Schnelle Hilfe in Krisensituationen

Die im April 2017 geänderte Psychotherapie-Richtlinie soll die Erreichbarkeit von Psychotherapeuten verbessern. Das ermöglicht schnellere Hilfe bei akuten Problemen. „Diese Akutbehandlungen sichern aber noch nicht automatisch eine kurze Wartezeit für einen Therapieplatz“, erklärt der Psychologe Ralf Dohrenbusch im Interview. Er ist Leiter der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz des Instituts für Psychologie der Universität Bonn und Autor des Ratgebers „Psychotherapie“ der Verbraucherzentrale.

Herr Dohrenbusch, stimmt es, dass psychische Erkrankungen „boomen“? Wie viele Menschen in Deutschland leiden an einer psychischen Störung?
Grob geschätzt kann man sagen, dass fast jeder Zweite in Deutschland irgendwann im Laufe seines Lebens einmal von einer psychischen Störung betroffen ist. Das bedeutet aber nicht, dass alle auch behandelt werden müssen. Viele psychische Störungen bilden sich von selbst wieder zurück, wir sollten sie nicht automatisch als behandlungsbedürftige „Krankheiten“ ansehen.

Die im April 2017 geänderte Psychotherapie-Richtlinie definiert neue Leistungsangebote und soll die Erreichbarkeit von Psychotherapeuten verbessern. Was sind die wichtigsten Neuerungen?
Patienten haben nun einen Anspruch auf eine psychotherapeutische Sprechstunde, in der geklärt werden soll, ob der Verdacht auf eine behandlungsbedürftige psychische Störung besteht. Erst nach diesem Orientierungsgespräch können sie – wenn erforderlich – weitere Behandlungen in Anspruch nehmen. Die Abrechnungsmöglichkeiten für Gruppentherapien wurden verbessert, sodass in Zukunft wahrscheinlich mehr Gruppentherapien angeboten werden. Für kürzere Therapien müssen Therapeuten keine Anträge mehr schreiben und begutachten lassen, um die Kostenübernahme durch die Krankenkasse zu sichern. Und sogenannte Langzeittherapien werden nun gleich mit 60 statt bisher mit 45 Sitzungen veranschlagt.

Ist unbürokratische Hilfe bei akuten Problemen oder in Krisensituationen ab sofort besser möglich?
Zumindest die Rahmenbedingungen wurden so verändert, dass bei akuten Problemen schnellere Hilfe möglich wird. Die sogenannte Akutbehandlung soll Betroffene in Krisensituationen kurzfristig entlasten und einer Verschlimmerung vorbeugen. Vermutlich führt dieses Angebot dazu, dass in Zukunft Psychotherapeuten auch häufiger bei stärkeren emotionalen Reaktionen auf normale Belastungssituationen wie Trennungen oder familiäre Konflikte in Anspruch genommen werden, auch wenn keine psychische Störung im engeren Sinne vorliegt.

Hat die neue Richtlinie Einfluss auf die oftmals lange Wartezeit für einen Therapieplatz?
Das wissen wir noch nicht. Die verpflichtende Sprechstunde soll sicherstellen, dass jeder mit psychischen Problemen zeitnah Kontakt zu einem Psychotherapeuten aufnehmen kann. Ein erstes Kontaktgespräch und auch die Möglichkeit einer Akutbehandlung sichern aber noch nicht automatisch eine kurze Wartezeit. Wir müssen abwarten, wie die Ideen der Reformer von den Therapeuten umgesetzt werden.

In welchen Fällen kommt eine Psychotherapie in Frage? Welche Alternativen gibt es bei psychischen Problemen?
Jeder kann eine Psychotherapie erwägen, der nicht oder nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, belastende Denk- und Verhaltensweisen oder Gefühle zu regulieren. Normalerweise sollte man schon Anstrengungen unternommen haben, um die psychische Not zu lindern, bevor man eine Therapie ins Auge fasst. Wenn die eigenen Bemühungen gescheitert sind, kann es sinnvoll sein, sich eine Therapeutin oder einen Therapeuten zu suchen. Alternativen zur Psychotherapie der Krankenkassen gibt es in Deutschland bei psychischen und sozialen Schwierigkeiten auch durch städtische oder konfessionelle Beratungsstellen.

Wie erkennt man unseriöse Angebote?
Unseriöse Anbieter haben sich häufig darauf spezialisiert, einen schnellen und intensiven Kontakt zu ihren Kunden herzustellen, unrealistisch hohe Erwartungen an einen Behandlungserfolg aufzubauen und ihre Kunden frühzeitig in eine emotionale Bindung zu sich zu bringen. So wird es den Hilfesuchenden erschwert, eigene kritische Entscheidungen zu treffen und sich für andere Angebote zu entscheiden. Problematisch sind esoterische Angebote, Angebote mit hohen Anteilen an magischspiritistischem Denken, symbolischen Ritualen oder Ankündigungen von Wunderheilungen. Leider lassen sich manche Anbieter – auch im Internet – immer wieder neuen Quatsch einfallen, von dem sich psychisch labile Personen einfangen lassen. Zurückhaltung ist  auch bei überhöhten Preisen geboten, also bei deutlich mehr als 80 Euro pro Stunde.

Psychotherapie ist ein sensibler Bereich. Stichwort Datenschutz: Wie sorgsam wird mit den persönlichen und vertraulichen Themen umgegangen?
Die Therapeuten unterliegen der Schweigepflicht, können davon aber vom Patienten entbunden werden. Innerhalb des Versorgungssystems der Krankenkassen wird sorgsam und verantwortungsvoll mit persönlichen Daten umgegangen. Die Abläufe sind so organisiert, dass außer dem Behandler kein anderer Einblick in die Details der Probleme und des Therapieverlaufs erhält. Patienten sollten sich aber bewusst sein, dass die Inanspruchnahme einer Psychotherapie im Archiv der Krankenkasse gespeichert ist. Wer später eine Lebens- oder  Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen und dazu Auszüge aus seinen Krankenkassendaten vorlegen muss, kann diese Therapieleistung nicht verheimlichen und muss eventuell mit höheren Gebühren bei der neuen Versicherung rechnen.

Hat die Neuregelung Einfluss darauf, wie in Zukunft psychotherapeutisch behandelt wird?
Nein. Nach wie vor unterscheidet das Krankenkassen-Versorgungssystem verhaltenstherapeutische und tiefenpsychologisch begründete Behandlungsverfahren. Zwar werden durch die neuen Angebote eher kurzfristige stützende und auf Informationsvermittlung ausgerichtete Behandlungen stärker gefördert als längere beziehungsorientierte Therapien. Unabhängig davon sollten aber alle Patienten darauf achten, dass ihre Behandlung den Verlauf nimmt, den sie selbst für sinnvoll halten. Unverändert gilt, dass Patienten ihre Therapie immer auch aktiv mitgestalten und die relevanten Entscheidungen nicht allein ihrer Therapeutin oder ihrem Therapeuten überlassen.

Was kann man tun, wenn die Krankenkasse den Antrag auf Kostenübernahme ablehnt?
Wahrscheinlich werden die neuen Regelungen dazu führen, dass Anträge auf Therapien von Therapeuten ohne Kassenzulassung von den Krankenkassen häufiger abgelehnt werden. Bisher  konnten Patienten, die zeitnah oder wohnortnah keinen Therapeuten mit Kassenzulassung fanden, mit Begründung auf Therapeuten außerhalb des kassenärztlichen Versorgungssystems zugreifen. Das wird in Zukunft wahrscheinlich schwerer. Privatversicherte oder Selbstzahler sind davon nicht betroffen.
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