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Erziehungscoach klärt auf: Wutausbruch ist wie ein Nervenzusammenbruch

Die Wutausbrüche ihres Sohnes brachten Coach Marina Hoffmann an ihre Grenzen. Im Interview verrät sie, wie es ihr gelang, ihn zu begleiten und zu verstehen.

Wie hast du die bindungsorientierte Erziehung für dich entdeckt?
Es begann mit einer Krise mit meinem Sohn. Ich hatte vorher immer gedacht, dass ich schon weiß, wie ich erziehen werde und wie sich meine Kinder dann benehmen werden. Aber in der Autonomie-Phase meines Sohnes ist alles aus dem Ruder gelaufen. Es gab täglich Machtkämpfe. Das war sehr frustrierend. Ich habe Erziehungsbücher rausgekramt und versucht, die Tipps darin konsequent umzusetzen. Aber das hatte weder einen Effekt auf die Wut meines Sohnes, noch haben sie unserer Beziehung gutgetan. Mein Sohn war immer sehr enttäuscht von mir. Und ich habe mich auch sehr unwohl gefühlt, wenn ich ihn zum Beispiel ins Zimmer geschickt habe und dann von außen die Tür zugehalten habe, damit er drinbleibt. Ich war ratlos und unzufrieden mit meinem Mamasein. Ich habe verzweifelt nach neuen Ansätzen gesucht. Und ich habe auch um Inspiration gebetet.

Wie ging es weiter?

Ich habe über Instagram einige Profile kennengelernt. Das war mein erster Berührungspunkt mit bindungsorientierter Erziehung. Es hat mich völlig überrascht, wie viel dieser Erziehungsansatz mit meinem christlichen Glauben zu tun hat.

Der Perspektivwechsel: Wie kann ich als Mutter dem Kind helfen?

Was sind für dich die wesentlichen Elemente der bindungsorientierten Erziehung?
Für mich war der erste Wendepunkt das Verständnis über die kindliche Unreife. Es ist wichtig zu wissen, dass ein Kind in solchen Wutausbrüchen eigentlich einen Nervenzusammenbruch erlebt. Dass es uns nicht absichtlich ärgern möchte, sondern dass es überfordert und auf Hilfe angewiesen ist. Es handelt wegen seiner Unreife so impulsiv, weil es Gefühle noch nicht so ausgleichen kann wie ein Erwachsener. Wenn uns das bewusst ist, sehen wir unser Kind mit anderen Augen. Vorher hatte ich eher eine verurteilende Haltung: Was soll das? Wieso machst du das jetzt? Das hat sich entwickelt zu den Fragen: Wie kann ich dir helfen? Wie kann ich jetzt mit dir in Verbindung bleiben?

Hat sich dadurch die Situation für dich und deinen Sohn verändert?
Ja, es hat sich sehr viel verändert, auch wenn das nicht bedeutet, dass ich jetzt alles perfekt mache und immer verständnisvoll reagiere. Ich habe eher entdeckt, wie viele unreife Anteile ich an mir habe. Ich merke zum Beispiel: Wenn mein Sohn wütend wird, werde ich auch wütend und kann gar nicht mehr empathisch auf ihn eingehen. Deshalb habe ich angefangen, mich mit mir selbst mehr zu beschäftigen: Was triggert mich und woher kommt das? Und es hat auch meine Beziehung zu meinem Kind verändert, vor allem in den Momenten, wo ich in seinem Wutausbruch da sein konnte und in der Verbindung zu ihm bleiben konnte. Das hat eine große Veränderung in ihm bewirkt, dass er gesehen hat: „Mama verlässt mich jetzt nicht mehr, wenn ich etwas Blödes mache, und schickt mich nicht wieder allein aufs Zimmer, sondern sie ist für mich da.“ Das hat bei ihm eine Ruhe und eine Dankbarkeit entwickelt, dass er sagt: „Mama, danke, dass du da bist.“ Dabei habe ich mich auch an Psalm 23 erinnert gefühlt. Dort heißt es: „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal bist du bei mir.“ Das hat auch meinem Glauben gutgetan, denn ich spürte, dass auch ich nicht allein bin.

Wie waren denn die Reaktionen bei deinem Mann, als du angefangen hast, anders zu erziehen?
Das war genial, weil wir gleichzeitig diesen Weg gegangen sind. Er war ja genauso frustriert. Er sagte: „Ich habe mir das Vatersein anders vorgestellt. Das ist alles so stressig und so nervig und anstrengend mit den Kindern.“ Ich habe ihm dann von meinen Entdeckungen der bindungsorientierten Erziehung erzählt, und wir haben zusammen ein Buch gelesen. Er war total offen, etwas zu ändern.

Bindungsorientiert bedeutet nicht antiautoritär

Es gibt ja die Kritik an der bindungsorientierten Erziehung, dass Kinder dadurch verwöhnt und verzogen werden …
Dann hat man sich damit vielleicht nicht gut genug beschäftigt und verwechselt bindungsorientierte mit antiautoritärer Erziehung. In der bindungsorientierten Erziehung ist es ja nicht so, dass es keine Grenzen gibt. Kinder sind täglich mit Grenzen konfrontiert, mit Dingen, die sie nicht hinkriegen oder nicht haben können. Es ist nicht unsere Aufgabe, alle Grenzen zu vermeiden, sondern ihnen zu helfen, sich mit diesen Grenzen zu versöhnen. Und wenn die Kinder mit Grenzen konfrontiert werden und entsprechend reagieren, gehen wir nicht aus der Beziehung heraus. Das ist ein großer Unterschied. Ich vermittle meinem Kind: „Ich gehe mit dir gemeinsam durch die Wut, wenn du an deine Grenze kommst.“

Du wolltest deine Entdeckung nicht für dich behalten. Deshalb bietest du Online-Kongresse an.
Genau, ich möchte, dass es alle erfahren. Im März habe ich meinen ersten „Erziehe mit Herz“-Online-Kongress organisiert. Wir hatten 6.000 Teilnehmende. Das war wunderbar. Viele hat angesprochen, dass ich die bindungsorientierte Erziehung mit dem christlichen Glauben verbinde, weil sie das so noch nicht gehört haben. Ich hatte erst einmal das Ziel, christliche Mütter zu erreichen. Der nächste Kongress richtet sich an beide Elternteile.

Interview: Bettina Wendland

 

Marina Hoffmann ist Sozialarbeiterin, Veranstalterin von mittlerweile zwei „Erziehe mit Herz“ Onlinekongressen, Christin und bindungsorientierter Erziehungscoach für Eltern. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder (6 und 3). Weitere Informationen zu ihren Angeboten unter: das-weiche-herz.de

Keine Kraft mehr, sich selbst etwas Gutes zu tun

Elternsein ist anstrengend. Kaum eine Mutter oder ein Vater macht das mit links. Hochsensible Menschen sind allerdings besonders herausgefordert in dieser Lebensphase. Von Melanie Vita

Eltern werden bedeutet, sich einer neuen Lebensphase zu öffnen und gewohnte Strukturen hinter sich zu lassen. Das ist wohl für alle Eltern eine Herausforderung. Hochsensible Eltern sehen sich dabei vor besondere Schwierigkeiten gestellt. Strategien, die für ihre innere Balance wichtig sind, wie Rückzugsmöglichkeiten, Stille und Reizreduktion, sind weniger möglich. Die persönliche Zeit wird knapper, Eindrücke, Gefühle und Reize werden intensiver, und nicht selten fühlt man sich einfach erschöpft.

So zum Beispiel bei der fiktiven Ann, Mutter von drei Kindern. Sie hat sich entschieden, ganz für die Kinder da zu sein und gab ihre Berufstätigkeit auf. Sie liebt ihre Familie über alles. Dennoch hat sie Momente, in denen sie sich vor Erschöpfung am liebsten unter der Decke verkriechen würde und das Gefühl hat, nur noch für die täglichen Aufgaben zu funktionieren. Wäsche machen, kochen, Kinder chauffieren, bei den Hausaufgaben helfen, alle Kinder ins Bett bringen – die Liste ist lang. Dabei sagt doch jeder, dass alles gut laufe bei ihr. Ihre Kinder entwickeln sich prächtig, ihr Mann unterstützt sie, und sie kann ihre zur Verfügung stehende Zeit voll für die Familie nutzen. Viele beneiden sie darum. Darf sie da erschöpft sein?

Ungenügend in Job und Familie

Tom hat einen Job in gehobener Position mit viel Verantwortung und ist Vater von Zwillingen, absolute Wunschkinder. Seit die Kleinen auf der Welt sind, hat er das Gefühl, niemandem mehr gerecht werden zu können. Im Büro bleibt vieles liegen. Und wenn er abends nach Hause kommt, erwarten ihn zwei Rabauken, die ihn voll vereinnahmen. Während er zu Hause das Gefühl hat, zu wenig Zeit und Liebe zu investieren, bleibt im Job einiges auf der Strecke. Dabei ist Tom jemand, der sich gern zu 100 Prozent engagiert, sich in Themen, Dinge und auch Beziehungen voll und ganz vertieft. Aber das Bedürfnis nach Ruhe wird immer stärker. Wie machen das andere Väter?

So wie Ann und Tom geht es vielen Müttern und Vätern. Besonders hochsensible Eltern werden sich hier wiederfinden. Sie starten optimistisch in die neue Lebensphase, investieren all ihre Liebe und ihre Fähigkeit der vollen Hingabe an etwas. Mit der Zeit merken sie aber, dass ihre Kräfte schwinden. Wenn Eltern bei der Lösungssuche auf das Thema Hochsensibilität stoßen, fällt ihnen nicht selten ein Stein vom Herzen. „Jetzt verstehe ich endlich, warum es mir so geht“, ist einer der meistgehörten Sätze in meiner Beratung.

