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Ein „normales“ Zuhause?

Ein Gastbeitrag von Cyra Maurer

Was mich in letzter Zeit immer wieder beschäftigt, ist unser Zuhause. Lange Zeit habe ich es als völlig normal empfunden: Wir wohnen als Familie in einem schmalen Reihenmittelhaus am Waldrand, mit ganz normalem Garten, in einem ganz normalen Ort. Also alles nicht weiter auffällig – dachten wir …

Doch seit mehreren Jahren sind wir Gastfamilie und haben unser Haus für Menschen aus aller Welt geöffnet. Und seit mehreren Jahren spazieren nun Menschen aus den verschiedensten Ländern hier ein und aus. Und plötzlich sehen wir unser Haus jedes Mal mit anderen Augen.

Da kommt der Koreaner und staunt: „Oh, so viel Platz! Und sogar mehrere Stockwerke! Wahnsinn!“ Und der Amerikaner denkt sich: „Nettes kleines Ferienhaus. Bei uns ist das Elternschlafzimmer so groß wie euer ganzes erstes Stockwerk.“

Beim Garten das Gleiche. Da kommt der Chinese und ruft erfreut: „Ihr habt einen echten Garten! Unglaublich! Ich war in meinem Leben noch nie in einem Haus mit Garten. Darf ich mal Rasen mähen? Das war schon immer mein Traum.“ Und dann kommt die Afrikanerin, deren Farmgrundstück halb so groß wie unser Dorf ist, und lächelt bei dem niedlichen Anblick von unserem „Grünstreifen“. Anschließend fragt sie, welche großen Tiere im Wald hinter unserem Haus leben (Elefanten, Löwen, Schlangen?), während die Japanerin bei jedem noch so kleinen Insekt laut aufschreit, weil es bei ihr in der Großstadt überhaupt keine Tiere gibt.

Innen denkt sich der Amerikaner: „Wow, nicht nur Badewanne, sondern sogar eine extra Dusche!“, während die Japanerin die beheizte Metallbadewanne für das tägliche Abendbad vermisst. Der Peruaner bewundert die Spülmaschine und den Backofen, der Chinese hält den Drehschrank für eine geniale Erfindung und liebt es zuzusehen, wie die Töpfe sich drehen.

Beim Essen geht es weiter. Der Amerikaner ist es gewohnt, außer Haus zu essen (Frühstück kaufen, im Auto essen. Mittagssnack kaufen, unterwegs essen.) und staunt, dass wir als Familie zu den Mahlzeiten täglich am Esstisch zusammenkommen. Der Franzose versteht nicht, warum wir immer „so schnell“ wieder aufstehen und nicht noch viel länger gemütlich sitzen bleiben wollen.

Die Amerikaner und Asiaten können nicht glauben, dass wir die Sommer ohne Klimaanlage überleben. Der Kanadier kann es nicht fassen, dass wir ohne Kamin im Winter nicht erfrieren.

Abends will die Afrikanerin aus Sicherheitsgründen am liebsten alles nach innen holen und ist irritiert, dass wir keinen elektrischen Zaun um das Grundstück und keine Alarmanlage im Haus haben. Und der Kanadier verliert unseren Haustürschlüssel und meint: „Ist doch nicht schlimm, oder?“, weil bei ihnen im Dorf nie eine Tür abgeschlossen wird. Ja, in Montana, USA, lassen sie sogar die Haustür extra weit offen, wenn sie in den Urlaub fahren, damit die Katzen in der Zeit immer rein und raus können. So friedlich kann es sein …

Und dann kommen die Flüchtlingsfrauen und die minderjährigen Jungs zum Deutschunterricht zu uns. Und sie erzählen von einfachen Hütten, die ihr Zuhause waren, von zerbombten Häusern, die sie verlassen haben, oder von den Containern, in denen sie jetzt leben und wahrscheinlich noch lange leben werden.

Und plötzlich wird mir bewusst: Unser Zuhause ist nicht normal. Wir leben in einem Paradies. Und wir haben so viel mehr an Platz und Wohlstand und Chancen, dass das gar nicht für uns allein gedacht sein kann. Oder?

