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Einmal noch öffnete Baby Mia die Augen – Fotograf hält bewegenden Moment für die Ewigkeit fest

Oliver Wendlandt fotografiert Sternenkinder, also Babys, die rund um die Geburt sterben. Seine Fotos helfen den Eltern. Hier erzählt er von seinem intensivsten Auftrag.

Der Alarm kam für Regensburg – 16 Uhr Nottaufe, die Eltern wollen Bilder. Also flugs ins Auto gehüpft und sehr zügig in die Klinik in Regensburg gefahren. Die Zeit war knapp, um die Taufe noch dokumentieren zu können. Einen Stau musste ich auch umfahren. 15 Minuten vor der Taufe erreichte ich die Klinik und ging schnurstracks zur Kinderintensivstation, wo mich die Schwester, die uns gerufen hatte, schon erwartete. Im Raum zwei Häuflein Elend: die Eltern.

Alles sah gut aus …

Beim kurzen Gespräch wurde das ganze Ausmaß des persönlichen Dramas offenbar: Das kleine Mädchen wurde in der 25. Schwangerschaftswoche geboren, es war zu wenig Fruchtwasser vorhanden, und das Kind war unterversorgt. Auf der Intensivstation wurde sie über Tage gepäppelt, alles sah gut aus. Das Kind nahm zu, wuchs, die Hoffnung der Eltern war groß. Dann kam es zu einer Infektion des Darmes, die von den Ärzten trotz aller Versuche nicht in den Griff zu bekommen war. Man könne nichts mehr für die Kleine tun, war die Aussage der Ärzte. So entschieden sich die Eltern, das kleine Mädchen taufen zu lassen und dann die lebenserhaltenden Systeme abzuschalten.

Die Taufe

Ich begann, bevor der Pfarrer kommen sollte, einige Bilder des Mädchens im Brutkasten zu machen – die Scheiben haben das erschwert, aber nicht unmöglich gemacht. Wenige Minuten danach kam der Pfarrer. Die Taufe war würdevoll, ich habe sie für die Eltern gefilmt. Nachdem der Pfarrer sich verabschiedet hatte, wurden dem Mädchen Schmerzmittel verabreicht und der Brutkasten samt Infusionsturm in ein anderes Zimmer gebracht, in das natürlich die Eltern der Kleinen, aber auch einige Schwestern, eine Seelsorgerin und ein Arzt mitkamen.

Winzige Händchen greifen nach der Mutter

Das Mädchen wurde vorsichtig herausgenommen und nach und nach wurden alle Schläuche abgeklemmt, lediglich das EKG lief weiter. Als ich anfing zu fotografieren (die Mutter hatte das Kind auf dem Arm), öffnete die Kleine die Augen und griff immer wieder mit den winzigen Händchen nach dem Daumen der Mutter und dem Finger des Vaters. Das war irgendwie surreal, anders kann ich das nicht beschreiben. Nach etwa 10 Minuten schloss das kleine Mädchen seine Augen für immer.

Intensiver als alles andere

Das war das zweite Kind, das ich bisher beim Sterben begleitet habe, alle anderen waren schon tot. Dadurch, dass die Kleine die Augen offen hatte und sich bewegt hat, war das aber ungleich intensiver als alles, was ich in diesem Bereich bisher erlebt habe. Die Bilder und der Film, die ich von ihr machen durfte, bedeuten neben den Erinnerungsstücken unglaublich viel für die Eltern. Sie sind sichtbarer Beweis dafür, dass das Kind da war, dass sie für kurze Zeit eine Familie waren. Sie helfen, die Kleine nicht zu vergessen. Erinnerungen verblassen – diese Fotos holen sie zurück, wenn man das Bedürfnis danach hat. Nicht nur visuelle Erinnerungen, sondern auch zum Beispiel Gerüche, Berührungen, Emotionen. Es war mir eine große Ehre, die kleine Mia zu den Sternen zu begleiten.

Oliver Wendlandt (*1966) ist Fotograf und Filmemacher. Der Vater von drei erwachsenen Kindern engagiert sich ehrenamtlich als Fotograf und als Pressesprecher bei „Dein Sternenkind“. Er lebt mit seiner Frau in Pfatter in der Oberpfalz. Dort betreiben sie eine Medienagentur. Der Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Auf das Leben!“ von Tina Tschage (adeo).

Wenn Stillen zur Qual wird

Stillberaterin Martina Parrish empfiehlt jungen Müttern, erst einmal die Ruhe zu bewahren, wenn es mit dem Stillen nicht gleich klappt.

Allenthalben wird Müttern empfohlen, ihr Baby zu stillen, weil Muttermilch das Beste und Stillen gut für die Bindung ist. Aber was, wenn es Schwierigkeiten gibt?

