„Sei nicht kindisch, Mama!“

Wenn meine Kinder erwachsener sind als ich … Von Stefanie Diekmann

Das Regenwetter des Urlaubstages beschreibt genau meine Stimmung. Wir trotten als fünfköpfige Familie durch eine englische Kleinstadt und suchen etwas Essbares. Der Burgerladen, der uns empfohlen wurde, erweist sich als hübsch und hochpreisig. Während ich mich seufzend niedergelassen hätte, geht mein Mann konsequent wieder aus dem Laden, um etwas Preisgünstigeres zu suchen. Ich bin grummelig: „Alter Sparfuchs!“ In mir braut sich Ärger zusammen. Nie gönnen wir uns was … Da wir von unserem letzten Halbjahr erschöpft sind, ist der Ton zwischen uns eh rau. Rauer, als uns lieb ist. Wir zischen uns an. Die Kinder rollen mit den Augen. Naja, Kinder – wohl eher Teens und Jugendliche. Schon lange sind sie nicht mehr unser Auftrag, sondern eher Partner. Aber heute will ich keine Partner. Mit hungrigem Magen und einem Gefühlsbrei in mir will ich gar nichts mehr. Ich will meinen Mann doof finden und finde keinen Mut, ihm von meiner Enttäuschung zu erzählen. Besser gelingt es mir, rumzunörgeln.

UNFLÄTIG AUSFLIPPEN
Im Schnellimbiss habe ich keine Lust, mich anzustellen und auch nicht mit ihm zu reden. Mein sonst sehr entspannter Mann blitzt mit funkelnden Augen zurück und ruft nicht gerade freundlich die Bestellung ab. Als wir alle die ersten Pommes in den Mund schieben, eröffnen unsere Jugendlichen ein Gespräch: Sie weisen uns auf unseren kindischen Auftritt eben an der Kasse hin. Wir wehren uns eifrig, aber alle drei sind sich einig: So gefällt ihnen unser Verhalten nicht. Sie wünschen sich mehr Nähe und Respekt. So macht Familie keinen Spaß. Wir hätten es ihnen schließlich beigebracht, Dinge anzusprechen, zu klären und nicht zu motzen. In mir tobt eine Dreijährige, die unflätig ausflippen möchte. Ich bin sprachlos und ein bisschen zynisch, als ich antworte: „Ach, das müsst ihr uns jetzt sagen?“ – „Scheinbar ja, so wie ihr euch heute benehmt!“, bleibt unsere 18-jährige Tochter klar.

IMMER MEHR GEGENVERKEHR
Ich brauche mehr als einen Tag, um dieses Erlebnis zu verdauen. Wenn unsere Kinder mit uns Alltag leben, reibe ich mich an diesen Spiegelmomenten manchmal wund. So gut, wie ich die jungen Menschen kenne – oder meine sie zu kennen –, so sehr sind sie mit mir und meinen Ecken und Kanten vertraut. Auf der Einbahnstraße meiner Kommentare zu ihrem Verhalten herrscht mit zunehmendem Alter immer mehr Gegenverkehr. Meine 16- und 18-jährigen Töchter lassen meine Chaostage, meinen Zorn auf Menschen, meine nicht gut geplanten Besprechungen nicht unkommentiert. Oft habe ich dann das Gefühl, alles falsch zu machen. Ein Gefühl, dass Jugendliche und junge Erwachsene zu gut kennen. Das edle Vorrecht, erwachsen zu sein, ist mit Jugendlichen in der Familie hart umkämpft. Ich muss üben, es zu teilen. In meinen kindlichen Momenten ist mein Empfinden und Verhalten von alten Gefühlen und Erfahrungen gesteuert. Ich bin wie zurückgeworfen in die ersten Versuche, meine Schwächen zu meistern. Ich sitze perplex auf dem Boden. Eben noch in die Performance als Erwachsene vertieft, stolpere ich durch ihre Rückmeldungen vom Seil. Da kommen Kommentare, die sind nicht nett und nicht sorgsam abgewogen, sondern klar und verletzend. Ich bin verdutzt, wie sehr es mich aus dem Gleichgewicht bringt. Habe ich meinen Kindern das mitgegeben? Andere so zu bewerten?

DAS NÄCHSTE LEVEL
Uns helfen als Paar zwei Gedankenwege, um die Rückmeldungen unserer Kinder zu verarbeiten: 1. Was sagt mir mein verletztes Gefühl über mich? Welche Themen sind für mich immer wieder fordernd? Welches uralte Hindernis ist da gerade wieder aufgetaucht? 2. Was sagt die Rückmeldung über den jungen Menschen? Meine Tochter mag es nicht, dass ich an einem Schmerztag auf der Couch liege. Oft kommt nach einigen Wortgefechten heraus, dass sie selbst unter Strom steht und sich einen Tag Auszeit wünscht. Wenn ich mich dem „Sei nicht kindisch, Mama!“ meiner Jugendlichen verwehre, erreichen wir das nächste Level von Beziehung nicht. Ich möchte nicht die Instanz bleiben, die allein weiß, was gut und richtig ist. Möchte nicht drohen: „So redest du nicht mit deiner Mutter – ich weiß, was gut für dich und mich ist!“ Ein Vater berichtete mir einmal von solchen Momenten. Es brach aus ihm heraus, wie viel Kummer ihm die „Besserwisserei“ und die „Tipps“ seiner Jungs machen. „Meine Erfahrung ist nichts wert! Ich bin nur noch der, der Geld ranschafft. Sie wollen gar nichts mehr von mir! Im Gegenteil, ständig muss ich mir anhören: ‚Weiß ich, Papa! Du hast keine Ahnung, Papa!‘“ Jugendliche wollen mit ihrem Wissen über die Welt und das Leben selbstständig agieren und sehen Zusammenhänge weniger komplex und risikoreich. Das ist gesund und natürlich – sonst würde nie ein Jugendlicher etwas wagen. Diese Leichtigkeit wird den Eltern gern als: „Ich weiß und ich kann alles!“ vermittelt. Zeitgleich bewege ich mich in einer Lebensphase, in der weniger geht und ich weniger weiß. Ich brauche meine Jugendlichen zum Installieren von Apps, zum Lernen neuer Lieder für den Gottesdienst, zum Loslassen alter Deko-Objekte („Diese Tischdecken sind so 80er, Mama!“). Ich lasse los, werde verwundbarer – und sie erobern das Leben.

DEN KOPF WASCHEN
Menschen, die zu ihren erwachsenen Kindern gelingende Beziehungen haben, haben es geschafft, zusammen das Balancieren zu üben. Irgendwann wird die Phase der Schonungslosigkeit weichen, und unsere Jugendlichen werden milder werden – auch mit uns. Mein Mann und ich haben uns im England-Urlaub nach zwei Tagen übrigens bei unseren Kindern bedankt. Nicht jeder Hinweis und jeder Anraunzer kommt so reflektiert und berechtigt. Wir haben ihnen Mut gemacht, uns weiter den Kopf zu waschen und sie gebeten, uns auch mal zu loben. Lächelnd haben sie zugestimmt. In diesem Gespräch haben alle Kinder auf ihre Art ausgedrückt, dass sie unsere Ehe schätzen und es deshalb gar nicht mögen, wenn wir so kindisch sind. Das war doch schon mal ein Lob, oder?

Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.