Shit happens

Was ein gestürzter Apfelkuchen alles auslösen kann. Von Elisabeth Vollmer.

Ich hatte grade einen richtigen Flow und fühlte mich supergut! Vor dem Gottesdienst hatte ich die Idee, meinen Eltern einen spontanen Besuch abzustatten. Das machen wir selten, so ganz ohne Anlass. Aber irgendwie passte es grade rein. Und schließlich werden meine Eltern älter, und wer weiß, wie lange wir einander noch haben. Mein Mann war auch dafür, und so knetete ich vor dem Gottesdienst noch schnell einen Mürbeteig zusammen. Nach dem Gottesdienst waren dann auch unsere Teens wach und erstaunlicherweise willig, sich dem Spontanbesuch anzuschließen. Das bewog mich dazu, den geplanten gedeckten Apfelkuchen noch mit einer Vanillecremefüllung aufzupeppen. Die von meinem Mann geliebten Mandelsplitter vervollständigten das köstliche Werk.

Ich war also, wie gesagt, so richtig im Flow, als ich auf dem Weg war, das duftende Gebäck auf die Terrasse zum Abkühlen zu bringen. Wie es dann genau passierte, entzieht sich meiner Erinnerung (Verdrängung? Schock?). Jedenfalls schaffte ich es, mit einem Kuchen den maximalen Sauereifaktor zu erzielen. Das Parkett, der Teppichboden, die Balkontür und nicht zu vergessen meine Jeans (Aua! Heiß!): alles voll. Nur ein kleiner Rest befand sich noch in der Form. Mein Flow verwandelte sich im Sturzflug in einen Abgrund. Ich wusste nicht, ob ich heulen oder schreien sollte. Es waren nicht vor allem die Sauerei und der nicht mehr vorhandene Prachtkuchen, die mir zu schaffen machten. Es war das peinlich-kindische Gefühl, dass das so nicht fair war. Dass ich so sehr das Gefühl gehabt hatte, dass jetzt alles genau so richtig ist – und dass Gott dann doch bitte dafür hätte sorgen können, dass mir diese Form nicht aus den Händen fällt.

Glücklicherweise passiert mir solch ein Kuchen-Missgeschick sehr selten. Aber das Gefühl, dass ich mein Bestes gebe und das Resultat dann trotzdem unterirdisch sein kann, kenne ich leider auch aus anderen Alltagssituationen. Ich weiß: Das Leben ist keine berechenbare Matheaufgabe. Meine Illusion, dass bei optimalem Input zwangsläufig auch ein entsprechender Output die Folge sein müsste, hält sich trotzdem hartnäckig – und manchmal stimmt es ja auch. Aber, wie eine Freundin sagt: „Shit happens“. In jedem Leben, immer wieder, auch in meinem. Das ist ärgerlich, aber normal – und kein Anlass, mich oder Gott in Frage zu stellen. Und so ist mir dieser „Trümmerkuchen“ Anlass geworden, wieder neu Gelassenheit darin zu üben, dass das einfach so ist. Meine Jeans ist inzwischen gewaschen. Balkontür und Parkett waren schnell wieder sauber, mit dem Teppichboden war es etwas kniffliger …

An besagtem Sonntag hat mein Mann jedenfalls den Kuchen vom Boden weitgehend abgekratzt. In einer Schüssel haben wir ihn zu meinen Eltern mitgenommen. Wir hatten einen richtig schönen Nachmittag zusammen. Der Kuchen war so lecker, wie er vor dem Unfall aussah. Eigentlich gab es gar keinen Grund, mich in den emotionalen Abgrund zu stürzen. Shit happens – und das ist ganz normal!

Bildschirmfoto 2016-02-18 um 10.14.41Elisabeth Vollmer ist Religionspädagogin
und lebt mit ihrer Familie in Merzhausen
bei Freiburg.

Baustelle Familie

Jede Familie hat ihren eigenen Charakter, eigene Prägungen und Strukturen. Auch die Familie von Stefanie Diekmann.