Es kommt auf den Zeitpunkt an. Wenn es um die ersten Tage geht, sollten Mütter versuchen, erst einmal Ruhe zu bewahren. Es ist normal, dass es am Anfang Schwierigkeiten beim Stillen gibt. Da ist es hilfreich, eine Stillberaterin oder die Wochenbetthebamme hinzuzuziehen, die viel Erfahrung auf diesem Gebiet haben und gute Tipps geben können. Es kann bis zu sechs Wochen dauern, bis sich das Stillen eingespielt hat.

Wann ist für Sie als Stillberaterin ein Punkt erreicht, wo Sie Müttern raten, vom Stillen abzusehen?

Diesen Zeitpunkt kann nur die Mutter selbst bestimmen. Wenn sie spürt, dass sie kräfte- und nervenmäßig an ihre Grenzen kommt, empfehle ich ihr, sich eine Frist zu setzen, wie lange sie noch – möglichst unter fachkundiger Begleitung – versuchen möchte, eine gute Stillbeziehung aufzubauen. Sollten Probleme wie entzündete, vielleicht auch blutende Brustwarzen, wiederkehrende Milchstaus und ein nicht zunehmendes Kind auch mit Hilfe einer Fachfrau nicht zu beseitigen sein, kann es für Mutter und Kind die sinnvollere Lösung sein, auf die Flasche umzusteigen.

Wenn es nicht klappt

Welche Alternativen zum Stillen gibt es?

Wenn man merkt, dass man zwar stillen kann, aber die Milch nicht ausreicht, ist eine Mischform aus Muttermilch und Pre-Milch eine gute Alternative. Wichtig beim Flaschenkauf ist es, auf einen Sauger zu achten, der der Brust sehr ähnlich ist, damit es zu keiner Saugverwirrung beim Säugling kommt. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe an guten Formula-Angeboten im Handel. In jüngster Zeit hat man dem Milchpulver sogenannte Humane Milch-Oligosaccharide zugesetzt, das sind Zuckermoleküle, die auch in der Muttermilch enthalten sind und den Aufbau der Darmflora unterstützen. Es reicht, dem Baby im ersten Lebensjahr Pre-Milch zu geben.

Schadet es der Mutter-Kind-Bindung, wenn Mütter ihren Babys die Flasche statt der Brust geben?

Überhaupt nicht. Wenn eine Mutter am Ende ihrer Kräfte und jede Stillmahlzeit für sie ein Horror ist, weil es ihr wehtut oder das Kind nicht satt wird und schreit, dann wird die Bindung zwischen Mutter und Kind auch nicht gestärkt, sondern eher gefährdet. In so einer Situation wird dem Kind eine ambivalente Botschaft vermittelt: Es darf zwar an die Brust, aber innerlich ist die Mutter auf Gegenwehr geschaltet. Wenn es über einen langen Zeitraum so geht, dann leidet die Beziehung darunter. Dann rate ich: Nimm dein Kind liebevoll in den Arm, guck ihm in die Augen, gib ihm die Flasche und genieße die Zweisamkeit.

Was Väter tun können

Wie kann der Partner helfen?

Ermutigen und unterstützen Sie Ihre Frau in dem, was sie will und braucht und verwöhnen Sie sie auch in den Stillmomenten, zum Beispiel, indem Sie Ihr ein Glas Wasser oder einen Tee ans Sofa oder ans Bett stellen. Versuchen Sie, ihr den Druck zu nehmen und hinter ihr zu stehen. Für die Frauen ist es auch wichtig, dass die Papas eine intensive Beziehung zum Kind aufbauen und ihr zeigen, dass sie einen Teil der Verantwortung übernehmen.

Angst vor der Geburt

„Meine Tochter (25) erwartet bald ihr erstes Kind und hat schreckliche Angst vor der Entbindung. Wie kann ich ihr helfen?“

Ängste in der Schwangerschaft, vor allem bei der Erstentbindung, sind sehr häufig: Fast jede zehnte Mutter ist davon betroffen. Die Schwangerschaft ist eine Zeit des Umbruchs, die einer Mutter viel abverlangt – körperlich, aber auch seelisch. Eine Schwangerschaft kann auch schon länger vorhandene Ängste oder Traumata reaktivieren.

ÜBER ÄNGSTE SPRECHEN

Es kann Ihrer Tochter guttun, wenn Sie sie etwas bemuttern und ihr Hilfe – nicht nur im Haushalt – anbieten, zum Beispiel durch Massagen oder Entspannungsübungen. Signalisieren Sie Ihrer Tochter gegenüber auch immer wieder Gesprächsbereitschaft. Wichtig dabei ist, ihre Gefühle und Ängste ernst zu nehmen und nicht zu beschwichtigen. Sagen Sie ihr immer wieder, dass sie nicht allein mit ihren Ängsten ist, dass es vielen Müttern so geht wie ihr und dass sie Hilfe und Unterstützung von der Familie und von Fachleuten bekommen kann. Hebammen, Doulas, Mütter- oder Familienpflegerinnen beispielsweise sind im Umgang mit Schwangeren und deren Ängsten geschult und können Hilfe anbieten.

