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Warum Kinder Grenzen brauchen…

… und sie für uns Eltern noch wichtiger sind.

Von Anna Koppri

Wegen sowas muss man doch nicht weinen.“ „Jetzt stell dich nicht so an.“ „Iss deinen Spinat, die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen.“ „Weil ich das sage.“ „Nichts passiert, steh wieder auf.“ „Gib Opa einen Kuss.“ – Diese Liste könnte ich ewig fortführen. Als ich Kind war, gehörten solche Sätze in vielen Familien selbstverständlich zur Erziehung – genau wie körperliche Züchtigungen. Permanent wurde über uns Kinder und unsere Körper bestimmt. Die Erwachsenen wussten am besten, was gut für uns war und wie wir uns zu fühlen oder zu verhalten hatten. Man war der Überzeugung, dass Kinder erst zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssten. Sie sollten sich möglichst gut anpassen und wenig auffallen. Heute fällt es mir noch immer schwer, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, mich selbst ernst zu nehmen und meinen Empfindungen zu trauen.

Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen. Sie sollen frei ihre individuelle Persönlichkeit entfalten können und sich angenommen und geliebt wissen. Die intuitive Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse und ihre individuellen Emotionen möchte ich ihnen nicht abtrainieren. Trotzdem sollen sie mich als Autorität wahrnehmen, an der sie sich orientieren können und die im Zweifelsfall die Richtung vorgibt. Deshalb habe ich jede Menge Ratgeber über beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelesen, über Begleiten ohne Strafen und unverbogene Kinder. Doch weshalb fällt es mir oft so schwer, das alles in die Tat umzusetzen? Warum sage ich trotzdem Wenn-dann-Sätze und weiß mir manchmal nicht anders zu helfen, als mit Belohnung zu locken oder mit Einschränkungen zu drohen? Warum werde ich laut oder nutze meine körperliche Überlegenheit, um meine Kinder zu etwas zu bringen, das sie nicht wollen

Mehr Grenzen setzen

Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich die Rückmeldung von einer weisen Mutter, der ich vertraue, dass ich meinem willens- und gefühlsstarken Großen (damals 3) nicht genug Grenzen setzen würde. Zuerst war ich innerlich empört: „Ich will ihm ja auch gar keine Grenzen setzen!“ Doch dann habe ich mich auf eine Reise begeben zu Grenzen und zu mir, und ich habe erfahren, welche Art von Grenzen meine Kinder von mir brauchen.

Nora Imlau schlüsselt in ihrem Buch „Mein Familienkompass“ auf, wie unterschiedlich das Wort Grenzen von verschiedenen pädagogischen Strömungen gefüllt wurde und wird. In der autoritären Erziehung sind Grenzen Regeln, die Erwachsene mehr oder weniger willkürlich setzen und denen Kinder Folge zu leisten haben, um Disziplin zu erlernen.

In der autoritativen Erziehung werden Grenzen und Regeln gemeinsam mit den Kindern ausgehandelt. Sind sie einmal gesetzt, müssen sie eingehalten werden, um dem Kind Halt und Orientierung zu geben. Ausnahmen gibt es nicht, es sei denn, die Regel wird im Dialog neu verhandelt und verändert. Ich denke, dass wir alle diese Art von Grenzen in unsere Familiensysteme aufgenommen haben, und ich bin überzeugt, dass sie vieles erleichtern. So muss nicht jeden Abend neu darüber diskutiert werden, dass sich alle die Zähne putzen. Damit diese Grenzen die Kinder jedoch nicht entmündigen oder in ihrer Entwicklung einschränken, halte ich es für wichtig, festgesetzte Regeln immer wieder zu überprüfen: ob sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder noch angemessen sind, ob alle einen Konsens darüber haben und ob sie eine sinnvolle Funktion erfüllen. Grundsätzlich halte ich es für wertvoll, wenn wir dialogbereit sind und Regeln situativ anpassen, anstatt diese stur durchzusetzen, um unseren Alltag zu erleichtern.

