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ERWACHSEN GLAUBEN

„Zurück zur ersten Liebe“ wird in Predigten oft als Ziel für die Glaubenden ausgegeben. Martin Benz plädiert dagegen für einen Aufbruch zu einer neuen, tieferen Liebe.

Glaube entwickelt sich. Wenn ich mein eigenes Leben betrachte, dann sieht mein heutiger Glaube anders aus als im Alter von 13 Jahren. Glaube geht durch Phasen, und es dient seiner Gesundheit, dass er immer wieder die Übereinstimmung mit der eigenen Lebensrealität sucht.

Je ernster Menschen ihren Glauben nehmen, desto absoluter und unveränderlicher wünschen sie ihn sich. Sie unternehmen große Anstrengungen, damit er sich nicht verändert, nicht verwässert oder lau wird. Glaube soll bleiben wie am Anfang, immer deckungsgleich mit dem Mix an Überzeugungen, den man aus einem bestimmten Bibelverständnis hergeleitet hat. Und doch erleben manche Christen über die Jahre hinweg die zunehmende Entfremdung ihres starren Glaubens von ihrem Leben. Mir begegnen immer mehr Christen, die mit ihrem Glauben ehrlich werden wollen. Für sie ist die innere Spannung zu groß geworden, und sie erleben den Glauben zunehmend als frustrierende Erfahrung. Diese Christen sind glaubensmüde, sie fühlen sich in ihrem eigenen Glauben nicht mehr zu Hause. Ein bestimmtes Entwicklungsmuster begegnet mir dabei immer wieder.

Erste Leidenschaft

Bei vielen Christen beginnt das Glaubensleben mit dem, was man typischerweise als „erste Liebe“ bezeichnet. Überwältigende Erfahrungen mit Gott oder Gemeinschaft zünden ein inneres Feuer an, das viel Glaubensenergie freisetzt. Es ist eine Phase hoher Aktivität bei nicht so hoher Reflexion dessen, was man da eigentlich glaubt. Das Leben kommt durch den Glauben erst einmal in Bewegung.

Als ich den Glauben als Teenager entdeckt habe, war er von dieser radikalen Leidenschaft geprägt. Ich habe die Bibel zweimal im Jahr durchgelesen, meine Klassenkameraden zu allen möglichen christlichen Veranstaltungen eingeladen, auf Jugendfreizeiten Traktate verteilt, meine weltlichen Schallplatten zerbrochen und die Spielkarten der Eltern verbrannt.

Klare Glaubenssysteme

Im Laufe der Zeit entwickelt sich daraus ein Glaubenssystem. Es wachsen theologische Überzeugungen und Prägungen, und man eignet sich ein bestimmtes Set an Glaubensinhalten an. Der Glaube gewinnt an Profil mit klaren Ansichten. In dieser Phase erlebt man zunächst eine wachsende Übereinstimmung zwischen Lebensrealität und Glaubensrealität.

Durch meine geistliche Prägung war ich zutiefst davon überzeugt, dass Gott alle Kranken heilt, die Bibel wörtlich zu nehmen ist, all ihre Moralvorstellungen immer noch gültig sind und Gott die Seinen vor allem Übel bewahren wird.

Ernüchternde Realität

In der dritten Phase wird diese Übereinstimmung empfindlich gestört. Durch ausbleibende Gebetserhörungen, geplatzte Lebensträume, Brüche in der eigenen Biografie, Gemeindekonflikte, Zweifel am bisherigen Bibelverständnis oder die Konfrontation mit anderen Glaubensmodellen bekommt das Glaubenssystem Risse. Die Eindeutigkeit bisheriger Überzeugungen schwindet, und man erlebt eine wachsende Enttäuschung, Skepsis und Ernüchterung dem Glauben gegenüber. Diese Phase ist oft mit Schuldgefühlen verbunden, weil man weiß, was man glauben sollte, es aber nicht mehr kann.

Bei mir war es eine zerbrochene Ehe, die mich auf den harten Boden der Realität aufschlagen ließ und an den Grundfesten meiner Glaubensüberzeugungen gerüttelt hat. Warum hat Gott meine Ehe nicht bewahrt? Warum die vielen Gebete für unsere Familie nicht erhört? Mein Gottesbild und Bibelverständnis passten nicht länger zu meiner Lebensrealität.

Wachsender Zynismus

Oftmals hält ein inneres Aufbäumen gegenüber Ernüchterung und Frustration eine Zeit lang an, nur um einen dann umso härter auf den Boden der Realität zu werfen. Die Fragen und der Zweifel, die sich eingeschlichen haben, lassen sich irgendwann nicht mehr zum Schweigen bringen. Die ständigen Appelle an die erste Liebe ziehen nicht mehr. Wer dies oft genug mitgemacht hat, dessen Ernüchterung und Frustration kann am Ende so weit führen, dass nur noch ein dumpfer Zynismus bleibt oder der Glaube gänzlich verloren geht.

Ich plädiere für einen anderen Weg: nicht zurück zur ersten Liebe, sondern durch die Veränderung unseres Glaubens, das Ernstnehmen unserer Brüche, Fragen und Zweifel die Möglichkeit schaffen, dass Glaube und Leben sich wieder zueinander entwickeln. Dadurch können eine neue Liebe und eine neue Leidenschaft wachsen für einen Glauben, der wieder authentisch und im wahrsten Sinne „glaubwürdig“ ist.

Damit Glaube sich verändert, muss er sich weiterentwickeln. Manchmal fühlt sich der eigene Glaube wie eine Wohnung an, in der man sich nicht mehr zu Hause fühlt und in die man niemanden mehr einladen möchte. Wie bei einem normalen Umzug muss sich auch der Glaube die Fragen stellen: Welche Inhalte, welche Praxis und welche Überzeugungen sind wertvoll, die ich bewahren und mit in die Zukunft nehmen möchte? Welche muss ich entsorgen, weil sie sich nicht bewährt haben oder in krankmachender Spannung zu meiner Lebensrealität stehen? Und welche sollte ich mir neu aneignen, damit der Glaube an Perspektive, Freiheit und Möglichkeiten gewinnt? Mitnehmen, entsorgen, neu anschaffen – so kann Glaube erwachsen werden.

Martin Benz arbeitet seit 30 Jahren als Theologe und Pastor und wohnt mit seiner Familie in Erlangen. Gerade ist sein Buch „Wenn der Glaube nicht mehr passt“ bei Neukirchener erschienen.

„Ohne den Glauben könnte die Ehe für uns nicht funktionieren“

„Frag den Pastor“ heißt der YouTube-Kanal, auf dem Gunnar Engel aus seinem Alltag als Dorfpastor einer kleinen Gemeinde an der Grenze zu Dänemark erzählt. Seine Frau postet auf Instagram („Segensbringer“) gestaltete Bibelverse und verkauft mittlerweile auch ihre Werke. Kennengelernt haben sich die beiden ganz standesgemäß über Facebook. Christof Klenk hat sich mit ihnen via Skype unterhalten.

Ihr habt vor einigen Monaten Nachwuchs bekommen. Wie hat sich denn euer Leben dadurch verändert?
Gunnar:
Man hat sich so viele Gedanken gemacht, so viele Gespräche mit Freunden geführt, aber wenn es dann soweit ist, dann ist alles ganz anders. Es ist wie ein riesiges Abenteuer und ein Riesengeschenk.
Anni: Es hat meine ganze Welt einmal grundlegend erschüttert. Es musste sich alles erst einmal neu sortieren. Man wird auf einmal ins kalte Wasser geschmissen und fängt an zu schwimmen.

