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Darum geben wir bis Klasse 9 keine Noten – So arbeitet Deutschlands Vorzeigeschule

Die Evangelische Schule Berlin Zentrum gehört zu Deutschlands erfolgreichsten Reformschulen. Uli Marienfeld, der stellvertretende Schulleiter, erklärt im Interview mit Family, wie Kinder besser lernen können und wie wichtig dafür gute Schulen sind.

 

Herr Marienfeld, Sie haben jetzt 35 Jahre Berufserfahrung als Lehrer und Schulleiter an fünf Schulen. Was haben Sie in dieser Zeit über das Lernen gelernt?

Dass Lernen möglich ist. Dass Lernen Spaß macht und eigentlich alle Menschen lernen wollen. Die Neugier, mit der Kinder auf die Welt kommen, geht – nicht nur entwicklungsbedingt, sondern auch durch ungeschickte Arrangements und Strukturen – leider oft an der Schule verloren. Doch sie kann wiederentdeckt werden.

Ich liebe es, diese Neugier zu wecken und glaube, dass man als Lehrer ganz viel bewegen kann. So wie Eltern zu Hause dafür sorgen, dass Kinder vertrauensvoll in die Welt blicken, können auch Schulen Wege bereiten, die Kinder befähigen, Gestalter des Lebens zu werden. Mir ist wichtig, ihnen zu vermitteln: Du bist gewollt. Du kannst diese Welt entdecken. Du hast Begabungen. Und wenn du hinfällst, dann helfen wir dir, wieder aufzustehen. Es geht im Leben nicht um Perfektion. Es geht um Neugier und darum, unsere Welt in Gemeinschaft zu gestalten.

 

Was sind Grundvoraussetzungen für gelingendes Lernen in der Schule?

Ich glaube, dass allen Menschen Beziehungen guttun. Und Kindern hilft es, wenn Schulen beziehungsorientiert arbeiten – im Gegensatz zu mechanischer Wissensvermittlung. Das bedingungslose Ja zu jedem Kind ist fundamental. Ich möchte vermitteln: Es ist gut, dass du da bist. Ich sehe dich. Ich nehme dich wahr, spreche dich beim Namen an. Im Gegensatz dazu ist es Gift, wenn Kinder hören: Aus dir wird nichts. Du hast hier nichts zu suchen. Lass mich in Ruhe. Oder was auch immer einem rausrutschen mag. Solche Urteile wirken viel tiefer als jede noch so gute methodische Unterrichtsreihe. Das sind die Botschaften, die bis ins Unterbewusstsein eindringen. Und besonders Kinder, die von Hause aus wenig Vertrauen haben, zutiefst verunsichern. Von daher ist Schule für mich in erster Linie ein Ort von gelebten Werten. Es ist wichtig, eine angstfreie Atmosphäre zu schaffen.

Auch Heterogenität bezüglich Begabungen, Interessen, sozialen und ethnischen Hintergründen, ist für mich eine Grundvoraussetzung für gelingendes Lernen. In Schulen wird oft versucht, eine vermeintliche Homogenität herzustellen. Dies führt dazu, dass 25 Schüler und Schülerinnen über einen Kamm geschoren werden. Es wird nicht wahrgenommen, dass sie alle Individuen sind, die auf unterschiedliche Weise aufblühen können und wollen. Schule ist gefordert, unterschiedliche Lernformen anzubieten, Mut zu machen und Neugier zu fördern. Das Grundverständnis, dass Schule Potenziale entfaltet und nicht dafür da ist zu selektieren, ist mir wichtig. Ich mag auch den Begriff der Resonanz. Es geht nicht um die Weitergabe von möglichst viel (totem) Wissen, sondern darum, dass etwas in Schwingung gebracht wird, dass sich Staunen, Begeisterung und Leidenschaft entwickeln können.

 

Welche Kompetenzen werden Schüler und Schülerinnen in Zukunft brauchen?

Vor allem geht es um Teamfähigkeit, Resilienz, Durchhaltevermögen, Kreativität und Eigenverantwortung. Dann sicher auch um ein gesundes Basiswissen in Mathe, Deutsch, Fremdsprachen, Verständnis für historische Zusammenhänge und kulturelle Unterschiede und vieles andere mehr. Doch vor allem ist Neugier wichtig – und die Bereitschaft sich in neue Situationen hineindenken zu wollen. Keiner hat eine Ahnung, wie die Lebens- und Arbeitswelt in zehn, geschweige denn in dreißig Jahren aussehen wird. Das Smartphone ist gerade mal zwölf Jahre alt. Es gab eine Welt davor, und es wird eine Welt danach geben. Wie diese aussieht, können wir nicht wissen. Doch wir können gemeinsam lernen zu unterscheiden: Wo brauche ich persönliche Begegnung? Was kann ich auf digitalem Weg machen lassen? Im Mittelalter wusste jeder, was er einmal machen würde, weil es dasselbe war, das der Großvater auch schon gemacht hatte. Das geht definitiv nicht mehr. Wir sollten junge Menschen dazu befähigen, mutig in neue, unsichere Situationen hineinzugehen.