Die eigenen Grenzen wahren

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hielt gar nichts davon, Kindern Grenzen in Form von starren Regeln zu setzen. Stattdessen empfand er es als essenziell, die eigenen Grenzen zu wahren und auch dem Kind dieses Recht zuzugestehen.

Das war für mich ein „Aha-Erlebnis“. Meinen Kindern tut es gut, wenn ich ihnen meine eigenen Grenzen aufzeige. Nicht um sie zu begrenzen oder ihnen vermeintlichen Halt durch einen „Gartenzaun von Regeln“ zu geben. Sondern um ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch Grenzen hat, die geachtet werden sollen. Kinder orientieren sich an uns, besonders, wenn sie noch klein sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass mein Großer bei Tisch immer auf meinen Schoß geklettert kam, sobald er aufgegessen hatte. Ständig habe ich ihm gesagt, dass ich selbst noch in Ruhe aufessen will und er mich so lange in Ruhe lassen soll. Doch er hat gespürt, dass ich mir innerlich gar nicht so sicher war, ob es okay ist, meine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Die Glaubenssätze, die tief in mir eingebrannt sind, flüsterten mir etwas anderes zu: „Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als deine eigenen Grenzen. Wenn du etwas nicht magst, musst du es halt aushalten.“

Im Arbeitskontext mit Kindern habe ich immer wieder Bewunderung von Kolleginnen und Kollegen für meine scheinbar nie versiegende Geduld geerntet. Dass ich häufig schon längst innerlich gekocht habe, konnten sie ja nicht sehen. Damals im Job ist es selten vorgekommen, dass mein Geduldsfaden riss. Umso stärker bin ich nun mit meinen eigenen Kindern herausgefordert. Denn jetzt kann ich nicht mehr nach einer Schicht nach Hause fahren und mich ins Bett legen, um wieder zu mir selbst zu finden. Jetzt muss ich, wenn es hart auf hart kommt, 24 Stunden am Tag „funktionieren“. So anstrengend das manchmal ist und so bestürzt ich bin, wenn ich wieder einmal anders reagiere, als ich eigentlich möchte, so dankbar bin ich für diese „harte Schule zu mir selbst“.

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Manchmal, wenn ich vor Müdigkeit oder Stress nicht mehr klar denken kann und mein großer Sohn wiederholt über meine Grenzen trampelt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ich verliere aus dem Blick, dass mir ein gefühlsstarker Fünfjähriger gegenübersteht und fühle mich wie das kleine Mädchen, dessen Grenzen mutwillig übertreten werden. Das tut weh, und im Kurzschluss habe ich meinen Sohn einmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Das geht natürlich gar nicht. Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre. Gewaltfreiheit war immer schon mein höchstes Erziehungsideal. Umso wichtiger ist es zu lernen, endlich gut für mich zu sorgen und für solche Situationen ein Frühwarnsystem mit entsprechenden Handlungsstrategien zu finden.

Seit ich weiß, dass es am wichtigsten ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und zu verteidigen, mache ich mir immer häufiger bewusst, dass ich genauso wichtig und ernst zu nehmen bin wie jeder andere Mensch. Ich muss dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse befriedigt und meine Grenzen geachtet werden. Anstatt allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge, versuche ich immer wieder eine gütige Haltung mir selbst gegenüber einzunehmen.

Eine Stunde Rückzug mit einem Buch kann Wunder wirken oder auch nur ein paar bewusste tiefe Atemzüge am Fenster. Wenn ich bei mir angekommen und in meiner Kraft bin, kann ich meinen Kindern ein viel stärkeres und klareres Gegenüber sein.

Ich erlaube es mir, mir Zeit zu lassen und zu überlegen, ob ich etwas möchte oder nicht, wenn meine Kinder mich etwas fragen. Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, die fünfte Geschichte zu erzählen, sage ich das ganz klar. Und es hilft mir zu wissen, dass ich damit nicht nur zu mir selbst und meinen Bedürfnissen stehe, sondern meine Söhne dadurch lernen, dass sie auch Grenzen setzen und Nein sagen dürfen.