Und musstet ihr euch als Paar neu finden?
Gunnar:
Da tauchen auf einmal eine Menge Fragen auf, die wir uns vorher nie gestellt haben. Wenn einer von uns abends weggehen will, ist jetzt mehr Absprache notwendig. Da müssen wir uns neu zusammenfinden.
Anni: Ich würde sagen, dass wir dadurch noch mehr zusammenwachsen. In der Wochenbettsituation war ich total auf Gunnar angewiesen. Mir ist sehr bewusst geworden, dass wir einander brauchen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können. Dazu kommt, dass man sich auch in der neuen Rolle als Papa und Mama sortieren muss. Diese Rollen kommen ja einfach mit dazu. Ich glaube, es ist wichtig, dass man sich eben nicht nur als Mama und Papa sieht, sondern dass man sich auch immer wieder als Paar wahrnimmt. Ich glaube, man muss sich die Zeit als Paar echt einfordern, sonst bleibt das schnell mal auf der Strecke.

Ihr habt euch über Facebook kennengelernt und dann neun Monate später schon geheiratet. Wie konntet ihr so schnell wissen, dass das passt?
Gunnar: Ich war auf Facebook nicht aktiv auf der Suche nach einer möglichen Ehefrau. Wir haben uns zufällig in einer christlichen Facebook-Gruppe kennengelernt. Die ersten vier Wochen haben wir uns nur geschrieben. Als ich Anni das erste Mal in echt gesehen habe, hatte ich das Gefühl, ich kenne sie schon. Wir hatten uns schon ganz viel unterhalten, vor allem über viele Glaubensdinge. Da hatte ich schon den Eindruck: Auf der Ebene würde es auf jeden Fall passen. Meine Beziehung zu Gott ist das Grundlegende in meinem Leben. Wenn ich einen Partner habe, der sagt: „Das ist bei mir genauso!“, dann ist schon mal eine gute Basis da. Der Rest findet sich dann irgendwie.
Anni: Bei mir war das ziemlich anders. In der Zeit, bevor wir uns kennengelernt haben, war ich ganz bewusst Single. Ich habe sehr viel gebetet und auch sehr viel darüber nachgedacht, was mir an meinem zukünftigen Partner wichtig ist. Da kam eine ganze Latte von Punkten zusammen. Freunde und Familie haben schon zu mir gesagt, dass diese Liste ziemlich unrealistisch sei. Und dann kam Gunnar und tatsächlich: Alle Dinge, die mir grundsätzlich wichtig waren, hat er total erfüllt. Ich war selber erstaunt. Dann kam aber auch im Gebet eine ganz übernatürliche Sicherheit und ein Frieden, den ich vorher nicht kannte. Da wusste ich: Das ist es jetzt.

Der Schritt vom virtuellen Kennenlernen ins wirkliche Leben fällt manchen gar nicht so leicht.
Gunnar:
Ich war zuerst am Treffpunkt, stand da vor der Tür des Cafés und habe auf sie gewartet. Ich war ganz schön nervös, aber als sie mir dann entgegenkam, hatte sie gleich so eine fröhliche, freundliche Ausstrahlung, dass ich dachte: Das wird gut.
Anni: Ich glaube, das kann sehr unterschiedlich laufen. Ich bin nicht mit der Erwartung hingegangen, dass da gleich die Funken sprühen. Wir hatten zwar viel über theologische Fragen diskutiert, aber ich habe mir gedacht, die Chance, dass auch die ganze Chemie stimmt, um sich zu verlieben, ist eher gering. Aber dann war es tatsächlich mit dem ersten Treffen um mich geschehen.

Was hat euch aneinander überrascht?
Anni:
Da gab es nicht die große Enthüllung. Es sind eher kleine Überraschungen im Alltag, dass man neue Facetten vom anderen kennenlernt.
Gunnar: Als wir Eltern geworden sind, war ich richtig geflasht, mit welcher Sicherheit und Stärke Anni das alles angegangen ist. Also von: Wir fahren ins Krankenhaus, es geht los. Bis: Wir nehmen den Kleinen jetzt mit nach Hause und das kriegen wir hin.

Ihr habt zusammen ein YouTube-Video zu Ehefragen gemacht. Ihr kommt als Paar offensichtlich sehr gut rüber. Die Kommentare darunter sind überwältigend positiv. Alle finden euch total sympathisch, obwohl eure Ansichten gar nicht so Mainstream sind. Ihr sagt zum Beispiel, dass ihr es nicht für schlau haltet, wenn Christen Nichtchristen heiraten.
Gunnar:
Also mich wundert das nicht nur bei dem Video, sondern auch bei den anderen, die ich gemacht habe. Es ist ja schon eine starke Position, die ich vertrete.
Anni: Ich habe auch mit viel mehr Gegenwind gerechnet. Das Internet kann grausam sein, aber ich denke, dass Authentizität ganz entscheidend ist. Wir zwingen ja niemandem etwas auf. Wir vertreten Standpunkte, von denen wir von tiefstem Herzen überzeugt sind. Wir erzählen von dem, was für unsere Ehe wichtig ist, um sie glücklich zu führen. Für uns ist der Glaube sehr zentral. Ohne den Glauben könnte die Ehe für uns nicht funktionieren.

Ihr sagt in dem Video auch, dass das Gebet ein großer Faktor ist, wenn ihr Streit habt. Inwiefern ist das so?
Gunnar:
Wenn ich mich über etwas aufrege, ist das oft der Standardspruch von Anni: „Komm, geh jetzt was essen und dann gehst du beten.“ Da muss es gar nicht mal um Streit zwischen uns beiden gehen. Sich mit dem zu unterhalten, der es in der Hand hat, ist tatsächlich der erste Schritt. Dabei kann ich über mich selbst reflektieren und darüber, was mein Anteil an dem Streit ist. Wenn wir beide Streit haben, dann liegt es in den allerseltensten Fällen nur an einer Seite, meistens sind wir beide beteiligt. Da ist es nicht verkehrt, jemand anderes hinzuzuholen.
Anni: Das Gebet verändert die Perspektive. Es zwingt uns, eine Haltung der Demut einzunehmen und den eigenen Balken zu identifizieren. Das Gebet verbindet unglaublich. Gott ist der, der uns beide verbindet. Das ist auch der Rahmen, wo Vergebung geschehen kann. Im Streit zu beten, kostet immer viel Überwindung und trotzdem ist es sehr heilbar.

Könnt ihr miteinander beten, wenn ihr miteinander im Clinch seid?
Anni:
Ja, man muss sich wirklich überwinden, aber wenn das dann geschehen ist …
Gunnar:
Oft beten wir erst alleine … Das Ding ist ja auch: Ich kann schwer auf jemanden böse sein, für den ich bete.