Sehr hilfreich und entlastend für die Schwangere und ihre Angehörigen kann das Gespräch mit anderen Betroffenen sein, zum Beispiel in Foren und Selbsthilfegruppen. Zu hören, dass es anderen genauso ging, es ihnen aber mittlerweile wieder gut geht, beruhigt die Schwangere und macht ihr Mut. Auch fällt es Betroffenen diesen Müttern gegenüber oft leichter, über ihre Ängste und Gefühle zu sprechen, weil sie wissen, dass diese Ähnliches wie sie erlebt haben und sie dadurch gut verstehen können. Dieser Erfahrungsaustausch kann auch ein wichtiger Schritt sein, um sich die psychischen Probleme einzugestehen und sich gegebenenfalls professionelle Hilfe zu holen.

PROFESSIONELLE HILFE

Um den Schweregrad ihrer Ängste besser einschätzen zu können, kann die Schwangere einen Test machen. Wir haben einen Selbsteinschätzungstest auf unserer Homepage www.schatten-und-licht.de zur Verfügung gestellt. Sollte es nötig sein, kann sie einen Termin bei Schwangerschafts- oder psychosozialen Beratungsstellen, die sie bei der Stadt oder Gemeinde erfragen können, bekommen, die Sie bei psychischen Problemen beraten und ihr helfen, mit ihren Ängsten umzugehen.

Sind die Ängste sehr stark ausgeprägt, sollte die Schwangere ihren Hausarzt oder einen Facharzt für Psychiatrie aufsuchen, um sich gegebenenfalls eine Psychotherapie verschreiben zu lassen. Ein Therapeut kann ihr helfen, ihre Ängste oder Traumata aufzuarbeiten. Natürlich gibt es gegen starke Ängste auch unterstützende Medikamente, die auch in der Schwangerschaft genommen und von Fachleuten verschrieben werden können. Dazu beraten Fachstellen wie www.embryotox.de oder www.reprotox.de.

Sabine Surholt ist erste Vorsitzende der Selbsthilfe-Organisation Schatten & Licht e.V., die Frauen in Krisen rund um die Geburt unterstützt.
Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

„Wenn ich nur auf die Behinderung schaue, verpasse ich mein Kind“

Sarah träumte von einem Kind, wie man es sich eben vorstellt: schön, gesund, schlau und stark. Doch dann wurde ihr Sohn Lasse mit Trisomie 21 geboren und sie musste all ihre Vorstellungen vom vermeintlichen Mutterglück loslassen.

Jetzt ist er da. Endlich. Und er ist perfekt, mein kleiner, wunderschöner Lasse. Doch als man ihn mir auf den Bauch legen will, bleibt mein Blick an der sehr kurzen Nabelschnur hängen. Ich bin erschöpft. Ich sollte mich lieber auf meinen glücklichen Mann konzentrieren, der gerade die Schnur durchtrennt, ermahne ich mich. Aber, denke ich jetzt, wo sein kleines Köpfchen meine Brust sucht, irgendwie sieht er auch ein bisschen merkwürdig aus. Das Wort „Down-Syndrom“ kreist in meinem Kopf. Aber alle verhalten sich normal, also zwinge ich mich, es auch zu tun.

Herzfehler übersehen

Die Hebammen verlassen den Raum und kommen schnellen Schrittes mit einer Ärztin im Schlepptau wieder. Sie untersucht ihn und befragt uns nach unseren Berufen. Ob wir denn da zufällig etwas über Trisomie 21 gelernt hätten? Okay, das gehört jetzt nicht zu den Standardfragen, denke ich. Die Ärztin rät uns, ihn Tim zu nennen. Das wäre ein leichter Name, den er sich leicht merken könne. Ob er „es“ nun habe, könne sie uns nicht sagen. „Aber organisch ist er völlig unauffällig“, höre ich noch wie durch Watte. Dass sie einen schweren Herzfehler und eine Darmkrankheit übersehen hat, erfahren wir erst zwei Tage später.

Nicht mehr Mensch

Ich schaue das warme Bündel auf meinem Arm an, und es kommt mir plötzlich fremd vor. Das Kind in meinem Arm ist nicht mehr Lasse, nicht mehr mein Sohn, nicht mehr Bruder, nicht mal mehr ein Mensch – er ist Down-Syndrom. Elf Buchstaben, die alles, wirklich alles verändern. Nicht zum Guten. Können wir ihn überhaupt noch Lasse nennen? Er ist behindert, geistig und körperlich wahrscheinlich lebenslang eingeschränkt, soviel weiß ich tatsächlich noch aus dem Studium. All die Bilder von zwei Brüdern, die demnächst gemeinsam durch den Garten rennen, verrinnen in ein tiefes, schwarzes Loch.