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensible Menschen nehmen Sinneseindrücke viel intensiver wahr als andere. Nichts prallt einfach an ihnen ab. Was sie beobachten, spüren und wahrnehmen, wollen sie verarbeiten, durchdenken, verstehen: Warum ist mein Kind resigniert von der Kita gekommen? Wieso kann mein Jüngster nicht mehr durchschlafen? Welche Beweggründe hat meine Große, nicht mehr in die Teensgruppe zu wollen? Warum ist meine Frau so angespannt?

Eine hohe Sensibilität lässt sich anhand folgender Merkmale (nach E. Aron) erkennen:

Verarbeitungstiefe
Tom sitzt am Schreibtisch und überlegt, wie er seine Kinder während des Homeschoolings unterstützen, wie die Arbeitsaufteilung zwischen seiner Frau und ihm lösen, wie er zeitgleich das knifflige Problem in seiner Firma beheben kann. Dabei analysiert er die jeweiligen Situationen von allen Seiten und durchdenkt jedes Detail.

Was sich bei Tom zeigt, ist die Fähigkeit, viele Informationen und Einzelheiten aufzunehmen, zu durchdenken und daraus nachhaltige Schlüsse zu ziehen. Logisches und auch weitblickendes Denken liegen ihm.

Überreizung
Es ist spätabends. Ann sitzt am Küchentisch und ist ausgepowert. Von früh bis spät organisiert, macht und tut sie. Sie kümmert sich um den Haushalt, die Kinder, den Ehemann und ihr kirchliches Ehrenamt. Abends, wenn es still wird im Haus und die Kinder endlich schlafen, wäre die Zeit, sich selbst etwas Gutes zu tun. Aber dafür fehlt Ann meist die Kraft.

Durch die herausstechenden Merkmale wie die Verarbeitungstiefe, die starken Gefühle und die ausgeprägte sensorische Wahrnehmung kommt es schneller als bei anderen zu einem Overload.

Himmelhochjauchzend – zu Tode betrübt

Emotionale Intensität
Ann kämpft mit den Tränen. Ihre Tochter ist in der Kita gestürzt, weint und hat Schmerzen. Das Mitgefühl übermannt Ann regelrecht und sie gibt sich Mühe, stark zu sein, um trösten zu können. Kurze Zeit später kommt ihre Große mit einer guten Klassenarbeitsnote nach Hause – die Freude ist übergroß. Tage wie diese kosten Ann viel Kraft, weil sie emotional stark gefordert ist, egal in welcher Richtung.

Hochsensible erleben Emotionen sehr intensiv. Sie haben ein außergewöhnliches Gespür dafür, wie es anderen geht, und fühlen stark mit.

Sensorische Feinfühligkeit
Tom hat schon immer ein feines Gehör. Eine Stärke, die seinem musischen Talent entgegenkommt. Er hat eine Vorliebe für leise Töne und Harmonien. Steigt der Lärmpegel zum Beispiel durch das Schreien der Kinder, fühlt er sich gestresst.

Hochsensible nehmen Sinneswahrnehmungen jeglicher Art wie durch einen Verstärker wahr und fühlen sich von Reizen schneller gestört als andere. Die Konzentration auf Wesentliches ist dann erschwert.

Hochsensibilität – Segen und Fluch

Hochsensible Eltern bringen für das Begleiten von Kindern eine Menge Fähigkeiten mit. Dazu gehören insbesondere ein gutes Einfühlungsvermögen sowie ein ausgeprägtes Gespür für Bedürfnisse, woraus gute Entscheidungen zum Wohl des Kindes getroffen werden können. Die Entfaltung des Potenzials hängt dabei stark von der inneren Balance, dem Wahren eigener Bedürfnisse und dem Grad der Selbstfürsorge ab.

Hochsensible Eltern verlieren den Zugang zu ihren Stärken, wenn sie durch Stress und Hektik aus dem Gleichgewicht kommen. Dabei können Übergänge wie die Geburt eines Geschwisterkindes, der Eintritt des Nachwuchses in die Kita oder die Einschulung des Kindes genauso kräftezehrend sein wie die tägliche Notwendigkeit, Entscheidungen zu treffen und ohne Unterlass Ansprechpartner für alle Familienmitglieder zu sein. Eigene Bedürfnisse geraten ohne bewusste Abgrenzung schnell in den Hintergrund. Das Haushalten mit den eigenen Kräften ist elementar, um einem Ausbrennen vorzubeugen und zu gewährleisten, dass all die Talente einer oder eines Hochsensiblen zum Zug kommen.

Das sind die Alarmzeichen

Um in Balance zu leben, ist es wichtig, eigene Bedürfnisse und persönliche Grenzen ernst zu nehmen. Hochsensible Eltern dürfen sich selbst die Erlaubnis geben, nicht nur auf das Wohlergehen der Familienmitglieder zu achten, sondern auch auf sich selbst. Wer gibt, darf auch empfangen. Es ist das Prinzip einer Waage. Sind die Schalen einseitig gefüllt, kommt das Gleichgewicht abhanden und die innere Ruhe geht verloren.

Doch wie erkenne ich, dass ich nicht mehr im Gleichgewicht bin? Gibt es Anzeichen? Die zuverlässigsten Warnsignale sendet unser Körper. Haben Sie ein super Gedächtnis und von einem Moment auf den anderen sind Sie vergesslich? Zeigen sich Kopf-, Magen- oder Rückenschmerzen? Schlafen Sie schlecht oder sind Sie wider Erwarten unkonzentriert? Sind Sie gereizt oder niedergeschlagen, obwohl Sie eigentlich eine Frohnatur sind? Das kann ein Hinweis darauf sein, dass es dringend Zeit ist für Selbstfürsorge.

Überlebensstrategien für hochsensible Eltern

1. Sich selbst Wertschätzung entgegenbringen
Ein wichtiger Schritt ist die Selbstfreundlichkeit. Fragen Sie sich: Wie rede ich mit mir? Wie sehen meine inneren Gespräche aus? Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob Ihre Reaktion auf ein verbranntes Mittagessen diese ist: „Wie blöd bin ich, sowas kann auch nur mir passieren“ – oder ob Sie das dahintersteckende Signal erkennen und freundlich mit sich sind: „Dass mir das Essen verbrannt ist, ist ein Zeichen, dass ich mich dringend mal hinsetzen und mir eine wohltuende Tasse Tee gönnen sollte.“ Jede Form von Selbstkritik raubt Kräfte.

2. Auf seine Bedürfnisse achten
Achten Sie auf Ihre Bedürfnisse. Sie müssen nicht die Supermama oder der Superpapa sein, die/der alles bewerkstelligt, ohne müde zu werden und Hilfe anzunehmen. Ihre Kinder lernen von authentisch gelebten Grenzen mehr als von Perfektion. Fragen Sie sich: Was brauche ich, damit es mir gut geht? Welche Art der sinnvollen Unterstützung kann ich annehmen?

Austausch tut gut

3. Kontakt zu Gleichgesinnten suchen
Sie denken, Sie sitzen allein im Boot? Weit gefehlt. Man geht davon aus, dass ca. 15-20 Prozent der Bevölkerung hochsensibel sind. Damit muss es auch in Ihrem Umfeld hochsensible Eltern geben. Auch andere sind überwältigt von den unterschiedlichsten Herausforderungen. Beugen Sie der Isolation vor und suchen Sie Gleichgesinnte. Der Austausch wird Ihnen guttun.

4. Äußere Belastungsfaktoren verringern
Delegieren Sie Aufgaben, wo immer es möglich ist. Setzen Sie Grenzen, lernen Sie, Nein zu sagen. Auch andere können die Kuchenspende fürs Schulfest übernehmen. Viel wichtiger ist, dass Sie Ihr Gleichgewicht behalten, um gut für sich und Ihre Familienmitglieder sorgen zu können und einer Entkräftung vorzubeugen.

Ein Kaffee zur Entspannung

5. „Tankstellen“ suchen
Wie tanken Sie auf? Welche Momente geben Ihnen Kraft? Als Eltern haben Sie selten die Möglichkeit, sich lange Auszeiten zu ermöglichen. Umso wichtiger sind die kleinen Auszeiten und Entspannungsmomente. Notieren Sie sich einmal, was Ihnen guttut. Ist es das kurze Innehalten am Fenster, um Sonne zu tanken? Ein Kaffee oder Tee zwischen den Pflichten? Musik beim Kochen? Oder regelmäßig frische Blumen auf dem Esstisch?

Zu guter Letzt
Es gibt immer wieder Ausnahmesituationen, in denen diese Impulse nicht greifen. Vielleicht, weil Ihre volle Präsenz und Unterstützung in einer familiären Situation dringend gefordert ist. Um körperlich und seelisch gesund durch solche Situationen zu kommen, ist es wesentlich, immer wieder für kurze Momente der Entspannung zu sorgen.

Melanie Vita ist Diplomsozialpädagogin (FH), Lerntherapeutin (IFLW) und Buchautorin. Sie berät hochsensible Kinder, Jugendliche, Eltern und Erwachsene in ihrer Privatpraxis „Hochsensibel leben“. hochsensibel-leben.de

Buchtipps

Brigitte Küster: Hochsensibilität. Den eigenen Weg finden (SCM Hänssler)
Brigitte Schorr: Hochsensible Mütter (SCM Hänssler)
Anja Bätscher: Fein, aber oho! Hochsensibilität besser verstehen und als Gabe begreifen

Ohne Helm?

In vielen Erziehungsfragen können Eltern unterschiedlicher Meinung sein. Und diese auch sehr laut vertreten. Wie können wir einen guten, eigenen Weg finden? Anregungen von Sandra Geissler

Vor einigen Monaten, an einem dieser wunderbar warmen Spätsommerabende, gingen der Gatte und ich aus. Die Winzer in unserem kleinen Städtchen hatten ihre Höfe geöffnet, Musik spielte und Fröhlichkeit lag in der Luft. Wir kamen um 19 Uhr, saßen in geselliger Runde mit alten Freunden zusammen, genossen den Wein, die Gespräche und das quirlige Leben um uns herum. Pünktlich um 22.15 Uhr klingelte mein Handy, und ich wusste sofort, wer dran sein würde.