Wie habt ihr für euch entdeckt, dass ihr für YouTube und Co. geeignet seid?
Gunnar:
YouTube ist das, was ich eher mache. Anni ist im künstlerischen Bereich unterwegs. Das finde ich viel krasser. Ich habe schon immer viel fotografiert und konnte mich für Bild und Technik begeistern. Wir sind gerade im größten kommunikativen Umschwung seit 500 Jahren, seit Luther und dem Buchdruck. Als ich Pastor wurde, habe ich überlegt: Wie könnte ich das nutzen? Ich bin ja Dorfpastor kurz vor Dänemark. Wie kann ich Leute mit der besten Botschaft der Welt erreichen? Und da habe ich Möglichkeiten, die es vor 20 Jahren noch nicht so gegeben hat.
Anni:
Ich habe schon immer gemalt und war künstlerisch aktiv, aber dann hatte mir Gunnar zum Geburtstag eine Art-Journaling-Bibel geschenkt, also eine Bibel mit viel Platz zum Gestalten. Da kam ich auf die Idee, beides zu verbinden: das Wort Gottes und die Kunst, beziehungsweise die Kalligraphie. Als Gunnar meine Werke gesehen hat, meinte er: „Das ist schade, wenn die in der Schublade verstauben, lad deine Sachen doch einfach mal bei Instagram hoch.“ Ich habe das ausprobiert und gemerkt, auf wie viel positive Rückmeldung die Sachen stoßen. Ich merke, dass ich Menschen damit ermutige, selbst mit der Bibel künstlerisch aktiv zu werden. Daraus ist mit „Segensbringer“ ein eigener Shop entstanden. Das Hauptaugenmerk liegt darauf, dass ich Bibelverse „lettere“.
Gunnar:
Wir ermutigen uns da gegenseitig. Als ich die Idee mit den Videos hatte, bin ich erst mal drei Monate schwanger damit gegangen. Mit meinen ersten Videos war ich nicht glücklich. Irgendwie hat das nicht gepasst. Bis Anni mir sagte: „Das nächste, das du drehst, das veröffentlichst du auch.“ Anni sieht mehr in mir als ich in mir selbst, und manchmal auch andersherum.
Anni:
Wir haben einfach mal losgelegt und gemerkt, dass Menschen das interessiert. Das gibt einem enormen Rückenwind. Ich glaube auch, dass Gott uns nutzen möchte.

Wen erreicht ihr mit euren Internetgeschichten? Geht das über die christliche Blase hinaus?
Anni:
Ich würde sagen, man erreicht echt viele Menschen, die enttäuscht von Gott sind, sich aber weiterhin auf die Suche machen. Beim „Segensbringer-Kanal“ erreiche ich sicherlich vor allem Christen.
Gunnar: Ich glaube, das hängt stark von den Inhalten ab. Wenn ich ein Video zum Markieren von Bibelversen mache, dann ist das schon eher eins für die christliche Blase. Aber ich mache auch Geschichten aus meinem Gemeindealltag. Da schreiben mir Leute dann: „Finde ich voll toll, was du da machst. So habe ich Kirche noch nie gesehen!“ Bei manchen entsteht da ein neues Interesse an der Kirche.

Kommen Leute sonntags bei dir in den Gottesdienst, die dich über deinen YouTube-Kanal kennen?
Gunnar:
Ja, das passiert. Es ist eigentlich in jedem Gottesdienst so, dass Menschen vorbeischauen, der eine oder andere bleibt dann hängen.

Wann wird es denn ein neues Video zu Ehefragen geben?
Gunnar:
Das wollen wir bald angehen, aber man merkt das auch bei diesem Gespräch, dass es da noch jemand gibt, der Aufmerksamkeit braucht. Wenn wir zwei vor der Kamera sitzen, müssen wir schauen, wie das geht. Sonst laden wir meine Mutter ein, dass sie ihn dann eine Runde mit dem Kinderwagen fährt und wir drehen Ehe Video Teil 2. Wir wollen das machen, weil das ein superwichtiges Thema ist.

Vielen Dank für das Gespräch!

Im Training bleiben

Fast jeder Mensch träumt vom Glück in der Liebe. Aber warum tun wir so wenig für die Beziehung, wenn wir erst mal den Partner fürs Leben gefunden haben? Von Marc Bareth

Es ist ein schwülheißer Dezembernachmittag in Kenia. Meine Frau und ich sind als Referenten beim dreitägigen Leadership-Training einer lokalen Kirche im Einsatz. Jetzt, nach getaner Arbeit, lassen wir uns gerne vom Bischof die Gegend zeigen. Wir kaufen einer Frau die letzten Mangos des Tages ab. Sie schneidet sie uns gleich auf. Als wir mit ihr sprechen, erscheint ihr Sohn Carlos. Ein schlanker Junge, etwas scheu, aber mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht.

Carlos Kiprop ist dreizehn Jahre alt und hat einen Lebenstraum, dem er vieles unterordnet: Er möchte Profiläufer werden und gehört zum Stamm der Kalendjin. Und die Kalendjin sind Läufer. „Die einzig wahren Läufer“, so ihr Selbstverständnis. Tatsächlich kommen viele der weltbesten Stars aus diesem Dorf, an dessen Eingang ein großer Bogen mit der Aufschrift „Home of Champions“ steht. Auf dem Gelände der St. Patricks High School etwas außerhalb des Ortskerns dürfen nur die ehemaligen Schülerinnen und Schüler einen Baum pflanzen, die Weltmeister, Olympiasieger oder Weltrekordhalter sind. Es sind unzählige Bäume. Als wir durch die Anlage geführt werden und die Namen der Ausnahmeathleten auf den Schildern vor den Bäumen lesen, verstummen wir ehrfürchtig. Und fragen uns gleichzeitig: Wie kann ein so verschlafenes Kaff irgendwo im Hinterland von Kenia so viel Exzellenz hervorbringen?

Carlos investiert einiges, damit sein Traum in Erfüllung gehen wird. Um 6 Uhr früh macht er das, was einem dreizehnjährigen Teenager in Europa so ziemlich zuletzt einfallen würde: Er läuft ganz allein 5 Kilometer den Berg hoch und dann wieder runter. Das macht er jeden Tag, selbstverständlich auch am Wochenende. Nach dem morgendlichen Berglauf geht er zur Schule. Doch Carlos freut sich vor allem auf die Nachmittage, denn dann absolviert er mit seinem Schulteam das zweite Training des Tages. Er ist stolz darauf, dass er seine Schule im 3000-Meter-Hindernislauf repräsentieren darf.

Die Geschichte von Carlos klingt in uns bis heute nach. Wir haben uns gefragt, was wir im Westen bereit sind, in unsere Lebensträume zu investieren, zum Beispiel und im Besonderen in das Ziel einer langjährigen glücklichen Partnerschaft. In einer Umfrage gaben 81 Prozent aller deutschen Frauen und Männer an, dass eine dauerhafte Partnerschaft ein Lebenstraum von ihnen ist. Eine gelingende, erfüllende Beziehung ist für uns also ein sehr wichtiges Ziel. Das ist auch ein Grund dafür, dass das Auseinanderbrechen einer Partnerschaft immer ein massiver Einschnitt ist.

NUTZEN EINER STARKEN BEZIEHUNG

Der Nutzen einer starken, lebenslangen Partnerschaft ist wissenschaftlich klar erwiesen. Sie macht nicht nur glücklicher, sondern auch wohlhabender sowie körperlich und geistig gesünder. Und nicht zuletzt bietet sie ein sicheres Umfeld für das Aufwachsen von Kindern. Die Harvard Study of Adult Development läuft seit 1938 und ist eine der aussagekräftigsten Studien über das Leben und die Entwicklung von Erwachsenen. Die gesammelten Daten über das Leben der Studienteilnehmer und ihrer Partner, ihrer Kinder und ihrer Großkinder würden eine ganze Bibliothek füllen. Der mittlerweile vierte Direktor dieser Studie, Robert Waldinger, beschreibt eine wichtige Erkenntnis so: „Wir haben den Weg unserer Männer verfolgt, bis sie über 80 waren. Dann wollten wir auf ihre Lebensmitte zurückschauen, um zu sehen, ob wir vorhersagen können, wer zu einem glücklichen, gesunden 80-Jährigen werden würde und wer nicht. Als wir alles ausgewertet hatten, was wir über sie im Alter von 50 wussten, war es nicht ihr Cholesterinspiegel, der vorhersagte, wie alt sie werden würden, sondern wie zufrieden sie in ihren Beziehungen waren. Die Menschen, die mit 50 am zufriedensten in ihren Beziehungen waren, waren die gesündesten im Alter von 80.“ Und in seinem über 30 Millionen Mal geschauten TED-Talk fasst es Waldinger so zusammen: „Die wichtigste Botschaft der Studie lautet: Gute Beziehungen machen uns glücklicher und gesünder. Punkt.“

PARTNERSCHAFT UND GOTTESBEZIEHUNG

Dabei kann unsere Partnerschaft nicht isoliert von unseren anderen Lebensbereichen betrachtet werden, sie strahlt aus und beeinflusst unser ganzes Leben. Ungelöste Konflikte haben immer auch einen Einfluss auf unsere Spiritualität. Viele würden diese Bereiche gerne trennen, doch das geht nicht. Unsere Beziehung zu Gott und die zu unserer Partnerin oder unserem Partner sind untrennbar miteinander verbunden.