 

Und wie kann Schule das am besten fördern?

Indem sowohl Schüler und Schülerinnen als auch Lehrer und Lehrerinnen ganzheitlich betrachtet werden und etwas von der Vielfalt reflektieren, die in dieser Welt sowieso vorhanden ist. Anstatt in isolierten Räumen auf isolierte Weise isolierte Fächer zu lehren, sollte man rausgehen, sich die Natur anschauen, im Regen nass werden und ganzheitliche – also auch körperliche und emotionale – Erfahrungen machen. Ich halte eine Kombination aus einer geschulten, fachlichen Perspektive, verbunden mit ganzheitlichen Begegnungen miteinander und der Welt für notwendig. Es ist gut, zentrale Abschlussprüfungen zu haben, doch der Weg dahin sollte sich, je nach Lebensraum und Bedürfnissen, stark unterscheiden dürfen. Bei aller Normierung von Prüfungen sollte Schulen auch Freiheit zugestanden werden, selbst zu gestalten. Da arbeiten in der Regel 20 bis 100 Akademikerinnen, die eine Menge studiert haben. Man sollte ihnen durchaus zutrauen, gemeinsam vernünftige Lehrpläne und -methoden für ihre Schule zu entwickeln.

 

Seit eineinhalb Jahren arbeiten Sie als stellvertretender Schulleiter der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Was überzeugt Sie am Konzept dieser Schule?

Dass wir mutig sind! Wir träumen und überlegen, was möglich ist. Und dann machen wir es einfach. Unsere Schüler und Schülerinnen schicken wir am Anfang der 8. bis 10. Klasse drei Wochen lang auf „Herausforderung“. Sie überlegen sich vor dem Sommer, woran sie Freude haben, formulieren es schriftlich und werden gecoacht. Dann gehen sie zu Beginn des Schuljahres in Kleingruppen – begleitet von Studierenden – in Brandenburg Kanu fahren, in Süddeutschland eine Radtour machen oder auf einen Bio-Bauernhof, um dort mitzuarbeiten. Sie lernen, in dieser Zeit mit 150 Euro auszukommen. Sie erfahren auch, dass es untereinander nicht immer so harmonisch ist, wenn man drei Wochen zusammen ist. Dadurch lernen sie das echte Leben kennen. Von den etwa 300 Jugendlichen, die wir jedes Jahr losschicken, brechen manche früher ab. Das kann passieren. Der Umgang mit dem Scheitern ist Teil des Lernprozesses.

Vieles in unserer Arbeit zielt darauf, individuelle Lernwege zu ermöglichen. Darum geben wir bis Klasse 9 keine Noten, sondern erstellen Zertifikate, die ganz bewusst reflektieren: Was hast du gut gemacht? Was kannst du? Was können deine nächsten Schritte sein? Wir haben viele fächerübergreifende Formate. Wir arbeiten häufig im Team, durchmischen uns immer wieder neu. Das hat den Vorteil, dass sich immer mehrere Kolleginnen und Kollegen um ein Projekt kümmern. Und wir evaluieren, feiern dankbar, was gelungen ist und notieren, was wir beim nächsten Durchgang verändern wollen. Wir investieren als Pädagoginnen und Pädagogen – mit Einverständnis der Eltern – drei bis fünf bezahlte Studientage pro Jahr in die Entwicklung des Unterrichts und der Schule insgesamt. Wenn man möchte, dass sich Dinge verändern, braucht man auch Zeit dafür. Dadurch machen wir kein Schuljahr genauso wie das letzte. Das ist anstrengend. Aber es ist deutlich gesünder als die Haltung: Es war vor 20 Jahren schon nicht gut, aber uns sind ja die Hände gebunden.

 

Das heißt, Sie haben den Mut, Zeiten anders zu füllen, als es im Lehrplan vorgegeben ist? Und gleichzeitig das Vertrauen, dass am Ende die Prüfungen geschafft werden?