Niemand gratuliert

Obwohl wir erst 16 Tage später den Gentest in den Händen halten, fühlen sich ab diesem Moment alle Babythemen an wie eine Beleidigung. Falsch. Unnötig. Übertrieben. Über Krankheit und Defizite zu sprechen, fühlt sich richtig an. Die vorher liebevoll ausgesuchten Strampler bleiben in der Tasche. Sollen wir überhaupt Geburtskarten versenden? Keiner gratuliert mir, und das passt zu meinem Eindruck. Wieso habe ich eigentlich das Gefühl, ich muss die anderen trösten? Aber über all diese Gedanken schiebt sich ein anderer, größerer: Ich liebe ihn. Und ich habe einen starken Mann an meiner Seite. Das beruhigt mich.

Traurige Tatsachen

Aber der Reihe nach: Ich heiße Sarah, bin glücklich verheiratet und Lehrerin in Elternzeit. Bei der normalerweise folgenden Angabe – Mutter zweier Jungs – machte sich lange ein diffuses, schuldiges Gefühl in mir breit. Und so fügte ich immer gleich hinzu, dass der eine Junge Träger einer Behinderung sei. Ich fühlte mich, als müsste ich seine Existenz rechtfertigen. Als müsste ich damit ein Gleichgewicht herstellen. Und das ist nicht nur ein Gefühl, es beruht auf traurigen Tatsachen.

Keine Abtreibung

„Es ist in Deutschland leichter, ein Kind mit Behinderung abzutreiben, als einen Baum zu fällen“, titelte vor kurzem eine Zeitschrift. Neun von zehn Eltern entscheiden sich gegen ein Kind mit Down-Syndrom. In Island ist seit acht Jahren überhaupt keins mehr mit diesem Gendefekt geboren worden. Nun ist man als Mama von einem Kind mit Down-Syndrom dazu gezwungen, das eigene geliebte Kind als Risiko zu sehen, als etwas, das in unserer Zeit doch nicht mehr sein muss …

Foto: Sarah Boll

Foto: Sarah Boll

Wie ein Mahnmal

Manchmal spüre ich den Druck so stark, dass ich mich am liebsten mit Lasse in einem sicheren Kokon verschanzen würde, um mich all dem da „draußen“ nicht mehr stellen zu müssen. Nicht mehr den mitleidigen Blicken von Passanten ausgesetzt zu sein. Nicht mehr den Anflug von Erleichterung in ihrem Gesicht zu erhaschen, dass es sie nicht getroffen hat. Denn egal, wo ich mit ihm auftauche, er fällt auf. Er ist wie ein Mahnmal, denke ich an schlechten Tagen. Er zeigt uns, dass es eben auch schiefgehen kann, dass das Leben unberechenbar ist und es anders kommen kann, als man denkt.

Starker Glaube

„Sie können aber dankbar sein“, reißt mich eine ältere Dame aus meinen trübsinnigen Gedanken, als ich Lasse vor dem Krankenhaus herumschiebe, „so ein süßer Junge“. Es berührt mich sehr. Sie hat so recht. Und ich bin es auch wirklich, jeden Tag mehr. Das erste Jahr meistern wir trotz mehrerer Operationen erstaunlich gut. Beide in Elternzeit richten wir uns das Leben zwischen Klinik und Kleinkind zu Hause gut ein. Wir wechseln den Wohnort, und ich arbeite sogar ein bisschen an meiner Selbstständigkeit als Fotografin. Wir fühlen uns stark, getragen von all dem Zuspruch von Freunden und Verwandten, die unsere Fröhlichkeit und Stärke bewundern, und beschwingt von all den Veränderungen. Sogar mein Glaube erhält in dieser Zeit einen Aufschwung, denn meine kritische Theologie weicht einer persönlichen Kraftquelle, so wie ich sie als Kind kennenlernen durfte. Ich wünsche es mir so sehr, darin einen Anker zu finden.