Fünf Kinder waren allein zu Hause geblieben, hatten sich selbst mit Pizzabrötchen versorgt, die Chips gerecht verteilt und gemeinsam einen Film geschaut. Sie hatten es sich nett gemacht, und nun hatte einer genug. Der Gatte und ich verstanden das Signal zum Aufbruch und machten uns umgehend an das Verabschieden. Am Tisch blickten wir in entgeisterte Gesichter. „Wieso geht ihr denn jetzt schon?“

„Warum bringen sich die Kinder nicht einfach allein ins Bett, die sind doch alt genug?“ „Es ist doch gerade mal kurz nach zehn. Nur weil einer will, dass ihr zurückkommt, rennt ihr gleich los?“ „Schade, wirklich sehr schade.“

Ich bin mir sehr sicher, dass ich nur zwei Tische weiter auf ähnliches Unverständnis gestoßen wäre – nur in die andere Richtung. „Wie, ihr lasst die Kinder allein? Sind die Jüngsten nicht erst sieben? Und dann geht ihr gleich für mehrere Stunden? Das ist leichtsinnig, selbstbezogen und fahrlässig, vor allem, wenn ein Backofen dabei genutzt wird!“ Das ist das ewige Dilemma von Eltern. Welcher Weg unter tausend möglichen ist der richtige? Der, den die meisten gehen, der, der am lautesten angepriesen wird, oder doch der Trampelpfad, den kaum einer nutzt?

Blutrauschmodus deaktiviert

Mit der Geburt eines Kindes beginnt ein nicht enden wollendes Quiz an Rätselfragen, verwirrender und verworrener als das Wegenetz im deutschen Wald. Sie drehen sich um richtige Ernährung, richtige Kleidung, um Schlafgewohnheiten und Mediennutzung, um inhäusige und aushäusige Betreuung, um das richtige Maß an Zuwendung und die Art, wie wir miteinander sprechen, essen, lieben und streiten. Was den einen zu viel ist, ist den anderen zu wenig. Während die einen fröhlich Fruchtquetschies und Kekse unters Kindervolk bringen, halten die anderen einen Muffin in der Brotbox für potenzielle Kindesmisshandlung.

In manchen Familien gilt Peppa Wutz als ausgezeichnete Babysitterin, die immer willig einspringt, wenn Not an Mann oder Frau ist. Zwei Häuser weiter wird ihr der Zutritt strengstens verwehrt, denn das Parken vor Fernseher oder Tablet grenzt an Verwahrlosung und schädigt nachhaltig Kinderseelen und -gehirne. Ich kenne Kinder, die nur mit Helm auf dem Kopf im eigenen Wohnzimmer Bobby-Car fahren und andere, die sich notdürftig geschützt mit Laufrädern steile Rampen herunterstürzen. Während die einen klare Ansagen bevorzugen, halten andere strenge Worte für einen Akt von verbaler Gewalt. Schneller, als man gucken kann, wird in Erziehungs- und Familienfragen mit aller Schärfe ausgefochten, was eigentlich nicht auszufechten geht, weil es eben immer mehrere Wege gibt.

Vor einigen Jahren schenkten wir unserem Sohn ein Computerspiel zu Weihnachten, das er sich sehnlichst gewünscht hatte. Zwei Tage später las ich, dass genau dieses Spiel ein absolutes No-Go für Teenager sei, und natürlich fuhr mir der Schreck in alle Glieder. Wer will schon einen potenziellen Axtmörder großziehen? Dabei hatten wir schon längst selbst überlegt, abgewogen und gute Lösungen gefunden. Das Spiel durfte nur am Wochenende gespielt werden, zeitlich begrenzt und mit väterlicher Unterstützung. Der Blutrauschmodus war direkt deaktiviert worden. Was blieb, war ein Historienspektakel für den Geschichtsfreak. Und doch geriet ich für einen Moment schwer ins Wanken. War unser Weg denn der richtige? Was, wenn wir irrten und irreparable Schäden an der Kinderseele anrichteten?

Lösungen finden – ohne Unterlass

Die allermeisten Eltern geben sich unwahrscheinlich Mühe, auf die unzähligen Fragen des Familienlebens eine gute Antwort zu finden. Sie informieren sich auf allen gängigen Wegen, sie gleichen mit ihren persönlichen Werten ab, manche Antworten bringen sie aus ihrer eigenen Kinder- und Jugendzeit mit. Jeder Familienmensch weiß, wie mühselig dieses Geschäft mitunter sein kann und wie viel es zu berücksichtigen gilt. Nicht nur, dass wir als Eltern ohne Unterlass Antworten und Lösungen finden müssen, wir hören auch beständig die Antworten und Lösungen unserer Mitmenschen: aus berufenen Großelternmündern, in Ratgebern und auf dem Spielplatz, von Kitaerzieherinnen und dem ganzen Internet. Teilweise widersprechen sie sich, teilweise widersprechen sie unserem eigenen Wesen oder dem Wesen unseres Kindes.

Manche Zeitgenossen vertreten ihre Antworten und Lösungen mit einer Vehemenz und einem Wahrheitsanspruch, dass es einem ganz schwindelig werden kann. Schwindelig, weil man für das eigene Kind und die eigene Familie selbstredend das Beste möchte, den richtigen Weg und die einzig richtige Lösung. Schwindelig aber auch, weil bei aller Mühe die angepriesenen Wege manchmal nicht gangbar scheinen und man nur noch stolpert und klettert. Es muss doch irgendwie zu schaffen sein, was für alle anderen scheinbar mühelos machbar ist.

Und gerade weil man nichts verkehrt machen will und heilfroh ist, endlich die richtige Antwort gefunden zu haben, gerät man manches Mal selbst in Versuchung. Dann sollen es die anderen bitte schön ganz genauso machen, denn unser Weg ist der richtige. Sonst würden wir ihn doch wohl gar nicht gehen! Ehe man sich versieht, beharrt, verurteilt und überrumpelt man fröhlich drauflos, ohne zu bemerken, wie übergriffig das für andere Mütter und Väter sein kann.

Verhärtung der Fronten

Ganz egal, um welche Frage des Lebens es sich handelt, ob um Smartphone-Nutzung, Kinderbetreuung, Schlafgewohnheiten oder Fragen der Ernährung und des guten Umgangs, alle gefundenen Antworten müssen sich zuallererst an ihrer Umsetzbarkeit im eigenen Familienleben messen lassen. Keine Familie gibt es zweimal, jede für sich ist ein bunter Haufen von Individuen. Was also für die eine Sippe hervorragend funktioniert, kann die andere an den Rand der Verzweiflung bringen. Keiner kennt Sie, Ihre Werte, Ihre Eigenheiten und Besonderheiten so gut wie Sie selbst. Auf diese unschlagbaren Kenntnisse kann man durchaus vertrauen. Meiner Erfahrung nach empfiehlt sich dennoch ein großes Maß an Flexibilität, denn eine einmal gefundene Antwort kann unter Umständen ein sehr kurzes Haltbarkeitsdatum haben.

Sie halten vielleicht flammende Plädoyers gegen Smartphones für Kinder unter vierzehn, genau so lange, bis Sie Ihrem Fünftklässler beim Einsamsein zuschauen, weil keiner eingeladen wird, der nicht in der Klassen-Whats-App-Gruppe auftaucht. Sie schwören heilige Eide, dass Plastikspielzeug niemals ins Haus kommt, und dann ist der einzige Wunsch Ihres Kindes eine Plastikbabypuppe oder ein blinkendes Lichtschwert. Da können Sie weiter auf Ihrer Wahrheit beharren, oder es müssen neue Lösungen her, die für alle tragbar sind. Manche Wahrheit hat eine sehr kurze Halbwertszeit. Es ist wertvoll, von anderen Familien, anderen Werten, anderen Herangehensweisen zu hören, sich auszutauschen und neue Perspektiven einzunehmen. Vielleicht ist etwas dabei, was auch für Sie eine großartige Lösung wäre.

Wenn nicht, lassen Sie sich nicht verunsichern, verbuchen Sie es unter „interessante Information“ und verwerfen Sie getrost, was für Sie nicht passt. Beharrt Ihr Gegenüber vehement auf seiner Lösung, dann können Sie ihn freundlich darauf hinweisen, wie wunderbar es ist, dass sie diesen Weg für sich gefunden haben, und dass Sie sich auf Ihrem wohler fühlt. Damit leisten Sie einen wertvollen Beitrag für Ihren eigenen Seelenfrieden und gegen die Verhärtung der Fronten im Elterngefecht der Meinungen.

Nicht die Wahrheit für alle

Das gilt im Übrigen auch im umgekehrten Falle. Stell Sie sich vor, Sie haben recht. Sie sind von Ihrer Antwort und Ihrem Weg zutiefst überzeugt, und Ihr Gegenüber will es einfach nicht einsehen. Das kann einen schon fuchsig machen, nicht wahr? Gerade wenn es um Kinder, Familie und alle damit zusammenhängenden Weltanschauungsfragen geht. Ehe Sie sich versehen, liegt auch in Ihrer Stimme ein fieser Ton von Vehemenz und Schärfe. Schlucken Sie es runter, ich weiß, wie schwer das manchmal fällt. Ich finde es in solchen Situationen ausgesprochen hilfreich, mir für einen kurzen Moment diese Frage zu stellen: „Was ist, wenn der andere recht hat?“ Damit ziehe ich für einen Augenblick die Notbremse und mir fällt wieder ein, dass meine Wahrheit nicht die Wahrheit aller sein muss und ich nicht die leiseste Ahnung habe, wie eine andere Familie tatsächlich funktioniert und was für sie gut ist.