Schon vor rund 2000 Jahren schrieb ein guter Freund und Weggefährte von Jesus: „Entsprechend gilt für euch Männer: Zeigt euch im Zusammenleben mit euren Frauen verständnisvoll und nehmt auf ihre von Natur aus schwächere Konstitution Rücksicht. Sie sind ja durch Gottes Gnade Erben des ewigen Lebens genau wie ihr. Respektiert und achtet sie also, damit der Erhörung eurer Gebete nichts im Weg steht.“ (1. Petrus 3,7)

Vielen springt beim Lesen dieser Bibelverse der erste Teil ins Auge. Noch spannender finde ich aber den letzten Satz. Wer meint, er könne schlecht mit seiner Frau umgehen und seine Gebete würden trotzdem erhört, der irrt. Wir müssen unsere Partnerin oder unseren Partner respektieren und achten, wenn wir wollen, dass der Erhörung unserer Gebete nichts im Weg steht. Der Verfasser beschreibt hier sehr eindeutig eine Verbindung zwischen dem Eheleben und dem geistlichen Leben. Ich denke, dieser Bibelvers ist wenig populär, weil dieser Zusammenhang nicht gerne gehört wird. Doch auch das positive Gegenbeispiel scheint wahr zu sein: Eine liebevolle Beziehung führt offensichtlich dazu, dass der Erhörung unserer Gebete nichts mehr im Weg steht. Wenn wir in unserer Partnerschaft eine Atmosphäre der Annahme und Beziehungssicherheit schaffen, ist das eine wesentliche Grundlage, auf welcher wir wachsen und uns immer mehr in das hinein entwickeln können, was Gott für uns vorgesehen hat.

ZU WENIG INVESTIERT

Wir bekennen uns entschlossen zum Lebenstraum „dauerhafte glückliche Partnerschaft“. Doch was investieren wir wirklich, um unsere Beziehung zu stärken? Stehen wir – im übertragenen Sinn – jeden Morgen um 6 Uhr auf, um zusätzlich zu unserem normalen Teamtraining noch 10 Kilometer zu laufen? Die Kluft zwischen dem hohen Stellenwert einer langjährigen glücklichen Beziehung und den kleinen Investitionen dafür ist manchmal erschreckend. Es ist kaum zu erklären, dass wir etwas als unseren Lebenstraum bezeichnen, aber dann nicht bereit sind, wenigstens bewusst zwei Stunden pro Woche dafür einzusetzen. Nur wenigen Paaren gelingt es über die Jahre, sich regelmäßig Zeit zu nehmen, um an ihrer Beziehung zu arbeiten. Im Alltag drängen sich immer wieder Karriere, Kinder, Stress und Hobbys vor. Was uns eigentlich wichtig wäre, hat dann keinen Platz mehr.

Vielleicht liegt es daran, dass wir glauben, wir seien bereits mit der Fähigkeit zur Welt gekommen, eine gute Liebesbeziehung zu führen. Wir denken, wir müssten das nicht trainieren und keine Zeit extra dafür aufwenden, der normale Paaralltag sei genug Beziehungspflege. In anderen Lebensbereichen ist für uns das Konzept „wenig investieren und viel erwarten“ sehr irritierend. Ein Bauer beispielsweise, der auf einem Feld nichts sät und trotzdem reiche Ernte erwartet – er ist ja schließlich Bauer. Genauso absurd wäre es, wenn Carlos erwarten würde, ein guter Läufer zu werden, ohne dafür trainieren zu müssen.

BEZIEHUNGSTRAINING

Doch wie kann dieses Beziehungstraining aussehen? Es beginnt ganz banal damit, dass wir regelmäßige Zeiten zu zweit planen, um unsere Beziehung zu pflegen. Diese Zeiten müssen wir priorisieren, ja, wir müssen sie verteidigen wie eine Löwenmutter ihren Nachwuchs. Als nächstes müssen wir uns Mut antrainieren. Probleme ansprechen, den ersten Schritt machen, vergeben, uns unserem Partner öffnen, zusammen beten und uns verletzlich zeigen. Das alles braucht eine große Portion Mut, vertieft aber auch unsere Beziehung.

Der dritte Trainingstipp besteht darin, sich jährlich neue Impulse zu suchen. Sei es durch einen Ehe-Kurs, ein Paarwochenende, ein Beziehungsbuch oder ein Coaching – solche externen Anstöße bringen uns weiter auf dem Weg zum Lebenstraum „langjährige glückliche Beziehung“.

Marc Bareth schreibt regelmäßig in Family und FamilyNEXT und hat Impulse für die Ehe in seinem neuen Buch „Beziehungsstark – 5 Minuten für deine Partnerschaft“ zusammengetragen. Mehr dazu: www.familylife.ch/beziehungsstark

Ohne Vollmacht geht es nicht

Beim Thema Vorsorge sollte man nicht nur an die alten Eltern denken. Auch für erwachsene Kinder ist eine Vollmacht unerlässlich. Annunziata Hoensbroech hat das erfahren müssen.

Sie machen sich dafür stark, dass Eltern für ihre erwachsenen Kinder eine Vorsorgevollmacht haben. Warum ist das wichtig?
Ich habe selbst erfahren, dass es sehr wichtig ist. Als Eltern gehen wir davon aus, dass wir uns als Problemlöser oder als Krisenbewältiger einbringen, wenn es für unsere Kinder eng oder schwierig wird. Aber bei unseren jungen, erwachsenen Kindern haben wir mit deren Volljährigkeit das Recht verloren, so zu agieren. Es gibt dieses gefühlte Naturrecht der Eltern im juristischen Sinn nicht. Eltern fehlt ohne eine Vorsorgevollmacht die Basis, sich in einer Krise auch weiterhin um ihr Kind zu kümmern, es zu vertreten, wenn es dies nicht selbst tun kann und über 18 ist.

Sie haben auf Ihre persönlichen Erfahrungen hingewiesen …
Mein Sohn hat mit 26 Jahren während eines Studienaufenthaltes in Barcelona einen Unfall erlitten. Er wurde schwerstens verletzt und lag acht Wochen im Koma. Er war nicht in der Lage, für sich selbst zu handeln. Durch eine glückliche Fügung hatte ich eine Generalvollmacht von ihm. Von dem Moment, als ich nach Spanien flog, bis anderthalb Jahre später, als er wieder richtig auf seinen eigenen Beinen stand, habe ich diese Vollmacht unendlich oft gebraucht, um im Interesse meines Sohnes und für ihn Entscheidungen zu treffen.

