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Pilgern – Eine Auszeit zum Auftanken

Pilgern ist seit Jahrhunderten Tradition und dennoch topaktuell. Melanie Schmitt, Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg, gibt Einblicke in eine  faszinierende Wanderleidenschaft.

Tage des Laufens liegen hinter uns, rauf und runter, über einen alpinen Pilgerweg in Österreich, von Kirchlein zu Kapelle, vom alten Wallfahrtsort im Tal zum Gipfelkreuz hoch oben. Am letzten Tag kostet mich jeder Schritt Kraft, die ich nicht mehr habe. Ich frage mich ernsthaft, wie ich heute die restlichen Höhenmeter nach oben schaffen soll, um dann auf der anderen Seite wieder abzusteigen. Warum mache ich das hier eigentlich? Tageund wochenlang durch die Gegend laufen, jeden Tag dasselbe. Pilgern – was soll das?

Gebahnte Wege

Seit Menschengedenken machen sich Männer und Frauen auf Reisen, bei denen es nicht allein darum geht, einen äußeren Weg zurückzulegen, sondern auch darum, sich auf einen inneren Weg zu begeben, in inneren Angelegenheiten unterwegs zu sein, auf ganzheitlicher Bewegungstour für Körper und Seele. Nicht bei jedem religiös motiviert, aber doch auf der Suche: nach sich selbst, nach anderen oder nach Gott.

Pilgern ist eine jahrhundertealte Tradition, ein Teil der spirituellen Praxis aller großen Religionen. Ob Jerusalem, Assisi, Rom, Mekka oder Santiago de Compostela – der äußere und der innere Weg verbindet alle Pilgerinnen und Pilger und ist doch gleichzeitig sehr individuell. So unterschiedlich die Anliegen und Gründe für eine Pilgerreise sein mögen – ob Abenteuerlust, Trauerbewältigung, bewusste Umkehr oder ein neuer Lebensabschnitt –, das Unterwegssein ist beim Pilgern wichtiger als das Ankommen. Und die Erlebnisse, Ereignisse und Begegnungen unterwegs machen das Besondere des Pilgerns aus.

Es ist faszinierend, auf uralten Wegen unterwegs zu sein, auf Pfaden, die Pilger schon Jahrhunderte zuvor gebahnt haben, in gesprochenen, gedachten, geatmeten und gelebten Gedanken und Gebeten, im steten Gehen und Gehen und Gehen.

Die pure Freiheit

Reduzieren, minimalisieren, daheim lassen, loslassen: Beim Pilgern geht es auch darum, die Komfortzone zu verlassen und sich nur mit leichtem Gepäck auf den Weg zu machen. Schließlich muss alles Hab und Gut getragen werden, jeden Tag, jede Minute des Weges. Ich erlebe diese Reduktion des Materiellen bei jeder Pilgertour als große Freiheit: Alles, was ich brauche, trage ich bei mir. Und das, so stelle ich jedes Mal fest, ist wirklich sehr wenig. Zumal es zum Pilgeralltag gehört, bei Ankunft in der Unterkunft die verschwitzten Klamotten mit der Hand durchzuwaschen. Drei Unterhosen und zwei Shirts reichen wochenlang.

Am Morgen ist alles schnell wieder im Rucksack verstaut. Ich brauche nicht lange zu überlegen: Das Wirrwarr auf dem Bett aus Wechselklamotten, Ladekabel, Pilgerpass, Haargummi, Tagebuch und Flip-Flops kommt einfach komplett in den Rucksack und weiter geht‘s. Alles, was ich brauche, trage ich auf dem Rücken. Ich kann gehen, wohin ich will, und habe alles Nötige bei mir. Welch unglaubliches Gefühl von Freiheit! Sich noch unterwegs von Ballast zu trennen und Teile der Ausrüstung wegzugeben, ist eine gängige Pilgererfahrung und für manchen sogar ein Ritual, verringert es doch im konkreten wie im übertragenen Sinn die Last auf den Schultern. So nehmen manche Pilgerinnen und Pilger von zu Hause einen Stein mit, der symbolisch für eine Last steht, für eine überstandene Krankheit oder eine schmerzhafte Trennung, und legen diesen Stein unterwegs ab.