An jenem warmen Sommerabend überhörten der Gatte und ich die vorwurfsvollen Abschiedsworte unserer Freunde mit einem freundlichen Lächeln, denn wir hatten nicht die leiseste Lust auf ein Gefecht über Erziehungsfragen. Wir zogen zufrieden in die Nacht hinaus, denn wir hatten ein paar schöne Stunden erlebt. Jetzt freuten wir uns darauf, nach Hause zu kommen, wo fünf Kinder es nett gehabt hatten und nun gern ins Bett gebracht werden wollten. Für diesen Abend war unsere Familie hochzufrieden mit dem Weg, den wir für uns gefunden hatten. Und das ist schließlich das Einzige, was wirklich zählt.

Sandra Geissler ist katholische Diplomtheologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

Buchtipp
Gerade ist Sandra Geisslers Buch „Dieses kleine Stück Himmel. Mit allen Sinnen Familie leben“ bei SCM Hänssler erschienen. Anhand der fünf klassischen Sinne und des sechsten, des Herzenssinns, gibt sie Eltern Ideen und Anregungen an die Hand, das Familienleben zu gestalten und zu genießen.

„Fühle mich fast schizophren“ – Erfolgreiche Erzieherin scheitert oft als Mutter. Dann greift sie endlich durch

Als Anika Schunke Mama wird, muss sie feststellen: Ihre Erziehungstipps kann sie bei sich selbst nicht umsetzen. Doch dann macht es Klick.

Mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich Erzieherin, oder, um dem Ganzen den Qualitätsstempel zu verleihen, den es verdient: pädagogische Fachkraft im Elementarbereich. Zehn Jahre lang war ich in derselben Einrichtung tätig, welche zum Großteil dazu beigetragen hat, dass ich heute beruflich so gefestigt bin. Ich stand mit beiden Beinen im Leben, war etwa sieben Jahre lang stellvertretende Leitung, war von Kolleginnen und Eltern geschätzt und machte mich sogar nebenberuflich selbstständig. Ich habe pädagogische Prinzipien, Überzeugungen und Wertvorstellung, die sich in dieser Zeit fest verankert haben. Mir war immer bewusst, dass es etwas anderes sein würde, Mutter zu sein, spielen hier ganz andere Faktoren eine Rolle. Doch was da kommen sollte, wäre mir im Traum nicht eingefallen.

Die erste Zeit mit Baby ist für alle frisch gebackenen Eltern emotional. Daher war es für mich erst mal nicht dramatisch, dass ich nicht so entspannt und ausgeglichen war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Da sich die Erziehung zu Beginn noch im Rahmen hielt, beruhigte ich mich mit Sätzen wie „Das wird schon noch“, „Ist halt am Anfang so“ etc. Doch mit den Monaten merkte ich, das ich Dinge tat und dachte, die ich als Erzieherin nie tun oder denken würde und von denen ich sogar schon vielfach abgeraten hatte. Und obwohl es mir bewusst war, war es mir nicht möglich, anders zu handeln oder zu denken. Ich fühlte mich schon fast schizophren.

Schock im Bällebad

Zu Beginn waren es Kleinigkeiten. Zum Beispiel saß ich mit meiner etwa fünf Monate alten Tochter in einem öffentlichen Bällebad. Mit jeder Minute, die ich drin saß, mit jedem Ball, den sie anfasste und ablutschte, schrie es lauter in mir. Eine Stimme in mir rief: „Gefahr! Gefahr! Es ist ein Bazillenbad, getarnt als Bällebad.“ Doch ich hielt tapfer durch und lies meine Tochter und ihr Immunsystem lernen und wachsen. Denn die Erzieherin in mir winkte entspannt ab nach dem Motto: „Das ist nicht so wild, im Gegenteil. Und du weißt es.“

Mittlerweile ist meine Tochter fast drei Jahre alt. Wir können uns wirklich nicht beschweren, sie ist ein tolles Kind. Wir haben selten Schwierigkeiten mit ihr und wenn wir es für anstrengend und stressig halten, ist es im Vergleich zu manch anderen Familien harmlos. Aber die Konflikte häufen sich. Sie probiert mehr aus, diskutiert, bekommt kleine Wut- und Trotzanfälle, was eben alles zum Großwerden dazu gehört. Und hierbei macht sich nun die Schizophrenie zwischen Erzieherin und Mutter deutlich bemerkbar.

Ich weiß genau, dass dieses Verhalten völlig normal ist, sogar sein muss, um eine gefestigte Persönlichkeit zu entwickeln. Ich weiß auch, dass es richtig ist, wenn wir konsequent sind. Und trotzdem sitze ich heulend da und frage mich, was hier los ist. Warum kann ich nicht mit meiner gewohnten Professionalität darauf reagieren? Warum stellt sich die emotionale Mutter in mir so sehr gegen die souveräne Erzieherin? Und das, obwohl sie weiß, dass es uns allen besser ginge, wenn sie mehr mitreden könnte.

Erzieherin und Mutter im Dauerstreit

Da gibt es beispielsweise die „Situation Schnuller“. Dieser ist Fluch und Segen. Als Säugling wollte meine Tochter den Schnuller nicht, was ich prinzipiell gut finde. Jedoch hätte sie sonst den ganzen Tag an der Brust gehangen, um sich zu beruhigen, und das wollte und konnte ich nicht zulassen. Also musste der Schnuller Abhilfe schaffen. Mittlerweile ist es so, dass sie ihn ziemlich oft im Mund hat. Und das stört mich. Denn sie ist jetzt fast drei Jahre alt und ich finde, der Schnuller ist nach wie vor zur Beruhigung gedacht, also zu Ausruh- und Schlafenszeiten.

Am meisten stört mich, wenn sie ihn draußen beim Spazierengehen oder beim Radfahren im Mund hat. Ich finde es schrecklich! Denn das Bild ist so kontrovers. Auch wenn die Erzieherin in mir täglich mehrere Elterngespräche mit der Mutter in mir führt, schaffe ich es einfach nicht, ihr den Schnuller nur für die oben genannten Zeiten zu erlauben. Es ist wie eine Blockade.

Streit ums Thema Essen

Genauso ist es mit der „Situation Essen“. Wir legen beide großen Wert darauf, dass sie um gute Tischmanieren weiß. In meinem Erzieheralltag habe ich vielen Kindern unter drei Jahren das selbstständige Essen mit Löffel und Gabel beigebracht. Meine Tochter benutzt immer noch oft die Finger, obwohl es mich stört und ich es anders möchte. Ich habe oft gepredigt, dass Konsequenz das A und O ist, und ich weiß es auch ganz genau. Doch auch hier scheint diese Funktion mit dem Mutterinstinkt nicht kompatibel zu sein. Nach fast einem Jahr Theater, Gemotze und Tränen am Tisch hat die Erzieherin in mir sich doch mal energisch der Mutter gegenüber gezeigt und eine Lösung gefunden.

Die sieht so aus: Wir haben uns dafür entschieden, ihr eine positive Konsequenz anzubieten, wenn sie ordentlich isst. Auf dem Tisch liegen vier Gummibärchen. Wenn wir schimpfen müssen, weil sie ihr Essen rumschmiert, mit der Gabel rumfuchtelt etc. nehmen wir, nach einer Vorwarnung, ein Gummibärchen weg. Das vierte Gummibärchen bekommt sie, wenn sie den Teller leer gegessen hat. Was ihr nicht schmeckt, muss sie allerdings nicht essen.

Die Erzieherin erwacht

So langsam scheint die Erzieherin in mir den Ernst der Lage erfasst zu haben und mischt sich öfter ein. Ich habe das Gefühl, die Mutter in mir ist sehr erleichtert, war sie doch so oft hilflos und verzweifelt, weil sie das nötige Wissen nicht abrufen konnte. Vielleicht hat die Erzieherin in mir einfach ein bisschen Urlaub genommen oder auf Teilzeit gewechselt und das ganze Wissen mitgenommen. Nun beginnen die beiden endlich, als Team zusammenzuarbeiten. Ich merke das daran, dass ich Fachwissen wieder abrufen kann. Ich kann schwierige Situationen und ihren Ursprung besser deuten und angemessen reagieren.

Zum Beispiel in der „Situation Selbstständigkeit“. Mir ist es sehr wichtig, dass meine Tochter sich auch mal selbst beschäftigen kann. Bisher spielte das jedoch keine große Rolle, denn ich habe es als Mutter sehr genossen, viel Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Ich wollte sehen, was sie spielt. Somit war ich oft dabei, wenn sie in ihrem Zimmer gespielt hat. Dies hat aber zur Folge, dass sie es nicht gewohnt ist, sich alleine zu beschäftigen. Also stand wieder ein internes Elterngespräch an, in dem sich Erzieherin und Mutter schnell einig wurden, dass dies geübt werden muss. Die Erzieherin zaubert einige gute Ideen aus ihrem kompetenten, pädagogischen Hut und das Problem wird nun einfach angegangen. Im konkreten Fall heißt das beispielsweise: Während ich sauge, gebe ich ihr eine Aufgabe, welche sie in der Zeit erledigt. Das kann ein Puzzle sein oder etwas zum Nachbauen. So hat sie konkret ein Bild davon, was sie tun soll. Und falls das Saugen länger dauert als die Aufgabe, findet sie eher in ein selbstständiges Spiel.

Ich hoffe sehr, dass sich die nun beginnende, gute Zusammenarbeit nicht mit der Geburt des zweiten Kindes wieder auflöst. Zum Wohle aller.