Die Wut aus dem Körper tanzen

Mit kleinen Kindern ist es natürlich nicht immer so einfach, gut für sich zu sorgen. Manchmal muss ich stundenlang ein schreiendes Kind wiegen, obwohl ich viel lieber endlich „Feierabend“ hätte. Da hilft es, mir innerlich bewusst zu machen, dass es mich gerade echt nervt, dass der Kleine schon zum fünften Mal aufgewacht ist. Ich fühle mich in meiner kostbaren Zeit für mich selbst beschnitten. Darüber darf ich traurig oder wütend sein. Anstatt die Wut runterzuschlucken und weiter tapfer auszuhalten und über meine Grenzen zu gehen, mache ich Musik an und tanze die Wut aus meinem Körper, bevor sich das Babyfon das nächste Mal meldet. Das hilft mir, bei mir zu bleiben. Oder ich gönne mir zur Belohnung bewusst etwas Besonderes, um mir zu zeigen, dass ich auch wichtig bin: ein Eis, einen Film oder eine geplante Auszeit am nächsten Tag.

Wäre es nicht schön, wenn wir – die Kinder, die allzu viel aushalten und sich anpassen mussten – es durch unsere Kinder endlich schaffen, zu dem zu finden, was uns ausmacht? Wenn wir zu unseren individuellen Empfindungen, Interessen und Begabungen durchdringen und damit unseren Platz in der Gesellschaft finden würden? Wenn wir unseren eigenen Raum einnehmen, werden wir es auch besser schaffen, unseren Kindern den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich frei zu entfalten. Wenn sie schon in ihren ersten Lebensjahren erleben dürfen, dass sie mit ihrem individuellen Wesen angenommen sind, wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihre Grenzen respektieren, brauchen sie in ihrer Jugend viel weniger Grenzen zu übertreten, um sich selbst zu finden – so eine These von Susanne Mierau aus ihrem Buch „Frei und unverbogen“.

Anna Koppri lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und bei der Berliner Stadtmission.

Warum Kinder Grenzen brauchen – und Eltern erst recht

Eltern setzen Kindern Grenzen, klar. Es gibt aber zwei verschiedene Arten von Grenzen. Welche das sind und wie man sie unterscheidet, erklärt die Autorin und Mutter Anna Koppri.

Wegen sowas muss man doch nicht weinen.“ „Jetzt stell dich nicht so an.“ „Iss deinen Spinat, die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen.“ „Weil ich das sage.“ „Nichts passiert, steh wieder auf.“ „Gib Opa einen Kuss.“ – Diese Liste könnte ich ewig fortführen. Als ich Kind war, gehörten solche Sätze in vielen Familien selbstverständlich zur Erziehung – genau wie körperliche Züchtigungen. Permanent wurde über uns Kinder und unsere Körper bestimmt. Die Erwachsenen wussten am besten, was gut für uns war und wie wir uns zu fühlen oder zu verhalten hatten. Man war der Überzeugung, dass Kinder erst zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssten. Sie sollten sich möglichst gut anpassen und wenig auffallen. Heute fällt es mir noch immer schwer, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, mich selbst ernst zu nehmen und meinen Empfindungen zu trauen.

Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen. Sie sollen frei ihre individuelle Persönlichkeit entfalten können und sich angenommen und geliebt wissen. Die intuitive Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse und ihre individuellen Emotionen möchte ich ihnen nicht abtrainieren. Trotzdem sollen sie mich als Autorität wahrnehmen, an der sie sich orientieren können und die im Zweifelsfall die Richtung vorgibt. Deshalb habe ich jede Menge Ratgeber über beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelesen, über Begleiten ohne Strafen und unverbogene Kinder. Doch weshalb fällt es mir oft so schwer, das alles in die Tat umzusetzen? Warum sage ich trotzdem Wenn-dann-Sätze und weiß mir manchmal nicht anders zu helfen, als mit Belohnung zu locken oder mit Einschränkungen zu drohen? Warum werde ich laut oder nutze meine körperliche Überlegenheit, um meine Kinder zu etwas zu bringen, das sie nicht wollen

Mehr Grenzen setzen

Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich die Rückmeldung von einer weisen Mutter, der ich vertraue, dass ich meinem willens- und gefühlsstarken Großen (damals 3) nicht genug Grenzen setzen würde. Zuerst war ich innerlich empört: „Ich will ihm ja auch gar keine Grenzen setzen!“ Doch dann habe ich mich auf eine Reise begeben zu Grenzen und zu mir, und ich habe erfahren, welche Art von Grenzen meine Kinder von mir brauchen.

Nora Imlau schlüsselt in ihrem Buch „Mein Familienkompass“ auf, wie unterschiedlich das Wort Grenzen von verschiedenen pädagogischen Strömungen gefüllt wurde und wird. In der autoritären Erziehung sind Grenzen Regeln, die Erwachsene mehr oder weniger willkürlich setzen und denen Kinder Folge zu leisten haben, um Disziplin zu erlernen.

In der autoritativen Erziehung werden Grenzen und Regeln gemeinsam mit den Kindern ausgehandelt. Sind sie einmal gesetzt, müssen sie eingehalten werden, um dem Kind Halt und Orientierung zu geben. Ausnahmen gibt es nicht, es sei denn, die Regel wird im Dialog neu verhandelt und verändert. Ich denke, dass wir alle diese Art von Grenzen in unsere Familiensysteme aufgenommen haben, und ich bin überzeugt, dass sie vieles erleichtern. So muss nicht jeden Abend neu darüber diskutiert werden, dass sich alle die Zähne putzen. Damit diese Grenzen die Kinder jedoch nicht entmündigen oder in ihrer Entwicklung einschränken, halte ich es für wichtig, festgesetzte Regeln immer wieder zu überprüfen: ob sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder noch angemessen sind, ob alle einen Konsens darüber haben und ob sie eine sinnvolle Funktion erfüllen. Grundsätzlich halte ich es für wertvoll, wenn wir dialogbereit sind und Regeln situativ anpassen, anstatt diese stur durchzusetzen, um unseren Alltag zu erleichtern.

Die eigenen Grenzen wahren

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hielt gar nichts davon, Kindern Grenzen in Form von starren Regeln zu setzen. Stattdessen empfand er es als essenziell, die eigenen Grenzen zu wahren und auch dem Kind dieses Recht zuzugestehen.

Das war für mich ein „Aha-Erlebnis“. Meinen Kindern tut es gut, wenn ich ihnen meine eigenen Grenzen aufzeige. Nicht um sie zu begrenzen oder ihnen vermeintlichen Halt durch einen „Gartenzaun von Regeln“ zu geben. Sondern um ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch Grenzen hat, die geachtet werden sollen. Kinder orientieren sich an uns, besonders, wenn sie noch klein sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass mein Großer bei Tisch immer auf meinen Schoß geklettert kam, sobald er aufgegessen hatte. Ständig habe ich ihm gesagt, dass ich selbst noch in Ruhe aufessen will und er mich so lange in Ruhe lassen soll. Doch er hat gespürt, dass ich mir innerlich gar nicht so sicher war, ob es okay ist, meine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Die Glaubenssätze, die tief in mir eingebrannt sind, flüsterten mir etwas anderes zu: „Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als deine eigenen Grenzen. Wenn du etwas nicht magst, musst du es halt aushalten.“