Splitter einer Unterhaltung wirken in mir nach: Wie habe ich mir Familie gedacht, als mein erstes Kind kam? Ich war Studentin und hatte wenig Vorstellungen von Familie. Ich habe viel beobachtet: Wie leben Eltern? Was will ich? Was passt zu mir?
Ich hatte mir vorgenommen, es müsse so weitergehen wie vorher. Schon vor 16 Jahren gab es den blöden Trend, dass Frauen fix wieder in die alte Jeans passen, kurz nach der Geburt wieder shoppen gehen (und dafür auch abstillen) und das alte Leben wenig unterbrechen lassen.
Dann kam Timna: wunderbare Prinzessin auf der Erbse. Sie beklagte den unsanften Weg ins Leben, in das sie vier Wochen zu früh geholt wurde, und ich auch: Ich fühlte mich plötzlich allein. Ich spürte: Jetzt bin ich definitiv erwachsen. Und für diese Maus verantwortlich. Klar, mit Henrik zusammen. Aber wenn er nicht da ist, dann …
Ich kann Mamas sehr gut verstehen, die sich allein fühlen, denen ein Tag zu lang vorkommt. Aber ich bin sicher: Dass ich aus dieser Schrecksekunde ins Muttersein gewachsen bin, das ist meine Top-Errungenschaft bis heute! Ich habe es geschafft! Trotz blutender Nasen, Niveacreme im Wohnzimmer, Einkaufen mit drei Kindern, gescheiterten Diäten, abgebrochenen Sportkursen, gemeisterten Ehekrisen – ich bin Mummy!
Die ersten fünf Monate war ich am Limit. Nach außen lächelnd und in die alte Hose passend, zu Hause aber dann Tränen, Wut und Hilflosigkeit. Warum fühle ich mich so eingeengt? Bin ich zu egoistisch? Wenn ich nachts um zwei, vier und sechs Uhr stillte, hatte ich das Gefühl, ich bin die Einzige, die nachts wach ist.
Als wir ein Jahr Familie waren, haben wir angefangen, mehr über unsere Strukturen nachzudenken: Wo und was essen wir? Wie verbringen wir bewusst Zeit mit Timna? Unser Familiengefühl entstand. Nichts, was sich vorher absprechen und klären ließ. Nichts, was planbar ist. Aber immer motiviert von anderen Familien mit Ausstrahlung, von Büchern oder Vorträgen.
Familie geht nicht einfach bei uns – Familie ist Arbeit. Ich muss meine Herkunftsfamilienerfahrung ablegen und offen sein für das, was sich in meiner kleinen Familie entwickelt. Mir ist zum Beispiel bis heute wichtig, dass Kinder nicht tricksen oder die Eltern beschummeln. Anderen Eltern ist das total egal: Sie sind dem Charme des Keks stibitzenden Jungen jedes Mal erlegen. In meiner Familie ginge das nicht, und ich spüre: Familie ist ein sehr persönliches Konstrukt. Das Betrachten anderer Familien hat mir geholfen, meinen Stil zu finden, mich hinterfragen zu lassen, mich aufzuwecken. Dazu gehört auch die Offenheit, seine Ansichten nicht als Weltweisheit zu empfinden. Meine Familie ist eine Baustelle – noch immer.
Wenn ich an die ersten fünf Jahre Familien-Tapsschritte denke, fällt mir Folgendes ein:
Badezimmerfeste, Vorlesestunden, müde sein zum Umfallen, Fassungslosigkeit über so viel Chaos, zur Kindermusik von Kallauch und Jöcker singen und tanzen, jeden Tag raus, Blätter suchen, rennen, Tiere ansehen, mit Gott sprechen, immer weniger Tütenessen, immer mehr bewusstes Kochen, Gemütlichkeitshosen, Segnen am Bett und vor dem Kiga, Sonntagsessen mit vielen Menschen, Tränen und Wutausbrüche bei Mutter und Kindern, „Nein“ und „Stopp“ lernen, Warten auf den Pastoren-Mann, Kuschelalarm im Ehebett …
Und deine Entwicklung zur Familie?