Wie kam es, dass Sie für Ihren Sohn so eine Vollmacht hatten?
Für Menschen meiner Generation Mitte 50 ist es ganz normal, unsere älter werdenden Eltern zu fragen, ob sie uns eine solche Vorsorge-Vollmacht ausstellen. Im Zuge dessen habe ich auch über mich selbst nachgedacht. Ich habe das Naheliegende gemacht und meine Kinder gefragt, ob sie so eine Bevollmächtigung von mir annehmen. Das alles passierte im Vorfeld einer großen, sehr abenteuerlichen Motorradreise, die mein ältester Sohn mit seinem Zwillingsbruder geplant hatte. Da habe ich gesagt: „Alles, was mir passieren kann, kann euch auch passieren. Gerade wenn ihr jetzt auf eine Reise geht durch die Türkei, den Iran, rund ums Schwarze Meer – wollt ihr das nicht auch umgekehrt machen?“ Und so haben wir gegenseitig diese Vollmacht ausgetauscht.

Der Unfall passierte dann ja nicht bei der Motorradreise, sondern später beim Studium in Spanien. Was hätte passieren können, wenn Sie keine Vollmacht gehabt hätten?
Mit so einer Vollmacht schafft man überhaupt erst eine Gesprächsgrundlage. Die haben Sie als Eltern eines volljährigen Kindes sonst nicht. Es gilt sofort – zu Recht – die ärztliche Schweigepflicht. Um den Arzt und sich selbst auf eine juristisch abgesicherte Gesprächsgrundlage zu stellen, müssen Sie so eine Vollmacht haben. Erst dann darf ein Arzt Ihnen überhaupt Informationen über den Zustand des Patienten geben. Nur mit einer Vorsorgevollmacht haben Eltern einen Anspruch darauf, Antworten zu bekommen auf ihre Fragen: Was ist passiert? Was sind die Konsequenzen? Welche Therapien werden vorgeschlagen? Jede Operation, jede Spritze ist eine Körperverletzung, in die der Patient einwilligen muss. Wenn ein kranker Mensch dies selbst nicht kann, braucht er jemanden, der das für ihn übernimmt. Wenn keine Vorsorgevollmacht da ist, wird das Krankenhaus den vorgeschriebenen Weg zu einem Gericht gehen und sagen: „Ich brauche einen gerichtlich bestellten Betreuer, der sich um diesen Patienten kümmert.“ Das Gericht kann als Betreuer bestellen, wen es möchte. Es kann ein Familienmitglied sein, muss es aber nicht. Weil Sie in so einer Krisensituation sowieso schon schwer belastet sind, brauchen Sie nicht noch eine Auseinandersetzung mit einem Gericht, ob es Sie als Betreuer einsetzt.

Was muss man bei der Erstellung einer Vollmacht beachten?
Generell setzt sich Vorsorge aus verschiedenen Elementen zusammen. Für junge Erwachsene ist das Wichtigste eine Vorsorgevollmacht, die Eltern oder eine Vertrauensperson ermächtigt, für diesen Menschen zu sprechen und zu handeln. Diese Vollmacht sollte ein Jurist aufsetzen. Sie kann sich über verschiedene Bereiche erstrecken, zum Beispiel nur gesundheitliche Aspekte abdecken. Man kann aber auch eine Generalvollmacht erteilen. Diese deckt alle Aspekte des Lebens ab. Denn in der Regel sind mit solch einer Krise, wie wir sie erlebt haben, auch gerichtliche Auseinandersetzungen und wirtschaftliche Entscheidungen verbunden. Eine Generalvollmacht wird von einem Juristen aufgesetzt und sollte vom Notar beglaubigt werden. Das geht ganz schnell. Damit habe ich mir als Elternteil alle Handlungsfähigkeit erhalten. Ein zweites Element der Vorsorge ist die Patientenverfügung. Das ist die direkte Anweisung von mir als zukünftiger Patientin an einen zukünftigen Arzt. Eine Patientenverfügung beschäftigt sich mit medizinischen Ausnahmesituationen. Eventuell ist sie für ältere Menschen wichtiger als für junge Erwachsene.

Muss ich denn zum Rechtsanwalt gehen? Es gibt ja auch Vordrucke – zum Beispiel auch auf Ihrer Website. Reicht das nicht aus?
Auf meiner Homepage habe ich für Österreich, die Schweiz und Deutschland von Rechtsanwälten Vordrucke entwickeln lassen. Aber oft hat man das Bedürfnis, eine individuelle Anpassung vorzunehmen. Das sollte ein Jurist machen, damit es auch wasserdicht bleibt.

Und wenn das Kind den Eltern keine Vollmacht erteilen möchte?
Ich würde mich erst einmal erkundigen, woher dieser Widerwille rührt und nachfragen: Um was geht es genau? Ich würde meinem Kind erklären, dass es allem, was in einer Krise kommen mag, wirklich allein gegenübersteht. Ich würde wenigstens versuchen, ihm das dritte Element der Vorsorge nahezubringen: die Betreuungsverfügung. Damit geht es sicher, dass ein Gericht einen vorher genannten Betreuer einsetzt und ihn auch kontrolliert. Wenn das nicht die Eltern sind, ist das zu akzeptieren. Denn wen mein Kind bevollmächtigt, bleibt natürlich ihm überlassen.

Neben dem praktischen Aspekt dieser Generalvollmacht – was hat Ihnen persönlich geholfen in dieser Zeit, in der nicht klar war, wie die Geschichte ausgeht?
Als ich mich nach dem Unfall meines Sohnes in Barcelona wiederfand, hat es mich ungeheuer getragen, dass ich nicht allein durch diese Situation gehen musste. Ich habe das Glück, dass ich viele Geschwister und vier Kinder habe. Noch am selben Abend waren wesentliche Teile der Familie ebenfalls in Barcelona. Es hat eine unglaubliche Familiendynamik um uns herum stattgefunden, die wir nicht organisieren mussten. Es war immer jemand da, der uns unterstützt hat. Das war großartig, vor allem auch für Caspars Geschwister, die immer jemanden hatten, mit dem sie sprechen konnten.
Das zweite hört sich ein bisschen merkwürdig an. Ich habe einen Trick, mich selbst relativ zu setzen. Wenn es ganz dick und schwierig kommt, denke ich darüber nach, ob es jemanden gibt, der in dieser von mir als schwierig empfundenen Situation tauschen würde. Und wenn mir jemand einfällt, der mit mir tauschen würde, kann alles ja gar nicht so schlimm sein. Dann muss ich sogar noch ein bisschen dankbar sein für die Situation und für die Möglichkeiten, die ich habe. Selbst am ersten Tag im Krankenhaus sind mir Menschen eingefallen, die mit mir tauschen würden. Menschen, die keine Chance mehr haben, am Bett ihres Kindes zu sitzen und auf das Überleben zu hoffen. Was hätten die darum gegeben? Das hat mich in der Situation dankbar gemacht und mich angespornt.

Wie wichtig war für Sie das Gebet?
Das hat auch eine große Rolle gespielt. Ich war zwei, drei Tage überhaupt nicht in der Lage zu beten und habe das sehr vermisst. Das war mir vorher noch nie passiert, dass ich nicht beten konnte. Und dann hat ein Prozess eingesetzt. Mir wurde klar: Wenn ich bete, verpacke ich immer kleine Handlungsanweisungen an den lieben Gott: „Mach, dass dies und jenes passiert.“ Es sind kleine Aufträge, die wir in unser Gebet mit hineinflechten. Die Situation war aber so, dass ich nicht wusste, was jetzt passieren soll. Um was bitte oder bete ich? Das Überleben in unsäglichen Umständen ist schwierig. Aber um den Tod und das gnädige Erlösen des eigenen Kindes zu beten, ist vollkommen unmöglich. In dieser Situation hat sich der Gedanke gebildet: Ich bin für nichts verantwortlich. Ich bitte weder für das eine noch für das andere. Ich gebe mich einfach ganz in das Gottvertrauen rein: „Lieber Gott, dein Wille geschieht hier. Schenk mir nur die Kraft, damit fertig zu werden, was geschieht.“ Ich habe jede Handlungsanweisung aus meinen Gebeten herausgenommen und mich vollkommen darauf eingelassen zu beten: „Gott, dein Wille geschehe!“ Das hat mich sehr getragen – bis heute.