Im Arbeitskontext mit Kindern habe ich immer wieder Bewunderung von Kolleginnen und Kollegen für meine scheinbar nie versiegende Geduld geerntet. Dass ich häufig schon längst innerlich gekocht habe, konnten sie ja nicht sehen. Damals im Job ist es selten vorgekommen, dass mein Geduldsfaden riss. Umso stärker bin ich nun mit meinen eigenen Kindern herausgefordert. Denn jetzt kann ich nicht mehr nach einer Schicht nach Hause fahren und mich ins Bett legen, um wieder zu mir selbst zu finden. Jetzt muss ich, wenn es hart auf hart kommt, 24 Stunden am Tag „funktionieren“. So anstrengend das manchmal ist und so bestürzt ich bin, wenn ich wieder einmal anders reagiere, als ich eigentlich möchte, so dankbar bin ich für diese „harte Schule zu mir selbst“.

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Manchmal, wenn ich vor Müdigkeit oder Stress nicht mehr klar denken kann und mein großer Sohn wiederholt über meine Grenzen trampelt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ich verliere aus dem Blick, dass mir ein gefühlsstarker Fünfjähriger gegenübersteht und fühle mich wie das kleine Mädchen, dessen Grenzen mutwillig übertreten werden. Das tut weh, und im Kurzschluss habe ich meinen Sohn einmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Das geht natürlich gar nicht. Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre. Gewaltfreiheit war immer schon mein höchstes Erziehungsideal. Umso wichtiger ist es zu lernen, endlich gut für mich zu sorgen und für solche Situationen ein Frühwarnsystem mit entsprechenden Handlungsstrategien zu finden.

Seit ich weiß, dass es am wichtigsten ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und zu verteidigen, mache ich mir immer häufiger bewusst, dass ich genauso wichtig und ernst zu nehmen bin wie jeder andere Mensch. Ich muss dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse befriedigt und meine Grenzen geachtet werden. Anstatt allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge, versuche ich immer wieder eine gütige Haltung mir selbst gegenüber einzunehmen.

Eine Stunde Rückzug mit einem Buch kann Wunder wirken oder auch nur ein paar bewusste tiefe Atemzüge am Fenster. Wenn ich bei mir angekommen und in meiner Kraft bin, kann ich meinen Kindern ein viel stärkeres und klareres Gegenüber sein.

Ich erlaube es mir, mir Zeit zu lassen und zu überlegen, ob ich etwas möchte oder nicht, wenn meine Kinder mich etwas fragen. Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, die fünfte Geschichte zu erzählen, sage ich das ganz klar. Und es hilft mir zu wissen, dass ich damit nicht nur zu mir selbst und meinen Bedürfnissen stehe, sondern meine Söhne dadurch lernen, dass sie auch Grenzen setzen und Nein sagen dürfen.

Die Wut aus dem Körper tanzen

Mit kleinen Kindern ist es natürlich nicht immer so einfach, gut für sich zu sorgen. Manchmal muss ich stundenlang ein schreiendes Kind wiegen, obwohl ich viel lieber endlich „Feierabend“ hätte. Da hilft es, mir innerlich bewusst zu machen, dass es mich gerade echt nervt, dass der Kleine schon zum fünften Mal aufgewacht ist. Ich fühle mich in meiner kostbaren Zeit für mich selbst beschnitten. Darüber darf ich traurig oder wütend sein. Anstatt die Wut runterzuschlucken und weiter tapfer auszuhalten und über meine Grenzen zu gehen, mache ich Musik an und tanze die Wut aus meinem Körper, bevor sich das Babyfon das nächste Mal meldet. Das hilft mir, bei mir zu bleiben. Oder ich gönne mir zur Belohnung bewusst etwas Besonderes, um mir zu zeigen, dass ich auch wichtig bin: ein Eis, einen Film oder eine geplante Auszeit am nächsten Tag.