Fürchterliche Schreie

Doch die schwere Herz-OP ringt mir meine letzten Kraftreserven ab. Immer öfter verlasse ich das Klinikgelände und stoße im Wald fürchterliche Schreie aus. Wieder zu Hause folgen Wochen, in denen ich nur noch auf dem Boden hocke und vor Angst, Scham und Verzweiflung nicht mal mehr ein Frühstück zustandebringe. Diese dumpfe Verzweiflung ist so hartnäckig, so freudlos und völlig perspektivlos. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich Fluchtpläne schmiede, die sich nicht selten in Todesphantasien verlieren. Ich stehe mal wieder vor dem Spiegel und schaue dem Biest in mir in die Augen. Was verfolgt mich? Ich dachte, ich hätte alles im Griff. „Ich hasse dich, du Versagerin“, fauche ich mir ins Gesicht. „Schau dich doch an, du schaffst es nicht!“ Heiße Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich klopfe mir stärker als gewollt gegen die Schläfe. Das kann doch alles nicht sein. Wo ist denn Gott? Er ist schließlich an allem schuld. Er trägt die Verantwortung für mein b… Leben. Er ist erbärmlich. Ich besinne mich. Für noch schlimmere Gedanken muss ich bestimmt in die Hölle. Ich tue Buße, und gleichzeitig meldet sich die Vernunft, dass ich so doch längst nicht mehr glaube. Dass ich mich ständig schuldig fühlte, war doch einer der Gründe, warum ich mit dieser Art von Glauben aufgehört habe.

Haushaltshilfe statt Klinik

Ich merke, dass ich Hilfe brauche und suche mir eine Psychologin. Sie bleibt total entspannt und sagt mir schon nach der ersten Sitzung, dass ich psychisch völlig gesund sei. Ich denke an eine geschlossene Klinik, und sie redet von einer Haushaltshilfe und mehr Freiräumen für mich. Und sie behält recht. Durch sie lerne ich, dass ich selbst das Bedürfnis habe, mich zu bestrafen. Ich selbst bin es, die mit einem verzweifelten Genuss in der Vorstellung schwelgt, dass mich die zwei Jungs samt Haushalt, Therapien und Ernährungsumstellung völlig zerstören. Schon mit der Geburt meines ersten Sohnes habe ich vieles aus meinem Leben gestrichen, was mich glücklich macht. In den Gesprächen mit der Psychologin kommen weitere unbearbeitete Themen aus der Vergangenheit hoch, die ich sorgsam unterdrückt hatte. Ich wollte doch so stark sein, und auch ein Kind mit Behinderung sollte mich nicht aus der Bahn werfen. Und jetzt das.

Foto: Sarah Boll

Foto: Sarah Boll

Neue Perspektive

In diesem langen, sehr schmerzhaften Prozess des Loslassens und der Annahme zieht es mich immer tiefer in die Kunst. Das passiert fast unmerklich, denn ich fotografiere meinen Alltag einfach immer mehr. Dokumentarisches Fotografieren ist ja auf Hochzeiten schließlich mein Job. Immer, wenn ich meine Kinder durch die Linse sehe, ändert sich die Perspektive, als würde ich plötzlich das Gesamtbild besser sehen und nicht nur die Fehler. Es entsteht viel mehr als nur ein Foto, das vielleicht eine besonders ästhetische und klare Bildsprache hat. Es ist, als würde etwas Göttliches dazukommen. Etwas Neues, das nicht auf Defizite schaut, sondern eine ganz tiefe Dankbarkeit und Demut schenkt für das, was ist. Vielleicht, denke ich, ist genau das meine Form des Gebets.

Offensichtlich unperfekt

Die vielen Fotos im ganzen Haus erinnern mich immer wieder daran. Sie sind wie kleine Trophäen für mich, die mir zujubeln und sagen: „Nur darauf kommt es an. Schau genau hin, es ist alles da.“ An guten Tagen, und das sind heute die meisten, kann ich sagen: Die Vorstellung, ein Kind mit Behinderung zu haben, ist viel schlimmer, als tatsächlich eins zu haben. Denn in Lasses Gegenwart wird man auf so heilsame Art aufs Wesentliche reduziert, aufs Im-Moment-Sein, aufs Lachen und aufs bedingungslose Lieben.

Er ist offensichtlich so unperfekt und dabei so glücklich, dass es einem schwerer fällt, sich selbst wegen eigener Mängel abzulehnen. Meine Schwester hat das ganz schnell verstanden. Sie hat damals die Geburtskarten mit goldener Gravur anfertigen lassen und erklärt, „dass besondere Kinder eben auch goldene Karten brauchen.“ Recht hat sie! Lasse ist wirklich ein Goldjunge, genau wie sein großer Bruder auch.

Sarah Boll arbeitet als freie Fotografin, ist verheiratet und stolze Mama von zwei Jungs. Sie schreibt auf familyandme.de

Welche Versicherungen brauchen wir?

„Wir erwarten bald unser erstes Baby und fragen uns, welche Versicherungen wir für unser Kind abschließen sollen und welche unnötig sind?“

Es ist gut, dass Sie sich schon vor der Geburt Gedanken über den wichtigen Versicherungsschutz Ihres Kindes und eventuell auch Ihren eigenen machen. Vieles lässt sich dann schneller und stressfreier regeln.