Nicht nur in Sachen Gepäck ist Pilgern eine Reduzierung auf das Wesentliche: gehen – essen – schlafen. Der Pilgeralltag folgt einer erwartbaren Regelmäßigkeit.

Die reine Abhängigkeit

Wenn ich zu Fuß unterwegs bin, nur mit dem Rucksack auf meinem Rücken, habe ich auf meiner Reise ausschließlich diese Dinge zur Verfügung. Keinen Fön, keine größere Lektüre, keine Spielesammlung. Zu Fuß bin ich außerdem nur in einem kleinen Radius mobil. Sollte ich am angepeilten Tagesziel keine Unterkunft finden, kann ich nicht mal eben weitere zehn Kilometer suchen gehen.

Hier beginnt nach meinem Empfinden der „Spirit“ des Pilgerns. Eben weil ich mich so bedürftig und abhängig mache, kann Gott seine Wunder-barkeiten deutlich auspacken und spielen lassen. Die Welt der Pilgernden ist voll von diesen Wundergeschichten, die Mut machen und Vertrauen schenken: Der Schuh meines Mannes ist zu eng. So kann er unmöglich weitergehen. Am Wegesrand im kleinen Dorf ist unversehens ein orthopädischer Schuhmacher, der den Schuh richtet. Oder: Beschwingten Schrittes sind wir ein ziemliches Stück dem falschen Pfad gefolgt. Nachdem wir unseren Irrtum bemerkt und ein Stück querfeldein gelaufen sind, finden wir uns plötzlich und überraschend auf unserem eigentlichen Weg wieder.

Wir erleben Geschichten des Versorgtseins und Getragenseins, aber auch Geschichten der persönlichen Herausforderungen. „Der Weg gibt dir nicht das, was du willst, sondern das, was du brauchst“, sagt man. Diese eindrücklichen Erfahrungen machen Pilgernde immer wieder. Ihr Weg ist ihnen ein Spiegel des Inneren. Der Weg schenkt uns die Kraft, ihn zu gehen, er leitet uns, sorgt für uns, führt uns über Umwege, bergauf und bergab, querfeldein und auch mal außerhalb der Karte, durch Sonne und Regen, über Asphaltwüsten und an blühenden Blumenwiesen vorbei. Vor mir sonnt sich ein Schmetterling. Er fliegt nicht davon. Ich darf ihm nahe sein, dem Schmetterling und dem Leben. So wird es beim Pilgern immer wieder vor allem um eines gehen: Bei sich zu bleiben und doch verbunden zu sein mit der Mitwelt – mit der menschlichen Mitwelt und mit der mehr-als-menschlichen Mitwelt.

Jeden Morgen neu aufmachen zum Pligern

Und so ist letztlich auch weniger die Frage der optimalen Outdoor-Ausrüstung entscheidend als vielmehr die Frage der inneren Ausrüstung: Pilgern schenkt uns viele hoch-heilige Momente. Und Pilgern verlangt Kondition und Ausdauer eher mental, denn körperlich sind viele Pilgerwege moderat im Anspruch. Doch die Herausforderung, sich jeden Morgen wieder neu aufzumachen ins Unbekannte und sich dem zu stellen, was innerlich in Bewegung gerät, verlangt Bereitschaft zur Hingabe ins Vertrauen.

Das merke ich besonders am letzten Tag in Österreich, als mich ernsthafte Zweifel überkommen, ob ich diese letzte Etappe schaffen werde. Mir fehlt die Kraft. Intensive Wandertage stecken mir in den Beinen. Wenn es mir gutgeht, fällt es mir leicht, dem Urgrund allen Seins dafür dankbar zu sein. Umgekehrt habe ich oft Mühe, um Hilfe zu bitten, wenn ich nicht allein weiterkomme, ob bei Menschen oder beim Ewigen. Hier oben in den Bergen kann mir kein Mensch beim Weitergehen helfen. Aber ich brauche Hilfe, ich brauche die Kraft zum Weiterkommen. Und ich bitte himmelhoch darum.

