande, und gemeinsam kehren sie emsig alles unter die Teppiche des Lebens, was ihnen an Auseinandersetzungen und Ärgernissen begegnet. Das kann lange gutgehen, und das Leben wirkt hübsch aufgeräumt.

Doch zum einen sind all die Ärgernisse und Auseinandersetzungen nicht einfach verschwunden. Sie schwären leise vor sich hin, nur eben unter dem Teppich. Zum anderen werden die Falten der Teppiche immer höher und steiler von all dem Kehricht, der darunter versteckt wurde. Dann ist das Leben irgendwann eine einzige Stolperfalle. Es sind diese Stolperfallen, die Beziehungen aller Art in ernsthafte Schwierigkeiten und im schlimmsten Fall tatsächlich zu Fall bringen können.

ZUM KLINGEN KOMMEN

Sollte man sich und allen anderen das Bedürfnis nach Harmonie also schnellstmöglich abgewöhnen? Die Bibel gibt mir in solchen Lebensfragen hilfreiche Orientierung. Sie ruft immer wieder zu Eintracht, Vergebung und Sanftmut auf – das finde ich in den Psalmen von David und in den Gleichnissen von Jesus. Auch Paulus schrieb sich in seinen Briefen die Finger wund, um die frühen Gemeinden zu einem harmonischen Zusammenleben zu ermutigen. Die wörtliche Übersetzung von „harmonia“ aus dem Altgriechischen bezeichnet die Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen. Der Zusammenklang der Verschiedenheiten ergibt im günstigen Fall ein harmonisches Ganzes, bei dem sich alle Beteiligten ernst genommen und wohl fühlen. In diesem Sinn bedeutet Harmonie gerade nicht, dass sich einer oder mehrere ganz zurücknehmen, ihre Bedürfnisse hintanstellen und Streit und Konfliktthemen ausgeblendet werden. Vielmehr geht es darum, einen guten gemeinsamen Weg zu finden, bei dem alle zum Klingen kommen dürfen. Das wäre ein echtes harmonisches Zusammenleben, und danach will ich mich gern sehnen. Diese Sehnsucht macht das gemeinsame Auseinandersetzen mit allen Verschiedenheiten sogar notwendig, damit dem Ganzen am Ende nicht ein wichtiges Teil fehlt. Wenn uns die Bibel zu einem harmonischen Umgang miteinander aufruft, dann macht sie das in dem Wissen, das aus all ihren Teilen spricht: das Wissen um menschliche Begrenztheit und Eitelkeiten, um Schwächen und Eigenheiten. Auf dem Weg zur Einheit muss man sich nicht an die Gurgel gehen, den rechten Glauben absprechen oder gleich die ganz harten Geschütze auffahren. Oder wie meine Mutter meinte, die immer gern den alten Goethe zitierte: „Kinder, liebet einander. Und wenn das nicht geht, dann lasset wenigstens einander gelten.“

DAS RECHTE GLEICHGEWICHT

Auseinandersetzung auf dem Weg zur Einheit braucht Respekt, Barmherzigkeit und jede Menge Gnade. Sie erkennt an, dass das Gegenüber anders denkt, anders tickt, anders fühlt. Es ist kein Kampf um Sieg oder Niederlage, sondern ein wechselseitiges Entgegenkommen, ein Abwägen und gemeinsames Suchen um das rechte Gleichgewicht. Das ein oder andere Mal kann ich nachgeben, weil es mir nicht wirklich viel bedeutet, bei anderen Fragen will ich gehört werden.

Die harmoniebedürftige Mutter eines harmoniebedürftigen Kindes braucht kein mulmiges Gefühl zu haben. Harmonie ist etwas Großartiges, sie gibt der Verschiedenheit Raum und sucht Wege, wie wir alle gut zusammenklingen können. Darum werde ich nicht müde, mein Kind und mich selbst immer wieder zu ermutigen, zu den eigenen Bedürfnissen und Herzensanliegen zu stehen und für sie einzutreten. Das Erlernen von Streitkultur ist nicht nur eine Aufgabe für die konfliktbereiten Krakeeler, sondern gerade auch für die harmoniebedürftigen Stillen. Weil das aber viel Überwindung kostet, üben wir in kleinen Schritten. Weiß ich von einem Konfliktthema oder andauernden Ärgernis, überlegen wir zusammen, wie das Anliegen in gute Worte gefasst und zu Gehör gebracht werden kann. Wir wachsen an kleinen Erfolgen, denn überraschenderweise ziehen sich die wenigsten Menschen beleidigt zurück oder kündigen gar die Freundschaft, bloß weil das Gegenüber eine eigene Meinung vertritt. Nur vom schlechten Umgang müssen wir uns immer wieder bewusst verabschieden. Die Kumpels Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugner sind keine Freunde echter Harmonie, denn sie kehren mit den Konflikten auch die Gegensätze unter den Teppich. Und die braucht es doch für das gemeinsame Ganze.

Sandra Geissler ist katholische Diplom-Theologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

Findet euren eigenen Weg …

… aber bitte den richtigen!

Seit 14 Jahren bin ich Mutter, seit 10 Jahren arbeite ich bei Family. In dieser Zeit hat sich einiges geändert. Bei meinem ersten Kind wurde ich noch gewarnt: „Lass es bloß nicht in deinem Bett schlafen!“ Heute hören junge Eltern das Gegenteil: „Was, dein Kind schläft im eigenen Bett? Etwa noch im eigenen Zimmer? Geht gar nicht!“

Letztens las ich einen Blogbeitrag, in dem die Autorin über eine Freundin schrieb. Die hatte mit ihrem Kind das Programm „Jedes Kind kann schlafen lernen“ durchgezogen. Ja, man kann sehr unterschiedlicher Meinung sein über dieses Programm. Aber die Art und Weise, wie diese Mutter heruntergemacht wurde, hat mich sehr erschreckt.

Das Mantra vom „eigenen Weg finden“, das überall zu lesen und zu hören ist, findet nämlich ganz schnell sein Ende, wenn der eigene Weg anders ist als der allgemein akzeptierte. Zurzeit stehen Bedürfnisorientierung, Attachment Parenting, langes Stillen und das Tragen von Babys hoch im Kurs. Das finde ich gut. Endlich ist Schluss mit der Angst früherer Generationen, man würde das zwei Wochen alte Baby „verwöhnen“ oder „verziehen“, wenn man es zu oft auf den Arm nimmt. Aber wer sich dem Attachment Parenting, der bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehung, verschreibt, sollte nicht nur seinem Baby gegenüber liebevoll sein, sondern auch seinen Mitmenschen – und vor allem den Mitmüttern.

Und es scheint in der Tat ein Mütterproblem zu sein. Von Vätern liest man solche verächtlichen Beurteilungen anderer Väter nicht. Wahrscheinlich sind Väter weniger perfektionistisch. Mütter landen schnell in der Falle, alles richtig machen zu wollen. Und da wird jede, die es ganz anders macht, als Angriff empfunden. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahren leider nicht viel geändert …

Bettina Wendland ist Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.