Bei der Krankenversicherung besteht in Deutschland eine Versicherungspflicht (zur Situation in der Schweiz siehe unten). Das Kind muss entweder über eine gesetzliche oder private Krankenversicherung versichert sein. Wie der Nachwuchs zu versichern ist, richtet sich nach der Versicherungs- und Einkommenssituation der Eltern. Sind beide Elternteile beispielsweise über die gesetzliche Krankenkasse pflichtversichert, ist ihr Kind im Rahmen der Familienversicherung beitragsfrei mitversichert.

Ein eigener beitragspflichtiger Vertragsteil ist für das Kind in der privaten Krankenversicherung in der Regel notwendig, wenn beide Eltern privat krankenvollversichert sind. Ist dagegen ein Elternteil privat und das andere gesetzlich pflichtversichert, kann das Kind in der gesetzlichen Krankenversicherung nur dann im Rahmen der beitragsfreien Familienversicherung mitversichert werden, wenn das Einkommen des privat Versicherten unterhalb der Versicherungspflichtgrenze liegt.

AUSLANDSSCHUTZ FÜR KINDER AUF REISEN

Zumindest dann, wenn ein Auslandsaufenthalt geplant ist, sollte für gesetzlich und für die meisten privat Versicherten eine Auslandskrankenversicherung abgeschlossen werden. Dies kann beispielsweise innerhalb eines Familientarifes erfolgen, bei dem das Kind dann mitversichert ist.

Möchte man später weitere Vorsorge bei gesundheitlichen Problemen für das Kind treffen, raten wir eher zu Kinderinvaliditätsversicherungen als zu Unfallversicherungen. Die Gefahr durch einen Unfall invalide zu werden, ist deutlich geringer als in einem Krankheitsfall. Im Rahmen der Kinderinvaliditätsversicherung besteht nicht nur für Unfallfolgen Versicherungsschutz, sondern auch bei einer Erkrankung. Bei einem solchen Vertrag soll für den Fall der Fälle neben einer Einmalzahlung auch eine regelmäßige Rentenzahlung erfolgen.

Allerdings sind Kinderinvaliditätsversicherungen entsprechend teuer. Sie kosten ungefähr das Vierfache einer guten Unfallversicherung, die etwa 100 Euro jährlich kostet. Ob eine und welche Absicherung gewählt wird, ist auch vom Haushaltsbudget abhängig.

AUCH EIGENEN VERSICHERUNGSSCHUTZ PRÜFEN!

Möchte man Geld beispielsweise für die Ausbildung des Kindes zur Seite legen, sollten Bankprodukte wie ein Banksparplan ins Auge gefasst werden. Ausbildungsversicherungen, bei denen eine Versicherung mit einer Kapitalbildung verknüpft wird, sind nicht empfehlenswert.

Ist ein Kind unterwegs, sollten die Eltern ihren eigenen Versicherungsschutz auf den Prüfstand stellen. Insbesondere wenn dem Hauptverdiener etwas passiert, sollte eine ausreichende Absicherung im Rahmen von Risiko-, Lebens- und Berufsunfähigkeitsversicherungen bestehen. Versicherungen wie Hausrat- oder Kfz-Versicherung sind nur dann anzupassen, wenn sich etwas ändert, zum Beispiel, wenn eine größere Wohnung bezogen oder ein größeres Auto angeschafft wird.

Elke Weidenbach ist Volljuristin und arbeitet als Referentin für Versicherungen bei der Verbraucherzentrale NRW. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

 

Krankenversicherung in der Schweiz

Schweizer müssen für ihr Kind eine obligatorische Krankenversicherung abschließen. Wenn das Kind in den ersten drei Monaten angemeldet wird, gilt der Versicherungsschutz von Geburt an. Die Grundversicherung bietet einen weitreichenden Schutz. Daneben gibt es verschiedene freiwillige Zusatzversicherungen, die extra kosten.

9 Jahre Loveparade-Tragödie: So erlebte ein Feuerwehrmann die Katastrophe

Branddirektor Jörg Helmrich hat Dienst, als bei der Duisburger Loveparade am 24. Juli 2010 eine Massenpanik ausbricht und 21 Menschen sterben. Zum Jahrestag kehrt er an den Katastrophenort zurück.

Möglichst schnell raus aus diesem Tunnel! Das ist der erste Impuls. Die Straße hindurch ist zweispurig, rund 300 Meter lang, die Decke flach und gewölbt. Es ist dunkel, Fahrzeuge rauschen vorbei, der Geräuschpegel enorm hoch. Dann kommt der Durchlass, nicht besonders groß, nur etwa zehn große Schritte breit, ungefähr die Distanz, die ein Fußball-Schiedsrichter zur Abmessung eines Freistoßes abschreitet. Hier war 2010 der Zugang zum Loveparade-Gelände.