Wäre es nicht schön, wenn wir – die Kinder, die allzu viel aushalten und sich anpassen mussten – es durch unsere Kinder endlich schaffen, zu dem zu finden, was uns ausmacht? Wenn wir zu unseren individuellen Empfindungen, Interessen und Begabungen durchdringen und damit unseren Platz in der Gesellschaft finden würden? Wenn wir unseren eigenen Raum einnehmen, werden wir es auch besser schaffen, unseren Kindern den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich frei zu entfalten. Wenn sie schon in ihren ersten Lebensjahren erleben dürfen, dass sie mit ihrem individuellen Wesen angenommen sind, wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihre Grenzen respektieren, brauchen sie in ihrer Jugend viel weniger Grenzen zu übertreten, um sich selbst zu finden – so eine These von Susanne Mierau aus ihrem Buch „Frei und unverbogen“.

Anna Koppri lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und bei der Berliner Stadtmission.

Achtsam durch den Alltag

Achtsamkeit ist ziemlich im Trend. Doch was genau ist damit gemeint? Und welche Chance beinhaltet sie für Familien? Von Melanie Schüer

Wer achtsam ist, konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt. Er schweift gedanklich nicht ständig ab in das, was gestern war, oder beschäftigt sich mit Sorgen um das, was morgen kommt. Er legt seinen Fokus ganz auf den gegenwärtigen Moment. Dieser wird sehr aufmerksam und intensiv, mit allen Sinnen wahrgenommen: Was sehe ich? Wie riecht es gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Was höre ich? Wie fließt mein Atem?
Diese verschiedenen Fragen werden nicht schnell „abgearbeitet“. Jeder Aspekt wird ruhig und langsam erkundet. Abschweifende Gedanken werden bewusst wahrgenommen, ohne sie zu bewerten – und wieder losgelassen, um sich erneut im Hier und Jetzt zu verankern.
In unserem hektischen Alltag ist uns diese Haltung häufig fremd. Bei der Menge an Aufgaben und Themen fühlen wir uns meist zu Multitasking gezwungen: Während wir putzen, denken wir darüber nach, wie wir das Seminar morgen gestalten. Während wir duschen, spüren wir weniger den angenehmen Wasserstrahl, sondern grübeln über das Gespräch mit dem Chef nach … Doch dieses ständige Multitasking fördert innere Unruhe und Stress – deshalb bergen Achtsamkeits- Übungen eine große Chance. Sie lassen sich einfach in den Alltag integrieren: Beim Zähneputzen bewusst den Kopf ausschalten und sich nur auf die Bewegungen der Zahnbürste konzentrieren. Beim Spazierengehen spüren, wie die Füße bei jedem einzelnen Schritt den Boden berühren.

ACHTSAMKEIT HILFT BEI WEHEN

Auch für Eltern ist Achtsamkeit ein wertvoller Ansatz – schon in der Schwangerschaft. Die Hebamme Nancy Bardacke hat mit ihrer Methode „Mindful Birthing“ das Konzept der Achtsamkeit auf Schwangerschaft und Geburt übertragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, loszulassen und sich auf das, was geschieht, einzulassen – und daraus das Beste zu machen.
So dauert eine Wehe in der Regel 60 bis 90 Sekunden – das sind etwa sieben bis zehn Atemzüge. Wenn eine Wehe beginnt, kann die Frau sich bewusst machen: „Ich atme jetzt zehnmal ganz tief ein und aus, dann ist diese Wehe schon wieder geschafft“ als Gegenentwurf zu Gedanken wie: „Ich ertrage das nicht mehr!“ Eine gute Unterstützung ist es, Formulierungen wie „Loslassen“ oder „Zehn Atemzüge, dann ist es geschafft!“ auf Karteikarten zu schreiben und zur Geburt mitzunehmen.
Achtsamkeit bedeutet auch, nicht zu werten, und das, was ist, anzunehmen. Wenn uns etwas weh tut, neigen wir dazu, uns zu verspannen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Dabei geht es viel besser, wenn wir tief in den Schmerz hineinatmen und ihn annehmen – als etwas, das jetzt eben sein muss, das aber vorübergeht.

