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Wie wir Erwartungen loslassen können

Sonntagsbesuche, Enkel und Pralinen: Oft haben wir bewusste oder unbewusste Erwartungen an unsere erwachsenen Kinder. Die gilt es zu hinterfragen.

Eine Schoki für ihn, ein paar Nüsse für sie und eine Dankeschön-Karte. Unsere Tochter kommt in ihr Wohnzimmer und überreicht uns, die wir bei ihr zu Besuch sind, zum Dank für eine Unterstützung diese Kleinigkeiten. Ich bin gerührt und erfreut, denn ich hatte (fast!) nichts erwartet. Ach, wie ist das schön, dass sie honoriert: Die Eltern haben sich Zeit genommen!

Upps, gestolpert!

Ich muss schmunzeln, denn ich habe so meine Geschichte mit den Erwartungen. Früher habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht, aber jede Menge Erwartungen gepflegt. Vor Jahren habe ich ein großes Opfer gebracht, nämlich als damals Schmerzkranke zugestimmt, dass noch eine Person mit in den Urlaub kommen könne. Ich wusste früher nie, wann ich aufgrund meiner Schmerz-Problematik ausfallen würde, und wollte meinen Besten nicht mit Mehrarbeit im Urlaub belasten. Deshalb habe ich es mir dreimal überlegt, ob ich das wage. Es wäre aber ein gutes Gegenüber für unseren Sohn. Der liebe Mensch wurde also eingeladen, sagte zu und genoss mit uns die Ostseewoche. Und dann kam der Tag des Abschieds. Ich war davon ausgegangen, dass ich eine Packung Pralinen in die Hand gedrückt oder ein paar Worte ins Ohr geflüstert bekomme. Aber nichts dergleichen geschah. Einfach „Tschüss“. Die Autotür fiel ins Schloss.

Was war ich enttäuscht! Meine schöne Urlaubsfreude bekam einen gewaltigen Knick. Ich schwelgte in Enttäuschung, Frust, Traurigkeit. Mein Bester ist stoisch tiefenentspannt, was die Erwartungen an andere Menschen angeht. Früher hat das in mir eine Mischung aus grenzenloser Bewunderung, etwas Wut und Neid erzeigt. Jedenfalls lehrte er mich, ins Loslassen zu finden. Recht hatte er, denn was würde ein erbetenes Dankeschön bedeuten? Gar nichts. Außerdem musste ich ehrlich eingestehen, dass ich als Teenie auch nicht weiter war als der liebe Mensch. Seit dieser Ostseestory bin ich aufmerksamer in Sachen Erwartungen.

Keine Enkel in Sicht

„Manchmal würde ich mir wünschen, sie kommen sonntags einfach mal zum Kaffeetrinken vorbei. Die haben komplett keine Zeit für sowas, sind voll in ihrer Kirche eingespannt“, drückt eine dreifache Mutter erwachsener Kinder ihre enttäuschte Sonntagserwartung aus. Manchmal geht’s um noch mehr als einen einsamen Sonntagnachmittag. Es geht um die richtig großen Knackpunkte enttäuschter Erwartungen.
Ein gemütlicher Abend bei mir zu Hause: Im vertrauten Kreis tauschen wir uns aus. Irgendwann kommt von einer Freundin der Satz: „Sie haben uns mitgeteilt, dass sie keine Kinder bekommen möchten.“ Große Betroffenheit. Keine in der Runde sagt: „Wie schön! Dann hast du ja viel Zeit für dich und brauchst keinen Enkel betreuen.“ Im Gegenteil, wir hätten ihr so sehr Enkel gegönnt. Es ist schön, dass wir so kinderlieb und menschenfreundlich reagieren. Aber lebt in uns allen, die wir erwachsene Kinder haben, vielleicht doch manchmal eine geheime Erwartung an die Bilderbuch-Familie? Zwei Enkel, Haus und Garten mit Apfelbaum? Allzeit entspannt und besuchsbereit?