Gleich links liegt die Gedenkstätte. Die Fläche, etwas mehr als 20 Meter lang, 10 Meter breit, Kopfsteinpflaster, läuft keilförmig zu. Eine große Menschenmenge auf engem Raum wurde 21 Menschen zum tödlichen Verhängnis und hat etwa 650 (namenlos) Verletzte hinterlassen. Rechts vor einer meterhohen Betonwand stehen zwei lange Bänke; gegenüber liegt die eigentliche Gedenkstätte. Ein abgeknicktes Verkehrsschild „Vorfahrt gewähren“. Geharkte Kiesrabatte, Gedenk-Steine, Kerzen, Blumen, Fotos. Eine Schrifttafel klagt die „profit- und konsumorientierte Spaßindustrie“ an. Treppenförmig sind Fotos und Namen der 21 Todesopfer auf einer rostbraunen Stahltafel angebracht; „Liebe hört niemals auf“ steht in 7 Sprachen darauf geschrieben. Rechts führt eine schmale Steintreppe nach oben – die für viele der letzte Fluchtweg, für die Opfer am Ende unerreichbar war. Auf jeder Stufe stehen ein Blumentopf und ein Holzkreuz. Ein paar Meter weiter noch einmal 21 Kreuze auf einer schwarzen Fläche, die auf einem Stück Metallzaun montiert ist – Teil des Trennelement-Systems, das die Menschenmassen hätte aufteilen und schützen sollen. Eigentlich.

Das Drama vor der Partymeile

Jörg Helmrich ist Branddirektor bei der Duisburger Feuerwehr. An diesem 24. Juli 2010, einem Samstag, hat er Dienst. Wie alle seine Kolleginnen und Kollegen. Urlaubssperre. Die Stadt rüstet sich für den Ansturm der riesigen Technoparty. Die Veranstalter sprechen von einer Million erwarteten Gästen – was nicht mehr als ein Werbe-Spruch ist, erklärt Helmrich (54): „Das wäre schier unmöglich gewesen: Duisburg hat nicht mal 500.000 Einwohner – die doppelte Menschen-Zahl auf einem überschaubaren Gelände, das war schlicht unvorstellbar.“ Tatsächlich kommen rund 200.000 Menschen zum Tanzen in die Ruhrstadt.

Immer noch eine schwer zu kalkulierende Großveranstaltung „mit hohem Lampenfieberpotenzial“, erinnert sich Helmrich. Bei der Lagebesprechung morgens im Stab der Feuerwehr sind einerseits alle „mit allen Nervenbündeln dabei“, sie wollen ihren „Job so gut wie möglich machen“. Andererseits klingt die „sehr detaillierte Vorplanung“ so durchdacht, mit verschiedenen Notfallszenarien, dass es wirkt, „als könnte es funktionieren“. Mehrere tausend Einsatzkräfte aus der Umgegend sind in Rufbereitschaft, die Duisburger erhalten massive Unterstützung aus Nachbarstädten: „Wir waren aus unserer Sicht sehr gut aufgestellt – bei einer allerdings ständig mitschwingenden Nervosität.“ Wäre die Loveparade wie geplant verlaufen, „wären wir alle in den frühen Morgenstunden mit High Five nach Hause gegangen, hätten uns gefreut – den Einsatz haben wir gerockt – und uns die nächsten vier Wochen ‚in die Eistonne‘ gelegt“, lächelt Helmrich nachdenklich. Es kam anders.

„Irgendwas läuft ganz gehörig aus dem Ruder!'“

Jörg Helmich

Branddirektor Jörg Helmrich vor den Silhouetten, die in Gedenken an die Opfer des Loveparade-Unglücks an Tunnelwände gemalt wurden. Foto: Jörg Podworny

 

An die heutige Gedenkstätte schloss sich früher die Rampe zum Festivalgelände, einem ehemaligen Güterbahnhof, an. Anstelle der Rampe folgt man heute einem kleinen Aufstieg, der zwischen gepflegten Kies- und Blumenbeeten hindurch führt und ein paar Meter weiter oben auf einer kleinen Freifläche an einem brusthohen Zaun endet, der den Blick auf die Partymeile von 2010 freigibt, die eingebettet ist zwischen Hauptbahnhof, ICE-Trasse und der Autobahn A 59.

Jörg Helmrich nimmt das Gelände am Unglückstag um 15 Uhr in der Nähe der ICE-Trasse selbst in Augenschein. Man kann dort dicht mit dem Pkw heranfahren und hat einen guten Überblick über das Gelände. „Die Besucherzahlen waren da noch sehr übersichtlich. Mit nicht viel Mühe hätte man alle einzeln zählen können.“ Das ändert sich in den nächsten anderthalb Stunden dramatisch. In der Stabsstelle blickt Helmrich auf einmal auf „Bilder, die mir sagten: Irgendwas läuft ganz gehörig aus dem Ruder!“

Um den Besucherstrom zu dirigieren, wurden die Partygäste vom Bahnhof über einen Umweg erstmal um das Gelände herumgeführt, um sie von beiden Tunnelköpfen aus auf das Festgelände zu leiten. Aus der Menschenmasse sollte – so der Gedanke – ein „Bandwurm“ werden, der die Menge so kanalisierte, dass es eigentlich „gar nicht zu einer Gedränge-Situation kommen durfte“, erzählt Helmrich, „trotzdem ist das Drama passiert“, schüttelt er immer noch ungläubig und ohne wirkliche Erklärung den Kopf.