Nie zuvor habe ich diese Hilfe so körperlich erlebt. Es fühlt sich an, als schiebe mich eine unsichtbare Hand sanft bergauf – ich gehe und gehe und gehe. Klingt irre. Ich weiß. Fühlte sich auch irre an. Oben nehme ich mir einen kleinen glitzernden Stein mit. Er soll mich zu Hause an die unbeschreibliche Ruhe erinnern, die mit der Erkenntnis kommt, wie viel Kraft sich entfaltet, wenn ich in Verbundenheit immer weiter meinen Weg gehe.

Geht das auch etwas kürzer?

Der eigentliche Effekt des Pilgerns wird erst bei einem längeren Unterwegssein von mehreren Tagen spürbar. Und dennoch kann ich diese einmal gewonnene Erfahrung auch abrufen, wenn ich mich zu Hause einen halben Tag ausklinke und bewusst rausgehe, um zu pilgern. Mir hilft das, Anliegen zu klären. Ich erfahre die Natur als Spiegel, das Gehen als Meditation. Nicht umsonst heißt es, Pilgern sei Beten mit den Füßen. Am frühen Abend nähern wir uns unserem letzten Etappenziel, der Wallfahrtskirche von Heiligenblut. Wir können sie von weitem sehen und ich denke: Jetzt fehlt eigentlich nur noch ein Regenbogen. Kurz darauf fängt es an zu nieseln und in dem Moment, als wir die Kirche erreichen, erscheint ein Regenbogen am Himmel und bleibt aufgespannt über dem Tal stehen. Wir sind angekommen. Und ich weiß, warum ich pilgern gehe, immer wieder.

Melanie Schmitt ist begeisterte Pilgerin und hat als Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg auch beruflich sehr viel mit einer Spiritualität des Unterwegsseins zu tun.

 

WISSENSWERTES ZUM PILGERN

Nachgefragt bei Melanie Schmitt, Leiterin der Pilgerstelle im Bistum Limburg

Wie fange ich an, wenn ich Pilgern ausprobieren möchte?
Es müssen nicht gleich 800 Kilometer Jakobsweg sein. Es gibt auch in Deutschland und der Schweiz viele gut markierte Wege, wie zum Beispiel den Hildegard-von-Bingen-Weg oder den Lahn-Camino, die beide in etwa zehn Tagen gut zu bewältigen sind. Und viele regionale Pilgerwege, die zum Pilgern für einen Tag einladen. Manche Outdoor-App bietet die Vorauswahl „Pilgerweg“. Wenn man sich umschaut, entdeckt man vielleicht in der Nähe des Wohnortes Jakobsmuscheln oder andere Pilgerwegmarkierungen.

Was ist besser: allein pilgern oder in der Gruppe?
Das hängt davon ab, welches Erlebnis man sucht. Vom organisierten Kulturpilgern mit Rucksacktransport bis zur individuell gestalteten Tour ist alles möglich. Allgemein gilt: Man trifft in der Regel sehr schnell andere Pilgerinnen und Pilger und das immer wieder, weil die Wegstrecke und die Etappen oft ähnlich sind. Das ist auch so schön am Pilgern: die Gemeinschaft, die unterwegs entsteht, das gemeinsame Essen, Wäschewaschen, Blasenpflegen…

Welche Ausrüstung ist notwendig?
Ein Rucksack und gut eingelaufene Schuhe verstehen sich wahrscheinlich von selbst. Wer in Pilgerherbergen übernachten möchte, braucht einen einfachen, dünnen Schlafsack. Nicht zu vergessen: einen Pilgerpass. Auf den meisten Wegen berechtigt er zur günstigen Übernachtung in Pilgerherbergen und Klöstern und dient am Ziel als Nachweis des zurückgelegten Weges für den Erhalt einer Pilgerurkunde. Die bunte Stempelsammlung ist außerdem eine schöne Erinnerung.