Anika Schunke lebt in der Nähe von Karlsruhe und ist Erzieherin. Aktuell ist sie in Mutterschutz, arbeitete davor jedoch in einer Kita. Außerdem ist sie Autorin des Buchs „Kleine Räume, großer Spaß“. 

„Ich habe mein Kind verkorkst!“

Dass Eltern Fehler machen, ist ganz normal. Aber manchmal rutschen Eltern und Kinder in einen unguten Kreislauf, der sich über die Jahre verstärkt. Da herauszukommen, kann mühsam sein. Stefanie Diekmann berichtet von einer Beratungserfahrung.

Ich habe mein Kind verkorkst!“ – Als Claudia diesen Satz ausgesprochen hat, schaut sie mich erschrocken an. Schnell schiebt sie hinterher: „Eigentlich ist mein Mann schuld. Puh, das klingt auch so hart. Er hatte bei unseren Kindern viel Angst und ich habe unter seinem Druck dafür gesorgt, dass kein Weg zum Volleyballtraining oder Musikunterricht ohne meine Begleitung passiert. Und dass sie nur mit ausgewählten Kindern spielen. Die ständigen Diskussionen mit ihm über die möglichen Gefahren haben mich mürbe gemacht. Das sehe ich jetzt. Und jetzt ist es zu spät. Rahel ist nun 17 Jahre alt – und irgendwie verkorkst.“ Claudia ringt um Worte. Sie tastet sich an dieses fast unaussprechliche Gefühl heran.

Rahel wirkt auf Außenstehende sanft und klug. Zu Hause nehmen ihre Eltern sie aber als unausgeglichen und missgelaunt wahr. Schon immer haben ihre Hände besonders besitzergreifend nach Claudia gegriffen und sie gefordert. Ganz anders als die Kleinkinder ihrer Bekannten hatte sie viele Probleme: Schlafen nur auf dem Bauch der Eltern, Essensverweigerung, wenig Sprachentwicklung. Wenn Claudia von einer schweren Nacht mit ihr berichtete, kommentierten die anderen im Spielkreis nicht selten: „Na, was hat Rahel denn diesmal?“ Eigentlich nichts, und doch ließ Claudia sie immer wieder vom Kinderarzt durchchecken: Sie war und ist kerngesund. Vielleicht gibt es so etwas wie „alltagskompliziert“?

Immer unsicherer

Als Grundschülerin war Rahel in vielen alltäglichen Dingen hilflos. Kleinigkeiten wie das Einlegen der CD in den Kinder-CD-Spieler wurden zu einem Problem. Ihre jüngere Schwester hatte diese Hürde bereits genommen, aber Rahel stand immer noch jammernd neben der Mutter und brauchte Hilfe. Auch die Hausaufgaben waren während der kompletten Schulzeit ein Bereich voller Emotionen und Kämpfe. Claudia hat unzählige Stunden mit ihr am Esstisch verbracht. „Keine Idee meiner Freundinnen half, um sie zum eigenständigen Arbeiten zu motivieren. Sie jammerte und brauchte ständig meine Hilfe.“

Aber immer, wenn Claudia eine Idee für eine Loslösung hatte und umsetzen wollte, kam ihr Mann mit seinen Sorgen und Bedenken dazwischen. Rahel allein auf die Klassenfahrt schicken? Niemals! Also fuhr sie als Betreuerin mit. Rahel allein in den Schwimmverein lassen? Niemals. Also schwamm sie neben dem Trainingsbecken im Kinderbecken herum. Je älter Rahel wurde, desto unsicherer und unselbstständiger wurde die Jugendliche. Sie begann, leise und undeutlich zu sprechen und ihre Schultern nach vorn zu ziehen. Mit dieser angespannten Grundhaltung gelang es ihr nicht, Freundinnen zu finden.

Immer genervter

Natürlich hat Claudia sich Gedanken gemacht über ihr Verhalten. Sie hatte wohltuende Gespräche mit dem Kirchenseelsorger. Sie spürte aber, dass eine wirkliche Veränderung Kraft kosten würde. Claudia erinnert sich, dass sie sich von ihrem Alltag zwischen Kindern, Minijob und Kirchenmitarbeit so eingespannt fühlte, dass sie für das Thema „Rahel“ ganz kraftlos war. Sie zog sich immer mehr zurück. Sie half Senioren und anderen Familien mit praktischer Unterstützung, aber Rahel und den möglichen Lösungsideen für ihre Situation ging sie aus dem Weg.

Stattdessen wurde sie immer sensibler und genervter in Bezug auf ihre Tochter. Sie konnte schon an Rahels Seufzen erkennen, dass diese keinen einzigen Waffelteig im ganzen Internet finden konnte. „Um diese Alltagshürden nicht miterleben zu müssen, habe ich fix den Waffelteig selbst gemacht. Das Drama darum hat mich so genervt.“ Die Aggressionen in Claudia wachsen, je älter Rahel wird. Eine Jugendliche, deren Alltag scheinbar nur aus Hürden besteht und die ständig jammert, kostet Kraft. Dieser Kreislauf der Kraftlosigkeit hat Rahel in einen Kokon aus Überregulierung eingesponnen. Beide Eltern haben ihr immer weniger zugetraut und zugemutet.

Wendepunkt

Mit etwas Abstand und zunehmender Kraftlosigkeit wuchs bei Claudia das Gefühl, „falsch“ zu sein: als Mutter, als Familie, als Lebensraum für Rahel. „Ich spüre mein Versagen. Dass ich mich der Verantwortung entziehe. Wir brauchen einen Wendepunkt.“ Im Nachdenken erinnert sie sich an die Gespräche mit dem Seelsorger: Der Wert eines Menschen bleibt in Gottes Augen hoch – unabhängig von seinem Verhalten. Was sich für die Eltern als „verkorkst“ anfühlt, kann zu einem Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung werden. Das will Claudia angehen. Ab heute. Für jeden aus der Familie.

Während Rahel zu einem Personal Trainer geht, um ihre Körperpräsenz zu verbessern und an ihrem Stimmvolumen zu arbeiten, stehen auch Claudia und ihr Mann vor Entwicklungsaufgaben. Seinen Ängsten will Claudias Mann mit der Hilfe eines Facharztes die Stirn bieten. Warum er erst jetzt den Mut dazu hat, ist Claudia nicht klar. Vielleicht, weil sie sich bewusster positioniert und ihrem Mann zumutet, die Last seiner Ängste allein zu tragen. Sie will nicht mehr Sprachrohr seiner Sorgen sein. Claudia sucht ihren eigenen Standpunkt und wird in diesen ersten Schritten durch eine Kleingruppe der Kirche bestärkt. Täglich formuliert sie ein Gebet, um die Verantwortung für ihre Familie an Gott zurückzugeben. „Ich bin dadurch eher bereit, hinzusehen und mich nicht wegzuducken“, erklärt sie. Freundinnen haben Claudia immer wieder ermutigt, Rahel mehr zuzutrauen. Wahrzunehmen, was Rahel gelingt. Claudia beginnt zu strahlen, als sie von Rahels erstem kleinen Job erzählt. Ein Mutlächeln erleuchtet ihr Gesicht. Sie wird ihre Tochter begleiten und ihr ins Leben helfen. Auch wenn das gesamte Internet wieder mal leer ist, wenn Rahel Waffeln backen will.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin in Göttingen, verheiratet und Mutter von drei (fast) erwachsenen Kindern.

Mit Kindern streiten: Auf diese fünf Punkte kommt es an

Gerade Konflikte mit den eigenen Kindern fordern Eltern stark. Um sie gut zu meistern, braucht es laut dem Therapeuten Daniel Gulden vor allem eines: Da sein.

Kennen Sie …

  • … lautstarken Zoff mit dem 14-Jährigen, der stundenlang vor dem PC sitzt und mit Freunden zockt? Und jede Ihrer Reaktionen sorgt für schlechte Stimmung?
  • … endlose Diskussionen mit der 13-Jährigen, die nicht einsehen will, dass sie um 22 Uhr zu Hause sein muss?
  • … Diskussionen mit dem 8-Jährigen, der sich konsequent weigert, seine Hausaufgaben zu machen?
  • … gegenseitige Vorhaltungen und Vorwürfe der Eltern, weil man sich nicht einigen kann, was für die 3-Jährige in Sachen Essen richtig, wichtig und angemessen ist?

Erziehung gleicht einem Marathon. Oft machen sich Ohnmacht, Wut oder Resignation breit. Gute Vorsätze von liebevoller, verständnisvoller und partnerschaftlicher Erziehung sind wie weggeschmolzen. Wie kann Erziehung heute gelingen?

Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe beschreiben dies in ihrem Konzept der „Neuen Autorität“. Die Grundprämisse lautet: „Ich kann dich nicht zwingen, aber ich bleibe beharrlich.“ Ihr Ziel ist es, Eltern in unterschiedlichen Situationen zu unterstützen, „präsent“ zu bleiben oder die in Schieflage geratene Beziehung wiederherzustellen und zu entwickeln. Und zwar so, dass Eltern weder die eigene Position aufgeben noch mit Drohungen oder Strafen die Beziehung zu ihrem Kind gefährden. Dabei steht der Begriff der „Präsenz“ im Mittelpunkt. Präsenz beschreibt das äußere und innere Reagieren der Eltern auf das Verhalten des Kindes.
Präsenz ist die Folge innerer Haltungen, die Omer und von Schlippe so beschreiben:

  • Ich bin da! Ich bin an dir interessiert! Ich lasse mich nicht abschütteln! Ich möchte mit dir im Kontakt bleiben.
  • Ich bleibe da – auch wenn es (gerade) schwierig ist.
  • Ich kämpfe nicht gegen dich, sondern setze mich für eine wohlwollende Beziehung zu dir ein.
  • Ich kann dich nicht kontrollieren, aber ich kann und werde beharrlich bleiben.
  • Ich bleibe nicht allein.