DAS FAMILIENLEBEN ACHTSAM GESTALTEN

Der Ansatz von Nancy Bardacke bezieht auch die Zeit nach der Geburt mit ein, zum Beispiel wenn das Baby weint. Eltern können sich bewusst werden, welche Gefühle das Schreien in ihnen auslöst: Traurigkeit? Wut? Hilflosigkeit? Es gilt, diese Gefühle zuzulassen, ohne sie zu bewerten – sie einfach anzunehmen, zu fühlen und dann loszulassen und sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Tief in den Bauch einatmen, als würde man ganz viel Frieden und Ruhe einatmen und lange wieder ausatmen, als würde man allen Stress und alle Anspannung hinausatmen. Bauchatmung reduziert die eigene Körperspannung. Das spürt auch das Baby und hilft ihm, sich sicherer zu fühlen.
Auch im Umgang mit älteren Kindern ist Achtsamkeit eine wertvolle Haltung. Sie beinhaltet, unsere Kinder so wertzuschätzen und anzunehmen, wie sie sind – und auch mit den eigenen Fehlern barmherzig umzugehen. Die Achtsamkeitslehrer Myla und Jon Kabat-Zinn erklären: „Wir sehen dies als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst –, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen.“
Myla Kabat-Zinn versteht unter achtsamer Erziehung, „zu versuchen, die Dinge aus den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern.“ Das ist ein guter Rat – bewusst die Perspektive des Kindes einzunehmen, zu überlegen und zu erfragen: Wie erlebt er oder sie diese Situation?

AUFMERKSAM DURCH DEN TAG

Ganz konkret umfasst ein achtsamer Familienalltag auch das Einrichten von regelmäßigen Zeiten, in denen die Eltern sich ganz dem Kind zuwenden, ohne nebenher zu putzen, zu lesen oder aufs Handy zu schauen. Dazu gehört aufmerksames Zuhören und eine Form der Anerkennung, die eher ermutigt als lobt. Das bedeutet, dass man sein Kind nicht mit einem schnell dahergesagten Lob wie „Gut gemacht!“ abspeist, sondern dass man wirklich hinschaut und konkret sagt, warum man sich über etwas freut.
Eng verbunden mit Achtsamkeit ist eine dankbare Haltung: Die Überzeugung, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern dass der Alltag voller kleiner Wunder und Geschenke ist. Im Familienleben kann man Kindern wunderbar Achtsamkeit und Dankbarkeit vorleben, indem man selbst aufmerksam durch den Tag geht.
Auch die Beziehung zum Partner ist ein Bereich, der Achtsamkeit verdient: Wirklich hinhören, was meinen Partner beschäftigt und nicht gleich urteilen, sondern meinem Partner auch in Konflikten mit einem offenen Herzen begegnen. Den anderen nicht als selbstverständlich betrachten, neugierig aufeinander bleiben und regelmäßige Paarzeiten einplanen.

ALLES IM FLUSS

Achtsamkeit in der Familie kann auch helfen, schwere Zeiten besser zu bewältigen. Wer achtsam ist, fragt sich nicht ständig, wie das wohl weitergeht und wie lange man das noch aushalten kann. Stattdessen übt man, im Hier und Jetzt zu bleiben – mit dem Wissen, dass alles eine Phase ist, die vorbeigeht. Diese Herangehensweise ist auch in der Bibel zu finden:
„Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist:
Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“ (Prediger 3,1-8)
Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat, hilft, sich auf das, was gerade ist, einzulassen – ohne innerlich noch am Gestern zu hängen oder erwartungs- oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Heute ist der einzige Tag, den wir gestalten können. Gestern ist unwiderruflich vorbei – und wer weiß schon, was das Morgen bringt? Jesus selbst lebt uns diese Fokussierung auf die Gegenwart vor, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“ (Matthäus 6, 34).
John Kabat-Zinn formuliert es so: „Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen.“

Melanie SchüerMelanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und bietet Onlineberatung für Eltern von Babys und Kleinkindern sowie für Schwangere an: www.neuewege.me