Das Interview führte Bettina Wendland.

Der friedliche Kampf: Das schreibt der Nikolaikirchen-Pfarrer über die DDR-Demos 1989

Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Tausende DDR-Bürger gingen im Herbst 1989 für ihre Freiheit auf die Straße. Vor seinem Tod schrieb Christian Führer, der damalige Pfarrer der Nikolaikirche, wie er diese Tage erlebt hat.

Teil 1: Hintergrund – Montag, 9. Oktober 1989

Wie zur Warnung trifft sich gerade heute Honecker mit der chinesischen Staatsdelegation des stellvertretenden Ministerpräsidenten Yao Yilin in Berlin. Die chinesische Gewaltlösung vom „Platz des Himmlischen Friedens“ scheint so nah wie nie. In Leipzig wird währenddessen über die Betriebe offiziell davor gewarnt, in die Innenstadt zu gehen, da man sich so als Staatsfeind zu erkennen gäbe. Im Volkspolizeiamt lautet die offizielle Devise für die Sicherheitskräfte: „Das Ziel des Einsatzes besteht in der Auflösung rechtswidriger Menschenansammlungen und (…) in der dauerhaften Zerschlagung gegnerischer Gruppierungen sowie der Festnahme der Rädelsführer.“ In den Krankenhäusern werden Blutkonserven gesammelt und Betten frei gemacht. Betriebskampfgruppen werden zusammengezogen und mit Gummiknüppeln bewaffnet. Hinter der „Runden Ecke“, wie die Stasizentrale im Volksmund heißt, nehmen Schützenpanzer Stellung.

Balkone werden abgesperrt

Schon am frühen Nachmittag besetzen 600 SED-Parteikader (ohne Parteiabzeichen) den Innenraum der Nikolaikirche, bevor Pfarrer Christian Führer die Balkone der Kirche absperrt – für die »Werktätigen«, die bis 17.00 Uhr arbeiten müssen, wie er bei der Begrüßung der Neulinge das Montagsgebet erklärt. Aber auch die Thomaskirche, die Michaeliskirche und die Reformierte Kirche bereiten sich auf die Friedensgebete vor.

„Wir sind das Volk“

Um 17.00 Uhr versammeln sich 10.000 Besucher in den vier völlig überfüllten Kirchen zum Montagsgebet. Bischof Johannes Hempel ruft in allen vier Kirchen die Besucher persönlich zum Gewaltverzicht auf und die Berichte aus Dresden machen Mut. Draußen warten Menschenmengen. Gemeinsam ziehen sie mit den Kerzen in der Hand zum Karl-Marx-Platz und von dort den Ring entlang. Sprechchöre skandieren „Wir sind das Volk“, „Gorbi, Gorbi“ und „Wir sind keine Rowdys“, daneben erschallen Lieder wie „We shall overcome“. Die 8.000 Einsatzkräfte kapitulieren angesichts der friedlichen 70.000. Den möglichen massiven Schusswaffeneinsatz will keiner anordnen. Selbst Einsatzleiter Helmut Hackenberg bekam von Egon Krenz keine klare Antwort. Erst als die Demonstranten schon den ganzen Innenstadtring ausfüllten, kam die Bestätigung der Leipziger Linie des Nichteingreifens, solange keine Gewalt von der Demo ausgeht. Mit Kerzenketten und dem Ruf „Keine Gewalt“ wird versucht, vor den sensiblen Punkten wie der Stasizentrale Provokationen auch aus der Demo heraus zu verhindern, was wie ein Wunder gelang.

Ein Lichtermeer

In Dresden lauschen derweil 20.000 Menschen in und vor den Kirchen den Berichten der Bürgervertreter der „Gruppe der 20“ über die Ergebnisse ihrer Gespräche mit Oberbürgermeister Berghofer am Morgen.

In Berlin bricht bei den 3.000 Besuchern in der Gethsemanekirche spontaner Jubel aus, als sie von dem friedlichen Verlauf in Leipzig hören. Der Platz rund um die Kirche wird zum Lichtermeer und auch hier ziehen sich die Sicherheitskräfte zurück. Lediglich in Halle gehen sie mit gewohnter Brutalität gegen 2.000 Demonstranten rund um die Marienkirche vor, wo sie eingekesselt massenhaft zu den „Zuführungspunkten“ gebracht werden.

Viel Gebet

Neben Leipzig, Berlin, Dresden und Halle finden Veranstaltungen in Magdeburg, Jena, Markneukirchen und Meerane statt, „die ihrem Charakter nach gegen die staatliche Ordnung in der DDR gerichtet waren“, wie ein Lagebericht am nächsten Tag meldet. Für einen friedlichen Verlauf der Montagsdemonstrationen haben an diesem Abend viele Gemeinden in der DDR gebetet.

Teil 2: Christian Führer berichtet

Was mich bis heute am meisten bewegt: Mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ war die Bergpredigt Jesu auf den Nenner gebracht! Aus dem Volk geboren, nicht von einem Pfarrer oder Bischof formuliert. Und sie haben nicht nur „Keine Gewalt!“ gedacht oder gerufen, sondern haben die Gewaltlosigkeit konsequent auf der Straße praktiziert. Menschen, die in zwei unterschiedlichen atheistischen Weltanschauungsdiktaturen aufgewachsen waren. Bei den Nazis mit Rassenhass und Kriegsvorbereitungen. An die Stelle Gottes war die „Vorsehung“ getreten. Bei den Realsozialisten mit Klassenkampf und Feindbild und atheistischer Propaganda: „Euren Jesus hat’s nie gegeben und euer Gefasel von Gewaltlosigkeit ist gefährlicher Idealismus. In der Politik zählen Geld, Armee, Wirtschaft, Medien. Alles andere kannst du vergessen!“ Dass die so erzogenen Menschen im Geist Jesu der Gewaltlosigkeit draußen auf der Straße handelten– Carl Friedrich von Weizsäcker sagte zu mir: „Das ist ein erschütternder Vorgang.“ Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn je etwas das Wort „Wunder“ verdient, dann das. Ein Wunder biblischen Ausmaßes!

Zwischen Angst und Hoffnung

Als nach dem Friedensgebet alle aus der Kirche herausgekommen waren, setzte sich die Menschenmenge langsam in Bewegung. Die Kinder hatten sie zu Hause gelassen, weil es lebensgefährlich war. Zwischen Angst und Hoffnung bewegte sich der Zug Meter um Meter vorwärts auf dem Ring.

Mit allem gerechnet außer Kerzen und Gebeten

„Wir sind das Volk!“– das bedeutete auch: „Ihr ‚Volks‘-Polizisten, für wen steht ihr eigentlich hier? Für die paar Greise in Berlin – oder was?“ Wo das Volk steht, brauchst du bei 70.000 niemandem zu erklären. Die Staatsmacht war total überrascht und verunsichert. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“, so der Volkskammerpräsident Horst Sindermann. Dafür hatten die Offiziere keinen Einsatzbefehl. Als der Zug der Menschen unangefochten den Innenstadtring passiert hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, herrschte eine ungeheure Erleichterung, dass nicht geschossen worden war. Keine zerstörte Schaufensterscheibe. Keine Sieger und Besiegten. Keiner verlor das Gesicht. Keiner büßte sein Leben ein.