So zeigt sich Präsenz

Aus diesen Haltungsaspekten, die in Präsenz sichtbar werden, haben Martin Lemme und Bruno Körner sechs Dimensionen formuliert, die den Begriff der Präsenz näher erläutern. Bevor Sie weiterlesen: Erinnern Sie sich an eine sich wiederholende oder einmalige schwierige Erziehungssituation. Eine Situation, in der Sie nicht so handeln konnten, wie Sie wollten. Oder in der Sie mit Ihrem Handeln oder dem Ergebnis unzufrieden waren. Ich lade Sie ein, sich diese konkrete Situation bei den folgenden Punkten jeweils vor Augen zu führen, um sie durch die Brille Ihrer Präsenz zu betrachten. Folgende Dimensionen sind dabei wesentlich:

1. Ich bin da und bleibe da.

Erinnern Sie sich: Wo genau waren Sie in diesem Konflikt? Welche Körperhaltung hatten Sie? Hat sich Ihre Körperhaltung verändert? Wie hoch war die Geschwindigkeit des Konfliktes – im Reden und Handeln? Waren Sie vielleicht abgelenkt und mit etwas anderem beschäftigt oder waren Sie ganz da?

Körperliche Präsenz beschreibt die Qualität und die Quantität der körperlichen Anwesenheit der Eltern. Dies ist geprägt durch drei Aspekte: (1) Körperliches Wohlbefinden – Eltern spüren ihre Kraft, fühlen sich wohl und stabil. (2) Geistige Klarheit – Eltern sind nicht abgelenkt. (3) Bereitschaft, sichtbar zu werden – Eltern suchen den Kontakt mit dem Kind.
Oft vermeiden Eltern aus Angst vor Konflikten kritische Situationen. Dies jedoch intensiviert die schwierige Situation. Um Körperpräsenz zu halten, ist es wichtig, gerade in kritischen Situationen einen wohlwollenden und beziehungsfördernden Kontakt zum Kind zu suchen. Dadurch zeigen Eltern: „Ich bin da – und bleibe da.“ Gleichzeitig sollte das elterliche Auftreten geprägt sein durch Zuwendung, Unterstützung und Beziehung.

Fragen zur Reflexion:

  • In welchen Momenten erlebe ich meine Energie wie und wo im Körper?
  • Bin ich in der Lage, mich ganz auf mein Kind zu konzentrieren – ohne Ablenkung?
  • Bin ich in kritischen Situationen für mein Kind sicht- und erlebbar?
  • Welche Botschaften sende ich durch meine Stimme, Körperhaltung und Mimik?

2. Ich kann handeln.

Erinnern Sie sich: Hatten Sie das Gefühl, wirksam und erfolgreich handeln zu können? Konnten Sie gegebenenfalls auf alternative Handlungsweisen (Plan B oder C) zurückgreifen?

Handlungspräsenz oder pragmatische Präsenz beschreibt die Fähigkeit der Eltern, in kritischen Momenten handlungsfähig zu bleiben und/oder verschiedene Handlungsweisen parat zu haben. Hilfreich ist es, wenn Eltern ihr Handeln unabhängig vom Verhalten des Kindes gestalten können. In manchen Situationen wissen Eltern oft nicht, wie sie konkret wirksam handeln können, oder sie haben nur eine Lösung parat, die jedoch vom Handeln des Kindes abhängt. Dadurch entstehen entweder überhitzte Konflikte, die mit Zwang und Drohung einhergehen, oder Resignation: Eltern schmeißen die Flinte ins Korn.

Eltern können ihre Handlungspräsenz stärken, wenn sie auf wiederkehrende kritische Momente einen Wenn-Dann-Plan für das eigene Verhalten erstellen. So ein Wenn-Dann-Plan könnte lauten: „Wenn ich mich durch das Verhalten des Kindes unter Druck fühle, achte ich auf meinen Atem und verringere mein Sprechtempo.“ Sollten Eltern von einem Verhalten überrascht werden, können sie sich vornehmen, nicht sofort und endgültig zu entscheiden, sondern ihre Reaktion aufzuschieben und zu vertagen.

Fragen zur Reflexion:

  • Wann erlebe ich eine hohe Handlungspräsenz? Wann eine niedrige?
  • Fühle ich mich in meinem Handeln sicher und wirksam? Verfüge ich über verschiedene Handlungsmöglichkeiten?

3. Ich habe meine Emotionen im Blick.

Erinnern Sie sich: Wie emotional haben Sie sich in der Situation erlebt? Konnten Sie Ihre Gefühle in dem Moment wahrnehmen und regulieren? Konnten Sie sich von den Gefühlen Ihres Kindes distanzieren?

Emotionale Präsenz beschreibt die Fähigkeit der Eltern, rechtzeitig aus Konflikten auszusteigen und die eigenen Gefühle und Reaktionen zu regulieren. Eltern handeln unabhängig von aufwallenden Gefühlen. Das heißt nicht, dass sie keine Emotionen mehr zeigen dürfen, sondern dass sie aus Emotionsspiralen aussteigen können. Folgende Schritte können hilfreich sein, um die emotionale Präsenz wiederherzustellen:

  • Aussteigen: Sollten in einem Konflikt „wunde Punkte“ angerührt werden und die Gefühle „hochkochen“, ist es hilfreich, sich und dem Gegenüber eine Pause zu gönnen. Dabei hilft es, durchzuatmen oder ein Thema bewusst aufzuschieben: „Ich höre, was du sagst. Ich bin damit nicht einverstanden. Ich mache mir Gedanken und komme darauf zurück.
  • Beruhigen: Eltern lernen Strategien, wie sie sich beruhigen können. Folgendes könnte dabei helfen: langsames (Aus-)Atmen, ein Spaziergang, Kontakt zu vertrauenswürdigen Menschen.
  • Darauf zurückkommen: In einem günstigen Augenblick sollten Eltern das Gespräch mit ihren Kindern wieder aufnehmen, um die Situation zu klären. Möglicherweise müssen sich Eltern auch bei ihrem Kind entschuldigen.

Fragen zur Reflexion:

  • Wie gelingt es mir, meine Emotionen rechtzeitig wahrzunehmen?
  • Inwieweit gelingt es mir, „heiße“ Situationen zu vertagen und auf günstigere Momente zu verschieben?
  • Was genau führt mich zum Verlust meiner Selbstkontrolle? Sind es immer wieder ähnliche Situationen?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, mich selbst zu beruhigen? Was hilft mir dabei?

4. Ich handle, wie ich es will.

Erinnern Sie sich: Haben Sie in dieser Situation so gehandelt, wie Sie es wollten? Waren Sie im Nachhinein von Ihrem Handeln überzeugt? Wenn Ihnen ein Fehler unterläuft, wie gehen Sie dann mit sich um?

Überzeugungs-Präsenz meint das konkrete Verhalten der Eltern, das mit ihren Werten, Vorsätzen und Grundüberzeugungen übereinstimmt. Im Eifer des Alltags erleben Eltern immer wieder, dass das Handeln von den eigenen Werten und Vorsätzen abweicht. Dies führt dazu, dass sie sich selbst oder einander verurteilen und abwerten. Ihre Präsenz wird dadurch geschwächt. Eltern, die klare Grundüberzeugungen haben und wissen, wie sie diese im Alltag umsetzen können, erleben sich wirkungsvoll und zeigen Stärke. Zur Stärkung der Überzeugungs-Präsenz ist es hilfreich, sich seiner inneren Überzeugungen bewusst zu werden und diese positiv zu formulieren.

Fragen zur Reflexion:

  • Bin ich mit dem, was ich bisher tue oder getan habe, einverstanden? Oder stelle ich mein eigenes Handeln in Frage?
  • Ist das, was ich in kritischen Situationen tue, auch das, was ich tun will?
  • Inwieweit kann ich den Haltungen von Omer/von Schlippe (s.o.) zustimmen? Welche Haltung fällt mir leicht, welche schwer?

5. Ich bleibe nicht allein.

Erinnern Sie sich: Hatten Sie das Gefühl, auf ein unterstützendes Netzwerk zurückgreifen zu können, oder fühlten Sie sich allein? Wissen Sie, an wen Sie sich wenden können, wenn eine Situation brenzlig wird?

Unter systemischer Präsenz oder Wir-Präsenz versteht man das gegenseitig stärkende und unterstützende Handeln verschiedener Erziehungspartner: (getrennt lebende) Eltern, Tanten, Großeltern, Erzieherinnen, Lehrer … Alle Beteiligten bilden ein Bündnis für das Kind und gestalten eine positive Beziehung zum Kind.

Eltern erleben sich präsent, wenn sie durch ein gutes Netzwerk Unterstützung finden. Ein Netzwerk von Unterstützern funktioniert nur dann, wenn Offenheit, Wertschätzung und Echtheit das Miteinander prägen.

Fragen zur Reflexion:

  • Welche Menschen unterstützen mich in kritischen Situationen?
  • Wen könnte ich um Unterstützung bitten? Wie und wann gestalte ich die Kontaktaufnahme in der kritischen Situation?

6. Ich habe eine gute Absicht.

Erinnern Sie sich: Was war die Absicht Ihres Handelns? Ging es Ihnen um die Beziehung zum Kind oder darum, dass Sie sich durchsetzen? Wem hat Ihr Handeln gedient? Hatten Sie in der Situation die Entwicklung des Kindes im Blick?

Mit Absichtspräsenz beschreibt man den Fokus oder die Absicht des konkreten Handelns. Die Ausgangsfrage lautet: Welches Ziel verfolge ich durch mein Tun, und woran wird mein Kind dieses erkennen? Das oberste Ziel des Handelns ist die Herstellung einer stabilen und vertrauensvollen Beziehung. In schwierigen Situationen ist es herausfordernd, die Absicht des eigenen Handelns klar im Auge zu behalten.