Genau! Die Präambeln der Bildungspläne sind oft mit weitem Horizont formuliert, und die Ziele des Zentralabiturs durchaus sinnvoll. Wir waren einfach mutig, uns modernen Ansätzen zu stellen und Wege neu zu gehen. Am Anfang war es eine reine Überzeugungssache. Doch unsere Erfahrung lehrt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Das Abitur 2018 hatte einen Schnitt von 1,89 und in diesem Jahr war es 2,07. Das ist weit über dem Berliner Landesschnitt (2,4, Anm. d. Red.). Und wir sind davon überzeugt, dass das, was unsere Schülerinnen und Schüler mitnehmen, weit über diese Dezimalzahl hinausgeht.

 

Was könnte man, auch mithilfe der Anregung von Eltern, leicht an anderen Schulen übernehmen?

Jedes Jahr kommen ca. 1.000 Pädagoginnen und Pädagogen aus ganz Europa zu uns. Und unsere Schülerinnen und Schüler erzählen ihnen, wie Schule läuft. Tendenziell gibt es ja in der Grundschule und in der Sekundarstufe 1 noch eher Spielräume. Doch je weiter es „nach oben“ geht, desto dünner wird die Luft. Da kann gerade das, was hier in der Oberstufe gemacht wird, für viele richtungsweisend sein. Auf unserer Homepage der „Neuen Oberstufe“ kann man sich die Ideen anschauen und davon übernehmen, was für die eigene Situation passt. Wir haben zum Beispiel Tage für die Vermittlung von Lern- und Arbeitskompetenzen eingeführt, bieten aber auch Workshops mit lebenspraktischen Themen an. Wir bringen den Kindern bei, wie sie einen Handyvertrag ausfüllen oder einen Mietvertrag abschließen können. Das kann ganz einfach an jeder Schule installiert werden.

 

Wie können Eltern ihre Kinder am besten in Sachen Schule unterstützen?

Das Wichtigste ist, in einem guten Dialog mit der Schule zu stehen und dass man versucht, mit den Lehrerinnen und Lehrern zu reflektieren: Was läuft gut? Und was sollte sich ändern? Kinder merken, wenn Eltern und Lehrer an einem Strang ziehen. Wenn Eltern Gutes als selbstverständlich und ohne Dank mitnehmen, dann aber über Schule maulen, ohne sich für Verbesserungen einzusetzen, bringen sie ihre Kinder in die Rolle der „armen Opfer, die die Ungerechtigkeit der Welt passiv erleiden müssen“. Man muss nicht alles gut finden. Aber es hilft, sich so zu verhalten, dass bei den Kindern ankommt: „Hey, das ist eine Herausforderung. Wo liegt darin eine Chance für dich? Lässt sich eventuell etwas an den Umständen verändern?“ Und bloß keine Panik, wenn mal eine schlechte Note nach Hause gebracht wird! Wenn man ehrlich ist, hat man die selbst auch gehabt. Darum dem Kind nicht noch mehr Druck machen. Viel wichtiger ist doch, dass es Freude in der Schule hat.

 

Wann sind denn Ihrer Ansicht nach Sorgen berechtigt?

Wenn Kinder wirklich nicht wissen, was sie wollen, wenn sie dauerhaft antriebslos sind, wenn sie permanent nur am Handy sind, keine Freunde haben, nicht über die Themen reden, die sie wirklich bewegen, wenn sie ein Stück weit verloren sind. Dann sind Sorgen berechtigt. Spielsucht und Internetabhängigkeit sind leider keine Seltenheit mehr. Das sind Dinge, die wirklich relevant sind. Und man sollte nicht scheuen, sich kompetenten Rat und auch therapeutische Hilfe zu holen. Ich hoffe, dass Freundeskreise, Nachbarschaft, Sportvereine oder auch Gemeinden Orte sind, an denen Kinder – auch in Peergroups – ein Gegenüber finden. Dort können sie sich entdecken, merken, wofür ihr Herz schlägt und Leidenschaft entwickeln. Eltern sollten gerade isolierten Kindern diese Erfahrungsräume öffnen und anfangen, sich wirklich für ihr Kind zu interessieren, herauszufinden, was das Kind kann und möchte. Und ihm zugestehen, dass es anders sein darf und andere Interessen hat, als die Erwachsenen sich das manchmal vorstellen. Kinder sind gottgeschaffene, eigenständige Persönlichkeiten mit ganz eigenen Möglichkeiten. Die zu entdecken und zu fördern ist die Aufgabe von Eltern und Lehrerinnen und Lehrern.

Das Interview führte Anna Koppri.