Christian Führer (1943–2014), war 1989 Pfarrer in der Nikolaikirche in Leipzig. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das Wunder der Freiheit und Einheit“, erschienen bei SCM Hänssler und der Evangelischen Verlagsanstalt.

Beten! Nicht Daumen drücken!

Heute in einem Facebook-Forum für Eltern von herzkranken Kindern: Eine Mama schreibt: „Meine kleine M. ist seit 3,5 Stunden im OP. Bitte, betet für meine kleine Tochter!“ Die meisten Kommentare darauf lauten: „Daumen sind gedrückt!“

Wie traurig, denke ich. Da bittet eine verzweifelte Mama um Gebete und bekommt (fast) nur gedrückte Daumen. Anteilnahme ist gut. Aber es ist nicht das, was diese Mama gerade braucht. Und ich denke, wie schwer es für Menschen sein muss, wenn sie in Situationen der Verzweiflung und der Angst nicht die Möglichkeit sehen, sich an Gott zu wenden. Ihm das Leid zu klagen, die Sorgen vor die Füße zu werfen, um Hilfe zu bitten.

Ich bin dankbar, dass ich diese Möglichkeit kenne und sie nutzen kann. Und ich möchte jeden ermutigen, es zu probieren. Nein, Beten ist kein Allheilmittel. Und längst nicht alle Gebete werden erhört und gehen so in Erfüllung, wie ich es mir wünsche. Das ist auch etwas, das ich Gott manchmal vor die Füße werfe: Warum hast du nicht geholfen? Warum hast du nicht geheilt?

Aber ich möchte das Gebet nicht missen. Man kann es übrigens auch ausprobieren, wenn man es sonst nicht macht. Es gibt keine „richtigen“ oder „falschen“ Formulierungen. Und wenn du Menschen suchst, die mit dir oder für dich beten, in deinem Umfeld aber keine sind, empfehle ich dir amen.de. Da findest du Menschen, die für dich vor Gott eintreten und ihm deine Anliegen bringen.

Bettina Wendland, Redakteurin Family und FamilyNEXT

„Mein Kind ist überarbeitet“ – Diese drei Tipps schützen vor dem Burnout

„Mein Sohn ist vor kurzem ins Berufsleben eingestiegen und reibt sich total auf. Ständig schiebt er Überstunden und hat kaum mehr Zeit für sich. Was kann ich ihm Hilfreiches sagen, ohne mich zu sehr einzumischen?“

Es ist schwierig, auf diese Frage eine individuelle Antwort zu geben. Aber ein paar Ideen und Gedanken möchte ich gern nennen:

ACHTEN SIE AUF BEZIEHUNGEN!

Am wichtigsten im Leben von uns Menschen sind Beziehungen: zu Freunden, zu Geschwistern, zum Partner und so weiter. Wenn Ihr Sohn in einem Verein ist, einen guten Freundeskreis hat oder sich in einer Kirchengemeinde ehrenamtlich engagiert, dann hat er eine gute Basis, damit sein Leben im Gleichgewicht bleibt. Wenn er allerdings anfängt, aufgrund seiner vielen Arbeitsstunden Freunde aufzugeben oder die wöchentliche Gruppe zu meiden, ist dies kein gutes Zeichen. In diesem Fall ist es vermutlich sinnvoll, ihn darauf anzusprechen.

SEIEN SIE STOLZ!

Männer (und oft auch Frauen) neigen dazu, sich ihre Bestätigung durch Leistung zu holen. Gerade junge Männer wollen zeigen, was sie können – und das ist erst mal eine gute Sache, denn dadurch bewegt sich vieles in unserer Gesellschaft. Aber wenn junge Männer sich nur noch durch ihre Arbeit, durch Leistung, durch Erfolg definieren, dann wird es kritisch. Absolute Fokussierung auf Leistung führt nicht selten zu körperlichen und seelischen Problemen. Jeder Mensch braucht andere Menschen, die ihn bestätigen. Und Sie können Ihrem Sohn zeigen, dass Sie ihn lieben, indem Sie ihm zum Beispiel einen Brief schreiben, in dem Sie ihm sagen, was Sie an ihm schätzen, warum Sie auf ihn stolz sind: auf seine Begabungen, auf seine Art, was auch immer ihn auszeichnet.

LASSEN SIE IHN DURCH FEHLER LERNEN

Wir Menschen lernen durch Fehler. Eltern wollen ihre Kinder gern vor Fehlern oder Problemen bewahren. Aber vor allem erwachsene Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie müssen auch mal stolpern und hinfallen, um dann aus diesen Fehlern zu lernen. Und vielleicht muss Ihr Sohn erst einmal die Grenze seiner Leistungsfähigkeit erfahren, um zu lernen, seine Kraft richtig einzuteilen. Von daher mache ich Ihnen Mut, Ihren Sohn wertschätzend und betend zu begleiten auf dem Weg, den er geht – auch wenn es ein schwieriger Weg ist.

Stephan Münch ist Leiter und Gründer des Orientierungsjahrs Lebenstraum in Uffenheim (dein-lebenstraum.com). Illustration: Sabrina Müller

 

 

Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Wenn Eltern aus der Haut fahren

„Mein Sohn (5) bringt mich ständig auf die Palme. Neulich hat er beim Anziehen für den Kindergarten so lange getrödelt und gemeckert, bis ich ihn am Arm gepackt und angeschrien habe. Wie kann ich meine Gefühle im Zaum halten und meinem Kind auch in Stresssituationen beherrscht begegnen?“

Diese Situation kennt jede Mutter. Wir fühlen uns total hilflos, gestresst und überfordert. Wir kommen an unsere Grenzen und schauen dabei in emotionale Abgründe, die wir bei uns nie für möglich gehalten hätten. Das erschreckt uns und wir fühlen uns furchtbar. Verurteilen Sie sich nicht. Überlegen Sie stattdessen, wie Sie es in Zukunft besser machen können.

Beobachten Sie, in welchen Situationen Sie aus der Haut fahren. Auf immer gleiche, wiederkehrende Stresssituationen kann man sich vorbereiten! Einige Fragen, die in der beschriebenen Situation helfen könnten, sind: Warum trödelt Ihr Sohn? Möchte er überhaupt in den Kindergarten? Möchte er in dem Moment lieber noch etwas spielen? Haben Sie durch Termine Zeitlimits? Gefällt ihm die Kleidung, die für ihn bereitliegt?

DIE SITUATION ENTSTRESSEN

Sie können ihn zum Beispiel selbst Kleidung aus einer begrenzten Auswahl aussuchen lassen oder ihn auch mal im Schlafanzug in den Kindergarten schicken (dies sollten Sie natürlich vorher mit den Erzieherinnen absprechen). „Ich hab’s geschafft“-Listen können die Situation spielerisch entstressen. Ein weiterer Tipp, den Stress aus der Situation zu nehmen, ist, dass Sie sich und Ihrem Kind mehr Zeit vor dem Kindergarten lassen oder aber die Zeit vorher so begrenzen, dass Ihr Kind vor dem Gehen nicht noch ins Spielen gerät. Umso schwerer fällt es ihm dann natürlich, sich davon zu lösen.

Sie können auch mit Ihrem Kind in einem ruhigen Moment darüber sprechen, dass sein Verhalten Ihnen Stress bereitet und es fragen, wie es besser laufen kann. Manchmal muss man sich auch mal die Frage stellen: Ist an dieser Stelle ein Kampf wirklich sinnvoll und nötig?