So kann die Absichtspräsenz gestärkt werden:

  • Eltern erleben sich stärker, wenn sie eine „gute“ Absicht haben, die eine positive Beziehung im Blick hat. Eine destruktive Absicht führt durch Fremd- oder Selbstvorwürfe zumeist zu einer inneren Schwäche. Deshalb stärkt es die Absichtspräsenz, wenn Eltern dem Kind positive Beziehungsangebote machen und die Bereitschaft signalisieren, ihm zuzuhören. Sollte der Kontakt abgebrochen sein, ist die erste Frage: Wie komme ich mit meinem Kind neu in Kontakt?
  • Fehler sind unvermeidlich. Es zeugt von Stärke, wenn Eltern für ihr Fehlverhalten um Entschuldigung bitten können.

Fragen zur Reflexion:

  • Wem dient mein Handeln?
  • Welche Absicht verfolge ich in schwierigen Erziehungssituationen? Geht es um „Sieg und Niederlage“ oder um eine positive Beziehung zu meinem Kind?
  • An welchen Gesten oder Handlungen erlebt mein Kind diese Absicht?
  • Woran kann mein Kind erkennen, dass es mir am Herzen liegt und dass ich Interesse an ihm habe?

Daniel Gulden ist Systemischer Therapeut, Supervisor und Coach für (Neue) Systemische Autorität. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Kaisersbach: beziehungs-weise.biz

„Warum sind da nackte Frauen?“

„Auf dem Rummel ist unseren Kindern (7 und 9) aufgefallen, dass an vielen Fahrgeschäften halbnackte Frauen abgebildet waren. Sie fragten, wieso die Frauen so wenig anhaben und warum es keine Männer gäbe? Wie erkläre ich das altersgerecht?“

Es ist super, dass Ihre Kinder ansprechen können, was sie irritiert und ihnen komisch erscheint. Das Schöne an dieser Frage ist, dass Sie dadurch mit Ihren Kindern ganz natürlich über die Sexualisierung unserer Gesellschaft sprechen können – ein Thema, mit dem Kinder schon früh konfrontiert werden.

Häufig kommen Kinder im jungen Teenageralter über das Smartphone ungewollt in den direkten Erstkontakt mit Nacktbildern und pornografischen Inhalten. Deswegen ist es ein wertvoller Schutz, wenn Eltern schon im Grundschulalter thematisieren, dass es solche Bilder und auch Filme gibt, wie sie darüber denken und wie Kinder damit umgehen können.

EIN GESPRÄCH IN RUHIGER MINUTE

Falls ein Kind eine solche Frage mitten im Trubel der Kirmes ausspricht, können Eltern ruhig um etwas Aufschub bitten, damit sie diese – vielleicht auch etwas überfordernde – Frage nicht in Anwesenheit anderer Zuhörer beantworten müssen. „Das ist eine wirklich gute Frage, über die ich noch etwas nachdenken möchte. Wenn wir zu Hause sind, können wir darüber reden.“ Dann sollte man das Versprechen aber auch einhalten.

In einer ruhigen Minute können Sie dann kindgemäß und möglichst sachlich erklären, dass Nacktheit für Aufmerksamkeit sorgt. Männern fällt es schnell ins Auge, wenn Frauen wenig anhaben oder aufreizend gekleidet sind. Diese Vorliebe nutzen manche Menschen, um Geld zu verdienen. „Sex sells“ ist ein Motto, das in der Werbung sehr effektiv ist, auch im Kirmesgeschäft. Die Zielgruppe dieser Art der Werbung sind vor allem Männer. Und weil Frauen sich durch Nacktbilder eher weniger ansprechen lassen, befinden sich auf den Fahrgeschäften vermutlich auch keine Bilder von Männern. Hier können Sie hinzufügen, dass es ähnliche Bilder auch auf Plakaten, in Zeitschriften oder im Internet gibt.

WERTE WEITERGEBEN

Je nach Offenheit Ihrer Kinder könnten Sie nachfragen, was sie darüber denken und wie sie diese Bilder empfinden. Überlegen Sie auch, ob Sie mit beiden Kindern gleichzeitig oder lieber einzeln sprechen wollen. Unter Umständen öffnet sich eines Ihrer Kinder mehr, wenn Bruder oder Schwester nicht mithören. Ich halte es für sehr wichtig, zu betonen, dass Nacktheit grundlegend nichts Negatives ist. Gott hat Männer und Frauen in ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit geschaffen. Und es war seine Idee, dass sich erwachsene Menschen anziehend finden. Gleichzeitig ist Nacktheit aber auch etwas sehr Persönliches und Schützenswertes. Sie könnten Ihre Kinder fragen, ob sie es gut fänden, wenn sie jeder nackt sehen würde. So kann man gut thematisieren, dass Nacktheit in manchen Situationen normal oder sogar wichtig ist, zum Beispiel im vertrauten Zuhause oder beim Arzt, in anderen aber eben auch nicht. Nutzen Sie diese Gelegenheit, und erzählen Sie in einem geschützten Rahmen, wie Sie das empfinden und geben Sie Ihre Werte kurz und knackig mit, ohne lange Vorträge zu halten.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. www.sonja-brocksieper.de
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Unser Kind hört nicht“

„Unsere Tochter (6) tut nicht, was wir ihr sagen. Sagen wir ihr, sie soll den Tisch decken, rennt sie aufs Klo und schließt sich ein. Soll sie ihre Geschwister in Ruhe lassen, nimmt sie sie hoch. Wollen wir gehen, fängt sie wieder an zu spielen. Wie können wir ihr Verhalten ändern?“

Wenn Sie das Verhalten Ihres Kindes verändern möchten, ist es notwendig zu überlegen, warum sich Ihr Kind ständig widersetzt. Dabei spielen die elementaren Bedürfnisse Ihres Kindes eine wichtige Rolle.

Grundlegend brauchen Kinder die absolute Sicherheit, dass sie als ganze Person geliebt und angenommen sind. Diese Liebe müssen Kinder immer wieder mit allen Sinnen erleben und das unabhängig von Konflikten und Brennpunkten, die das ganz normale Familienleben so mit sich bringen. Das erfordert von Eltern einen aufmerksamen Blick für ihr Kind und ein Stück Selbstreflexion. Gibt es in Ihrer Familie oder in Ihrem Umfeld eine große Veränderung, die Ihr Kind verunsichern könnte? Erleben Sie entspannte und fröhliche Familienzeiten? Haben Sie als Vater und Mutter ausreichend Ruhe und Energie für Ihr Kind? Ist sich Ihr Kind Ihrer Liebe sicher?

WEGE AUS DER MACHTKAMPF-FALLE

Haben Kinder mit inneren Nöten zu kämpfen, zeigt sich das häufig an ihrem Verhalten. Manche Kinder ziehen sich zurück, andere reagieren aufmüpfig und provozieren mit ihrem Verhalten. Vielleicht trägt Ihre Tochter irgendeine Verunsicherung oder Belastung in sich, die zu einem solch provokanten Verhalten führen könnte.

Gleichzeitig brauchen Kinder Eltern, die ihnen Orientierung und einen Rahmen für das Zusammenleben geben. Sagen Eltern nicht klar, was sie möchten, muss das Kind an den Reaktionen der Eltern ablesen, was in Ordnung ist und was nicht. Wenn sich ein Kind dann unangemessen verhält, reden sich Eltern häufig den Mund fusselig und landen in der Machtkampf-Falle. Mit vielen Worten versuchen sie ihr Kind zur Einsicht zu bewegen, doch leider selten mit Erfolg. Statt einer Lösung sind Gefühle des Ärgers und der Hilflosigkeit und vielleicht auch Tränen auf beiden Seiten die Folge.

ERWARTUNGEN KLAR FORMULIEREN

Um das zu verhindern, sollten Eltern in einer entspannten Atmosphäre erklären, was sie erwarten, und sich überlegen, wie sie handeln können, wenn sich das Kind nicht daran hält. So macht es die wichtige Erfahrung, dass es nicht ohne Folgen bleibt, wenn es die Geschwister ärgert oder sich vor Aufgaben drückt. Fragen Sie sich: Weiß Ihr Kind, welche Regeln in Ihrer Familie gelten? Wurden diese klar formuliert? Wie haben Sie bisher auf das Nichthören Ihres Kindes reagiert? Könnte es eine Hilfe sein, in einem Familiengespräch diese grundlegenden Regeln zum Essen oder Umgang mit den Geschwistern zu besprechen? Welche Konsequenz könnte es geben, wenn sich Ihre Tochter das nächste Mal im Klo einschließt, wenn der Tisch gedeckt werden soll?

Eine Verhaltensänderung können Sie nicht von heute auf morgen bewirken. Aber mit Geduld, einer konsequenten Haltung und Zuwendung für Ihr Kind wird sich der Familienalltag sicherlich nach einiger Zeit entspannen. Wenn nicht, empfehle ich eine persönliche Erziehungsberatung, die mehr in die Tiefe gehen kann.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid und ist Mitarbeiterin bei Team.F. www.sonja-brocksieper.de
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Das hat mir die Augen geöffnet“

Vier Ratschläge, die ihr erfahrene Eltern gegeben haben, begleiten Corinna Lang bis heute.