Die Realität ist oft anders: Die Tochter kann keine Kinder bekommen. Dem Sohn stirbt die Verlobte. Die Tochter ist lesbisch und möchte als Single leben. Der Sohn ist chronisch krank und traut sich keine Kinder zu. Sie haben als Paar um ein Pflegekind gekämpft und es nach kurzer Zeit wieder abgeben müssen. Sie musste sich scheiden lassen, weil es nicht mehr gemeinsam ging. Er möchte in die Mission, und selbst wenn Kinder kämen, würden die Großeltern sie wenig zu Gesicht bekommen. Das alles ist für viele von uns die oft schmerzhafte Realität, wie für andere eine satte Enkelschar, die im Obstgarten schaukelt. Vielleicht ist es an der Zeit, uns von einigen Erwartungen zu lösen? Ich möchte einige Scheren anbieten, mit denen wir unsere Erwartungsballons abschneiden und steigen lassen können.

Berechtigt oder unberechtigt?

Gibt es unberechtigte Erwartungen? Diese Frage lohnt sich durchzuspielen. Denn sie führt uns zu unseren geheimen Schmerzpunkten. Bezogen auf unsere Beziehungen können wir das einmal durchdenken: Welche meiner Erwartungen sind berechtigt und welche nicht?

Wenn ich bei meinen erwachsenen Kindern bin, darf ich sicherlich erwarten, dass ich irgendwann etwas zu essen auf den Tisch gestellt bekomme. Ein dauerhaftes Recht auf einsamkeitsreduzierende Besuche oder ständige ausführliche Teilhabe am erwachsenen Leben unserer Kinder haben wir aber nicht. Ebenso haben wir natürlich kein Recht auf Enkelkinder oder ein Gästezimmer im Zuhause unserer Töchter und Söhne.
Es geht darum, unberechtigte Erwartungen loszulassen! Wir müssen sie finden, entlarven und anschließend loslassen. Wenn ich meine Erwartungen gefunden habe, schmunzele ich oft erstmal ein Ründchen: Da hat es mich doch wieder erwischt. Nun heißt es: den Schmerz fühlen. Denn der darf sein. Wie man sich vom Schmerz lösen kann? Durch Bewusstwerden, manchmal auch durch Teilen mit vertrauten Menschen. Mir hilft zum Loslassen außerdem, die Dinge mit Gott im Gebet zu bewegen. Und manchmal sage ich innerlich den Satz: „Ich gebe dich frei für dein Leben!“ Damit verabschiede ich das erwartete Geschenk, ein Dankeschön oder die Teilnahme an einem Fest.

Druck rausnehmen

Ich bin sensibler für meine Erwartungen geworden, denn ich kenne auch die andere Seite der Medaille: Andere Menschen haben ihre Erwartungen an mich. Wie das stressen kann! Du investierst dich und weißt schon vorher: Es genügt nicht! Du spürst Verbitterung, fühlst Vorwürfe, bekommst Schuldgefühle. Druck belastet. Druck entmutigt. Wie eine unsichtbare Wand steht er zwischen mir und den anderen.
Manchmal habe ich mich mit Hilfe eines Rituals von diesem Druck befreit: All den Ärger und die negativen Gefühle aufgeschrieben, den Zettel anschließend in Gottes Hände gelegt und im Kamin vernichtet. Weil ich das selbst so belastend erlebt habe, möchte ich großherziger meinen erwachsenen Kindern gegenüber sein. Denn worauf habe ich, haben wir, ein Recht? Meiner Meinung nach weder auf ein Geschenk noch auf einen Sonntagsausflug, ein Enkelkind oder auf Pflege im Alter. Generell habe ich auf fast nichts ein Recht. Alles, was von ihrer Seite zu mir zurückkommt, sind Geschenke. Da gibt es keine offenen Rechnungen, die beglichen werden müssen. So zumindest die gute Theorie …