INNERLICH BIS ZEHN ZÄHLEN

Fragen Sie auch andere Eltern, wie sie in solchen Momenten reagieren, und überlegen Sie vor solchen Eskalationen, wie Sie reagieren möchten. Vielleicht gibt es auch etwas, was Ihr Stresslevel senkt – zum Beispiel ein wenig Entschleunigung im Alltagsstress, eine Haushaltshilfe oder mehr Hilfe aus dem sozialen Umfeld? Ist die Situation da, versuchen Sie, innerlich einen Schritt zurückzutreten und bis zehn zu zählen. Und – was immer gut ist – schicken Sie ein Stoßgebet zu Gott. Sie können überhaupt (auch mit anderen) für gute Ideen beten und dafür, ruhig und liebevoll zu bleiben. Ist die Situation eskaliert, sein Sie nicht zu hart zu sich selbst. Wir alle machen Fehler. Haben Sie Geduld: Elternsein ist eine große Herausforderung, aber mit der Zeit verändert sich viel: Ihre Reaktionen und auch Ihr Kind.

Genau so, wie Sie Ihr Kind um Entschuldigung bitten können, dürfen Sie auch Gott um Vergebung bitten. Er erwartet nicht, dass Sie perfekt sind. Die gute Nachricht ist, dass Gott uns trotzdem liebt und uns genau das Kind anvertraut hat, das wir erziehen können! Wenn Gott uns das zutraut, dann hilft er auch.

Antje Voß ist verheiratet, Mutter von drei erwachsenen Kindern und arbeitet als Hebamme in Gießen. Illustration: Sabrina Müller

 

 

So was wie Stille

Bei Familie Diekmann geht es oft laut zu. Umso mehr sind sie bemüht, immer wieder Oasen der Ruhe für die ganze Familie zu schaffen.

Unser Tag ist laut, wild und bunt. Das macht uns als Familie aus. Jeder, der uns kennt, grinst über meine laute Art zu lachen, die schnellen Wortgefechte bei Diskussionen und den frotzeligen Ton zwischen uns. Nicht immer tut uns unser kraftfordernder Tag gut. Oft ächzen wir und sehnen uns nach einer Oase der Ruhe. Wir lieben daher Pausenzeiten – als ganze Familie. Nach jedem Mittagessen um 14 Uhr verschwinden wir alle in unseren Zimmern und ruhen eine Zeit lang. Die, die lange Schule haben oder berufliche Termine, verzichten darauf. Alle anderen atmen bewusst durch – bei einem spannenden Hörspiel, handyfrei beim Stillliegen, Schlafen oder Musikhören. Nur eine halbe Stunde später röchelt die Kaffeemaschine und wir treffen uns in der Küche. Nun werden Fragen aus der Schule oder zum weiteren Tag besprochen. Wir brauchen diesen kleinen Stopp am Tag, um zu spüren, wer wir sind. Um uns zu erinnern und zu vergewissern. Nicht selten ist das auch eine Chance, für die weiteren Schritte des Tages zu beten.

ATEMHOLEN BEI GOTT
Seit unsere Kinder im Grundschulalter sind, versuchen wir in unregelmäßigen Abständen, Neues über Gott zu entdekken. Wir sind keine Familie, die das einmal pro Woche tut. Immer wieder befinden wir uns aber an einem Punkt, wo wir fünf uns zum Kuscheln auf dem Sofa treffen. Zur Ruhe zu kommen, ist in Familien eine echte Aufgabe und auch bei uns ist es immer wieder Thema. Wir wollen uns bewusst für Gottes Kraft öffnen. Wir wollen gut über unsere Herausforderungen denken und reden, anstatt über Stress zu jammern. Immer wieder entscheiden wir uns für ein Frühstück im Schlafanzug mit Vorlesen und Rückenkraulen oder sogar ein Abendmahl als Familie. Ich vermisse dabei allerdings die „würdige Andacht“ unserer Kinder. Sie sind schnell wieder im Alltag. Ich aber sehne mich nach einem tiefen Atemholen mit ihnen bei Gott. Highlights gibt es dennoch: Als alle Kinder noch im Kindergarten- und Krabbelalter waren, haben wir als Familie gesungen. Manchmal fünf Minuten, manchmal fünfzehn. Henrik konnte sich diese Pause am frühen Abend einrichten und hat mit einem Kind auf dem Schoß Wunschlieder aus dem Family-Liederbuch gespielt. Nach einem kurzen Gebet gab es Abendbrot. Mir haben diese Zeiten bei Gott geholfen, mein aufgewühltes Ich für den Tagesendspurt ins Lot zu bringen.

BESONDERER MOMENT
Einmal haben wir eine Gebetsrunde gestartet und uns von Gott ein Wort für das neue Jahr gewünscht. Ein Experiment. Werden wir etwas hören oder spüren, wenn wir einige Minuten still sind? Können wir alle Gedanken zurückschieben, die nicht mit dem Gebet zu tun haben? Die Kinder haben sich auf das Wagnis eingelassen. Nach der Stille hat jeder einen Moment lang innegehalten und sein Wort notiert. In einer Austauschrunde hat jeder sein Wort vorgestellt. Es kamen einige Worte, die passend werden sollten in diesem Jahr. Ein Kind hatte nichts für sich entdecken können – auch über dieses Ergebnis haben wir gesprochen. Dieser kleine Moment war besonders, und wir Eltern hätten ihn gerne noch länger festgehalten. Diese Stille-Übung hat uns miteinander und mit Gott verbunden. Meine Ideale für Ruhe und Stille als Familie mit Gott loszulassen, ist bis heute schwer für mich. So sind unsere Kinder beim abendlichen Beten im Urlaub ratzfatz fertig. Da bin ich kaum mit meiner Wahrnehmung bei Gott angekommen.

DER LIEBEVOLLE BLICK GOTTES
Da wir zappelig sind, können wir leichter zur Ruhe kommen, wenn wir körperlich beteiligt sind. Im Kindergartenalter haben unsere Kinder beim Beten die Tennisballmassage geliebt. Da wurde ihr Körper von Fuß über Beine, Rücken, Kopf bis zurück zum anderen Fuß mit kräftigem Druck abgerollt. Die Vorgabe war, dabei nicht zu sprechen. Einfach die leisen Tönen des Atmens zu hören. Am Ende der Ruhephase habe ich oft einen Segen gesprochen, und nicht selten ist ein Kind dabei eingenickt. Was ich gerade gerne übe, ist der liebevolle Blick Gottes. Ich habe diesen Gedanken im Gebetshaus Augsburg kennengelernt. Ich atme bewusst ein und aus. Manchmal ist mein Sohn dabei, manchmal alle. Wir stellen uns vor, welche Blicke von Menschen auf uns ruhen. Welche Erwartungen von diesem Tag drängen. Es gibt einen Punkt in meiner Vorstellung, der wie durch einen Spot hell erleuchtet ist. Dort ist nun mein Platz. Ich stelle mir vor, dass Gott mich hier liebevoll ansieht als seine Tochter. Ich lasse mich von ihm ansehen. Von ihm. Voller Liebe. Ich trete nicht schnell und zappelig wieder aus dem Licht. Ich halte es aus. Ruhe ist Raum, das Innere zu spüren. Es gibt viele Wege, wie Familien diese Stille für sich entdecken können: in die Sternennacht schauen, beim Hören einer Geschichte oder beim schaumigen Vollbad in eine Kerze blicken … Stille ist ein spannender Weg voller Entdeckungen.

family_16_6_ds-pdf-adobe-acrobat-pro-dcStefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.