1. „DAS IST NUR EINE PHASE.“

Eltern kennen diesen Ausspruch unter Garantie. Egal, ob das Kind zahnt, trotzt oder den Schlaf verweigert, schnell wird die Phrase mit der Phase gezückt, meistens von anderen. Aber wie abgedroschen es uns auch vorkommen mag – der Satz kann in manchen Situationen trotzdem Trost spenden und das nötige Durchhaltevermögen fördern. Die Voraussetzung dafür ist, dass der Aussprechende ihn auch so meint und nicht als Synonym für „Stell dich nicht so an!“ verwendet. Und der Zuhörer muss dem Inhalt dieses Satzes auch eine Chance geben. Irgendwann ist es vorbei, die wenige Wochen alte Tochter wird nicht jeden Abend durchbrüllen, weil sie so den Tag verarbeiten muss. Und der zweijährige Sohn wird auch nicht sein Leben lang das Anziehen der Jacke verweigern oder für ihn völlig unmögliche Aufgaben, „selberleine“ erledigen wollen, wie er es formuliert. Es geht vorbei. Mit manchen Phasen kommen wir besser zurecht als mit anderen. Manche überfordern uns scheinbar maßlos und scheinen kein Ende zu nehmen. Deshalb müssen wir uns das Phasenende manchmal zusagen lassen. Das Gute ist: In jeder Phase ist auch eine Menge Spaß dabei. Und ab und zu gibt es sogar Entspannungsphasen.

2. „DU MUSST NICHT SOFORT ALLES WISSEN.“

Meine beste Freundin hatte schon Kinder, ich noch nicht. Ich beobachtete sie dabei, wie sie ihre Kinder badete. Und plötzlich tauchten all diese Fragen in meinem Kopf auf. „Woher weiß sie eigentlich immer, was die Kinder brauchen? Was essen die? Wieviel? Wie oft? Wie wickelt man? Was braucht man eigentlich alles, wenn man Kinder hat?“ Ich fühlte mich überwältigt. Eine von diesen Fragen formulierte ich laut. Und bekam eine sehr beruhigende Antwort, die besonders für familienplanende Paare eine echte Entlastung sein kann: Man muss gar nicht alles auf einmal wissen. Wenn man das Kind auf die Welt gebracht hat, kümmert man sich zuerst nur um das, was das Kind in diesem Lebensabschnitt braucht. Das wird einem auch erklärt, wenn man es noch nicht weiß. Bei den ersten Wickelversuchen muss ich mir noch keine Gedanken darum machen, was eigentlich in einen Schulranzen gehört. Mein Wissen wächst mit meinen Kindern und bisher habe ich alle Informationen immer rechtzeitig bekommen. Hebammen, Kinderärzte, Familie und Freunde haben uns immer weitergeholfen, wenn wir Fragen hatten. Von daher – keine Panik, wir wachsen mit.

3. „DU SETZT DICH JETZT HIN UND ISST!“

Klingt nicht nach einem typischen Ratschlag für Eltern. Mein Vater hat diesen Ausspruch getätigt, als unsere Tochter ein paar Monate alt war. Ich war einige Tage bei meinen Eltern zu Besuch, weil mein Mann dienstlich unterwegs war. Ich stand in der Küche und sah aus wie ein Gespenst – blass und gar nicht so richtig anwesend. Was war passiert? Ich hatte mich von unserer Tochter ordentlich durch die Gegend scheuchen lassen. Sie hat gebrüllt – ich bin gerannt. Mit Stillhütchen, Flasche, Tragehilfe, Schnuller – was auch immer mir gerade als Problemlöser erschien. Nur löste sich das Problem nie langfristig. Es kehrte keine Ruhe ein, zumindest nicht über einen längeren Zeitraum. Meine Eltern bemerkten natürlich, dass ich die Situation nicht so richtig unter Kontrolle hatte. Als mein Vater dann diesen Satz zu mir sagte: „Du setzt dich jetzt hin und isst!“, erinnerte er mich damit daran, dass ich mich nicht selbst vergessen darf. Keinem Kind ist mit einer Gespenst-Mutter geholfen. Ich setzte mich hin und aß. Sammelte Kraft. Ließ mir versichern, dass das Kind jetzt so oder so geschrien hätte. Danach ging es mir besser, und ich konnte die Situation besser bewältigen. Von daher kann ich diesen Rat weiterempfehlen: Wenn ihr alles, was euch nötig erscheint, probiert habt, setzt euch erst einmal hin und esst.

4. „WENN DU KINDER HAST, BRAUCHST DU JESUS JEDEN TAG.“

Kurz nach der Geburt unserer Tochter besuchte uns eine Freundin mit ihrem Mann. Als wir uns über die Herausforderungen unterhielten, die das Elternsein mit sich bringt, sagte sie sehr liebevoll zu mir: „Wenn du Kinder hast, brauchst du Jesus jeden Tag.“ An diesen Satz denke ich heute, fünf Jahre später, noch oft. Wie recht sie doch hatte! Allein schon die Geburt kann das Erlebnis eines Kontrollverlustes sein. Danach kommen die bereits erwähnten Entwicklungsphasen der Kinder, die alle etwas Schönes mit sich bringen, aber oft auch viel von uns fordern. Wir versuchen, Kinder, Arbeit, Freunde, Gemeinde und Freizeit irgendwie zu einem sinnvollen Konstrukt zu vereinen. Es gelingt uns aber nicht immer. Entscheidungen für und gegen Aktivitäten müssen gefällt werden. Wir müssen manchmal durchhalten, weitermachen, uns anstrengen, auch wenn die Kräfte schwinden. Denn wir sind jetzt immer Eltern, vierundzwanzig Stunden am Tag. Alleinerziehende tragen sogar die doppelte Last. Es gibt viele Wege, Jesus in diese Situationen der Herausforderungen und Entscheidungen hineinzuholen. Ich habe zum Beispiel in der Säuglingszeit unserer Kinder oft Lobpreislieder gehört. Dadurch konnte ich von mir und meinen Sorgen weg- und zu Jesus hinsehen. Hilfreich kann auch ein Gebet sein, bei dem man den ganzen Frust rauslässt und Gott um Kraft bittet. Oder gute Freunde, die einen daran erinnern, dass man nicht allein ist. Mir hilft oft schon die Gewissheit, dass Gott unsere Familie in seiner Hand hat, egal, was passiert. Wie Jesus schon sagte: „Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben.“ (Matthäus 11, 28).

Corinna Lang ist Übersetzerin und wohnt mit ihrem Mann Tobias, ihren zwei Kindern Fiona (6) und Florian (2) und Hund Bessy in Siegen.

„Lernt mein Kind genug für die Schule?“ Das rät der Elterncoach

„Meine Frau macht unserem Sohn total Druck, weil er ihrer Meinung nach zu wenig für die Schule macht. Ich finde, er ist alt genug, um es selbst zu entscheiden. Wie können wir diesen Erziehungskonflikt lösen?“

Die Beziehungen zu unseren Kindern verändern sich im Lauf ihrer Entwicklung. Ein großer Umbruch ist der Übergang von der Kindheit ins junge Erwachsenenalter. Dieser fordert sowohl uns als Eltern als auch die Teenager heraus. Eine Aufgabe für Teenager besteht darin, von der emotionalen Abhängigkeit zu mehr Selbstständigkeit zu gelangen. Für Eltern heißt eine große Lernaufgabe: von direktem Versorgen und Entscheiden hin zu mehr indirektem Begleiten und Freiheit schenken.

Diese Umstellung fällt uns nicht immer leicht. Da jeder von uns seine eigenen Erziehungserfahrungen gemacht hat, liegt die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es auch verschiedene Sichtweisen zu gleichen Themen gibt. Das kann uns als Paar herausfordern, da wir doch häufig gute Gründe für unsere Einstellungen zu bestimmten Themen haben und gerne hätten, dass der andere diese mit uns teilt. Manchmal sind hier Konflikte vorprogrammiert. Es ist gut, dass Sie sich auf den Weg machen möchten, Erziehungskonflikte gemeinsam zu lösen – trotz unterschiedlicher Sichtweisen.

SCHRITT 1: ZIEHEN SIE AN EINEM STRANG!

Finden Sie gemeinsame, realistische Erziehungsziele für Ihr Kind. Stecken Sie sich lieber kleine, erreichbare Ziele als große und unrealistische. Möglicherweise müssen Sie hier Kompromisse finden. Um das zu erreichen, schlage ich vor, sogenannte „Erziehungskonferenzen“ durchzuführen, bei denen Sie sich Zeit nehmen, ungestört über die aktuellen Erziehungsherausforderungen zu reden.

Sprechen Sie dabei auch über Ihre jeweiligen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit. Jeder hat hier seinen eigenen Rucksack auf den Schultern. Aussagen wie: „Ich werde das auf jeden Fall anders machen!“ kennen wir vermutlich alle. Unterhalten Sie sich über Ihre Erziehungserlebnisse, hören Sie einander zu. Wichtig sind nicht nur die Sachaussagen, sondern auch die geäußerten Gefühle und Einstellungen. Das schafft Verständnis für so manche Verhaltensweise.

SCHRITT 2: TREFFEN SIE EINE VEREINBARUNG

Setzen Sie sich mit Ihrem Sohn zusammen und vereinbaren Sie einen sozialen Vertrag. Was ist das Mindeste an schulischer Leistung, was wir als Eltern erwarten? Wie werden wir damit umgehen, wenn er sich nicht an die Vereinbarungen hält, und was sind positive Konsequenzen bei Einhaltung? Welches Verhalten wünscht er sich von seinen Eltern?

Besprechen Sie diese Fragen mit Ihrem Sohn und lassen Sie ihn unbedingt mitentscheiden. Handeln Sie mit ihm Grenzen und Freiräume aus. Wo ist er alt genug und kann eigene Entscheidungen treffen? Versuchen Sie Absprachen zu finden, die für alle Beteiligten zufriedenstellend sind. Geben Sie ihm die Möglichkeit, auch ungewohnte Dinge zu versuchen oder ungewöhnliche Ideen auszusprechen. Verschriftlichen Sie Ihre gemeinsamen Absprachen in einem Vertrag. Jeder sollte ihn unterschreiben. Das hat erhöht die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung – gerade vonseiten der Teenager.

Sandra Schreiber ist Beraterin und Systemischer Elterncoach im „LebensRaum Gießen“. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com