Noch eine Extrarunde zum Druck: Ich glaube, dass man als Kind auch Druck spüren kann, wenn Eltern nicht klar sind in ihrer Position. Vielleicht spüren Kinder manchmal eine Last, weil Eltern nicht richtig wissen, wie sie zur Sache mit dem Sonntagsausflug, der Scheidung oder der Homosexualität stehen. Im besten Fall sollten die Kinder fühlen und wissen, dass alle Lebensentscheidungen von uns Eltern nicht nur verbissen, resigniert, unentschieden oder leicht angesäuert durchgewunken werden, sondern bejaht sind. Auch wenn sie unseren Überzeugungen nicht entsprechen. Das ist Respekt. Das ist Loslassen. Das ist Liebe. In dem Moment, wo wir andere aus unseren Erwartungen entlassen, entsteht eine unglaubliche Freiheit.

Jesus und die Erwartungen

Wir haben Erwartungen an andere und andere an uns. Das ist normal und kein Grund, sich schlecht zu fühlen. Wir werden einander immer etwas schuldig bleiben. Wie schön ist das, wenn wir diesen Satz tief auf dem Herzensboden verankert haben! Denn er wird uns von unseren Idealvorstellungen befreien: Weder Partner, Kinder, Eltern, Freundinnen oder Vorbilder werden all unsere Erwartungen erfüllen können. Also „einfach“ die Erwartung spüren, die Enttäuschung bemerken, schmunzeln und zuletzt loslassen?

Vielleicht kann man von Jesus lernen: Er sollte sich in seine Familie einordnen, Sünder verurteilen, Sünder begnadigen, rechtzeitig da sein, sich für Prominente interessieren, er soll weggehen und nicht mehr hier das Reich Gottes wirken oder da bleiben und weiterhin Gottes Reich ausbreiten, er soll … Wenn wir die Evangelien daraufhin durchschauen, kann man sich fragen: Jesus, wie hast du das bewältigt? Die 1.000 Erwartungen, die andere teils lautstark geäußert haben?

Jesus hatte einen inneren Kompass. Häufig hat er sich ausgerichtet. Deshalb suchte er die Einsamkeit, damit der Fokus wieder klar war. Und was ist dabei herausgekommen? Dass er immer wieder für die Menschen da war, auch schon mal die zweite Meile mitgegangen ist und sich an anderer Stelle den Erwartungen entzogen hat. Nein, er vollbringt keine Wunder, nur um sich zu beweisen. Nein, er passt sich nicht an die Erwartung seiner Herkunftsfamilie an. Nein … Die Erwartungen Gottes, seines Vaters, haben für ihn weitaus größere Bedeutung als die Erwartungen der Menschen.

Loslassen

Können wir das abkupfern? Davon lernen, es verinnerlichen? Erst gestern wollte eine liebe Frau zeitnah ein Treffen mit mir vereinbaren. Sie erwartete, dass ich in der nächsten Woche Zeit hätte. Ich spürte beide Regungen: Gern möchte ich helfen, und gern möchte ich meine Grenzen achten. Nach einer halbwegs guten Nacht habe ich ihr erst einen Termin in vier Wochen zugesagt, damit ich mich nicht übernehme. Manchmal ist also Abstandstraining eine Lösung, um uns von Erwartungen zu befreien.

Das Schlüsselwort im Umgang mit den Erwartungen ist: loslassen. Fliegen lassen. Ziehen lassen. Dann entsteht Freiheit. Es ist der offene, erwartungsärmere, gute Umgang miteinander. Vielleicht passiert dann etwas völlig Unerwartetes. Nämlich, dass ein Kind doch sonntagnachmittags vor der Tür steht, du die Schoki in die Hand gedrückt bekommst oder ein Gespräch mit deinen großen Kids hast, das Gold wert ist.

Kerstin Wendel ist Autorin, Speakerin und Seminarleiterin aus Wetter/Ruhr. Gemeinsam mit ihrem Mann Ulrich hat sie das Buch geschrieben: Vom Glück des Loslassens – wie Herz und Leben leicht werden (SCM R.Brockhaus).