Wo bekomme ich Infos?
Es gibt zahlreiche Pilgerweg-Vereine, wie die Jakobusgesellschaften, den Ökumenischen-Pilgerweg-Verein oder eben die Pilgerstellen der Bistümer. Daneben viele Regalmeter an Pilgerführern, die sehr zuverlässig sind, und natürlich die weiten Wege des Internets. Qualifizierte Pilgerbegleiterinnen und -begleiter bieten oft auch Touren zu Themen an, wie Trauerpilgern oder Fastenpilgern.

#stayathome: Alte Themen neu entdeckt

Täglich lese ich Nachrichten von Bekannten, Freunden und Fremden, die mir Ideen präsentieren, wie ich die Corona-Zeit optimal nutzen könne: renovieren, sortieren, Sport machen, lesen, Sprachen lernen … Und mein Inneres verkrampft sich.

Ich stelle mir schon die Gespräche nach der Krise vor: „Und? Wie hast du diese Auszeit genutzt?“ Ich: „Ich habe gearbeitet. Es waren volle Tage, irgendwie wie immer.“

Mein Gegenüber wird mich mustern und ungläubig nachfragen: „Aber irgendwas musst du doch getan haben. Ich habe die gesamte Garage aufgeräumt und meine Todo-Liste geleert. Ich habe Nähen gelernt und per Video Sauerteig angesetzt. Und du?“ Ich: „Ich habe gemacht, was ich immer tue. Ich habe täglich versucht, Menschen zu ermutigen!“

Ja, ich weiß, jede Krise ist eine Chance: Homeoffice bedeutet auch weniger Zeiten im Stau. Kurzarbeit bedeutet auch Zeit für Omas Garten. Ich freue mich für jeden, der aktiv an Dingen arbeiten kann, die sonst unerledigt geblieben sind.

Ich sehe für mich auch viele davon, oh ja. Aber mein Tag ist damit ausgefüllt, die Ängste anderer zu mildern, Ideen zu entwickeln und Worte zu finden, damit Nähe entsteht. Ich bin ein Kümmerer. Nachts liege ich wach und spüre mein Herz klopfen. Spüre: Jetzt ist viel los in Familien, bei Selbstständigen. Ich möchte so gern aktiv sein und etwas tun. Mein Haus öffnen und Waffel-Feste feiern …

Das ist meine sehr dringende Todo-Liste. Ich entlarve meinen inneren Antreiber. Was bin ich wert, wenn ich weniger erledige? Weniger sichtbar arbeite und weniger Rückmeldungen bekomme? Die alte „Wer bin ich?“-Frage lugt um die Ecke. Jetzt haben Fragen Raum, die mich erinnern: Es geht um mich. Ich stoße auf alte Bitterkeiten, die durch unliebsame Erfahrungen ausgelöst wurden. Und ich nehme Sehnsüchte und Hoffnungen wahr.

Ich erlebe nach den ersten Tagen der Krise neu an mir, dass ich die Berichterstattung im TV nicht gut verarbeiten kann. Ich lasse mir die Sachlage von meinen Jugendlichen zusammenfassen. Dafür habe ich erstaunlich viel Essbares im Haus, was zu leckeren Dingen werden kann. Ich vermisse es, dass viele Menschen um mich herum sind und erkenne, dass ich mich selbst langweilig finde. Eine Erkenntnis, die mich trifft und beschäftigt.

In allem zu erleben, dass meine nahe Familie sich ebenfalls selbst neu entdeckt und andere Bedürfnisse hat, ist nicht überraschend. Wir stellen uns einander neu vor und suchen Gemeinsamkeiten. So darf ein gestreamter Krimi am Morgen sein, wie auch die Teezeit am Nachmittag. Wir üben täglich neu, im Gespräch zu bleiben.

Werden wir uns das irgendwann auch fragen: Was hast du innerlich sortiert? Wo bist du über dich erstaunt, erschrocken oder begeistert gewesen? Wie ging es dir mit alten Themen, die auf einmal wieder auftauchten?

Ich gehe heute noch sehr motiviert an meine Küchenschränke und halte es aus, dass in mir noch weitere Themen auf Sortierung warten. Ja, diese Krise hat viele Facetten: alte Themen und neue Herzenserkenntnisse.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.