Partnerschaft: Was erwarten wir von der Liebe?

Von einer Partnerschaft erwarten wir, dass sie uns erfüllt. Aber ist unser Partner wirklich für unser Glück verantwortlich? Paarexperte Marc Bareth sieht das kritisch.

Warum hast du dich damals eigentlich für eine Beziehung mit deinem Partner entschieden? Als ich kürzlich über diese Frage nachgedacht habe, war ich überrascht und ehrlich gesagt auch ein bisschen ernüchtert, was da alles zusammengekommen ist. Ein wichtiger Grund für die Partnerschaft war natürlich, dass ich verliebt war. Aber auch, dass ich der Meinung war, dass die Charaktereigenschaften meiner Partnerin eine gute Ergänzung zu meinen waren. Und schließlich, dass ich mir gut vorstellen konnte, mit dieser Person an meiner Seite durchs Leben zu gehen. Dass sie mein Leben bereichern und ich mit ihr glücklich sein würde.

Sehnsüchte erfüllen

Allediese Gründe haben eines gemeinsam: Es geht nur um mich. „Was bringt es mir?“ als Leitfrage unserer Beziehung schien mir schon eine bedenkliche Basis für eine lebenslange Partnerschaft zu sein. Ein wenig beruhigt hat mich dann die Erkenntnis, dass es wohl allen so geht. Wir sind alle mit überwiegend eigennützigen Motiven in unsere Beziehungen gestartet.

Wir wünschen uns, dass unser Leben durch unsere Partnerschaft besser wird. Oder etwas dramatischer ausgedrückt: Wir erwarten von unserer Partnerschaft, dass sie unsere Defizite, Löcher und Sehnsüchte stopft. Wir brauchen unsere Beziehung als Krücke, um uns glücklicher oder weniger einsam zu fühlen. Und weil es unserer Partnerin oder unserem Partner wahrscheinlich ähnlich geht, stützen wir uns nun also zu zweit auf diese Krücke und hoffen, dass sie hält.

Eine Partnerschaft leidet darunter, wenn es bei diesen Motiven bleibt. Wahre Liebe kann dort entstehen, wo wir die Liebe nicht brauchen, sondern uns aus freien Stücken dafür entscheiden. Nur wenn wir nicht vom Partner abhängig sind, können wir ihn wirklich auf diese Art lieben.

Eine Quelle der Erfüllung finden

In einem der bekanntesten Trauverse aus der Bibel heißt es, dass die Liebe nicht den eigenen Vorteil sucht (1. Korinther 13,5). Oder anders übersetzt: „Die Liebe sucht nicht das Ihre.“ Das ist die Art von Liebe, von der von der Bibel die Rede ist, einer Liebe, die Gott zu uns Menschen hat. Er liebt uns nicht, weil ihm irgendetwas fehlt, was er in der Beziehung zu uns zu bekommen hofft. Und diese reife Art der Liebe soll auch das Ziel unserer Liebe sein.

Eine solche Liebe hat nichts mit falscher Demut, vorgetäuschter Selbstlosigkeit oder Verdrängung eigener Bedürfnisse zu tun. Im Gegenteil: Der Abt Bernhard von Clairvaux kam schon vor rund 900 Jahren zu dem Schluss, dass die Liebe nicht das Ihre sucht, weil sie es eben schon hat.

Ich wünsche mir, dass wir uns alle auf den Weg zu einer weniger egoistischen Liebe machen. Gelingen kann uns das, wenn wir eine Quelle finden, aus der unsere Defizite, Löcher und Sehnsüchte auf eine gesunde und nachhaltige Weise gestillt werden und dafür nicht ausschließlich unsere Partnerschaft herhalten muss.

Marc Bareth und seine Frau Manuela stärken mit FAMILYLIFE Schweiz Ehen und Familien. Marc Bareth ist der Leiter dieser Arbeit. Er bloggt unter: familylife.ch/five