Scham und Angst: Die Monate danach

Mit beiden Armen und schwankendem Oberkörper zeichnet er die wogende Menschenmasse nach, in der Einzelne nicht mehr Herr des eigenen Körpers sind, sondern im Rhythmus der Masse mitgehen müssen – und um Himmels willen nicht ins Straucheln geraten dürfen!

Er ist nicht oft hier, gesteht der Branddirektor, der heute in Zivil an der Gedenkstätte steht. „Ich meide den Platz – nicht aktiv, aber ich such auch nicht die Begegnung“, räumt er ein. Aber die Verantwortlichen der Stadt haben schnell erkannt, dass sie „der Trauer auch einen Raum geben“ und „einen Ort für Angehörige“ schaffen müssen, an dem sie Abschied nehmen und trauern können. Wenige Tage nach der Katastrophe sorgen Mittrauernde mit Kerzen für „ein Lichtermeer“ im Tunnel. Jedes Jahr zum 24. Juli gibt es hier eine Gedenkveranstaltung. Der Tunnel wird ab 23. abends gesperrt und ist für begrenzte Zeit nur für die Angehörigen offen, um ihnen einen angemessenen Rahmen zum Trauern und stillen Gedenken zu geben.

Für Jörg Helmrich war in den Monaten nach dem Unglückstag „Scham das vorherrschende Gefühl“: Er sieht sich als „Teil dieser Mannschaft, die es nicht hingekriegt hat, den Einsatz ohne Verletzte und Tote zu beenden“. Dazu kam Angst: die Furcht davor, selbst Gegenstand der Ermittlungen und „für das ‚Versagen‘ zur Rechenschaft gezogen zu werden“. Zwar war die Feuerwehr zu keiner Zeit Gegenstand polizeilicher Ermittlungen. Aber wenn es bei einem Anruf hieß „die Kripo ist am anderen Ende“, hatte Helmrich „viel zu hohen Puls“.

Ein Nachbar sagt in der Zeit mal zu ihm: „Als ihr kamt, da wurde der Einsatz doch gut!“ Er bekennt: „Das waren Momente, die mir gut getan haben.“ Auch seine Ehefrau Claudia ist eine wichtige Stütze. Sie stellt ihm die Frage, was er anders gemacht hätte, wenn er für jede Entscheidung eine Stunde Zeit zum Überlegen gehabt hätte. „Nichts“, antwortet er. Und doch: Am Ende standen 21 Tote – „da kann man nicht sagen: der Einsatz lief gut“.

Nach anderthalb Wochen Pause hat Helmrich damals die Arbeit wieder aufgenommen: „Das war auch gut.“ So konnten sie als Kollegen über das Erlebnis sprechen, nicht ständig, und auch mal „um unsere Wunden zu lecken“, räumt er ein. Vor allem aber, um in einer vertrauensvollen Atmosphäre über die Ereignisse sprechen zu können: „Das war auch ein Stück Familie und hat mit einigen Kollegen enger zusammengeschweißt, bis heute“, sagt er.

Anklage und Vergebung

Jetzt sitzt er ein paar Autominuten vom Tunnel entfernt in einem Park, Vögel zwitschern, und Helmrich denkt laut darüber nach, warum ihn der Besuch an der Gedenkstätte heute nicht so stark angefasst hat. „Weil ich jetzt in Zivil unterwegs bin“, überlegt er. Vor einem Jahr, im Juli 2018, war es anders: Spontan wollte er da – erkennbar – in Dienstkleidung zur Gedenkveranstaltung, ist aber umgedreht. „Auch heute hätte es mir in Dienstkleidung nicht behagt“, sinniert er. Kommt er also immer noch nicht ganz aus diesen Klamotten raus? Er nickt.

Wesentlich findet er allerdings eine Erfahrung, von der er auch erzählen will: Jörg Helmrich, der sich auf seinem Facebook-Profil als „Ehemann, Vater, Familienmensch, Christ und Firefighter“ charakterisiert, der Mitglied einer Baptistengemeinde in Mülheim ist, wo er seit diesem Jahr E-Bass spielt, der gern an der Ruhr spazieren geht, um den Kopf freizukriegen – er hat nach vielen, vielen Monaten, in denen er mit sich gerungen hat, „tatsächlich einen inneren Frieden gefunden, den Gott mir schenkt“. Seine Frau hat ihm in den Zeiten des Zweifelns den Satz gesagt, der schon viele Menschen getröstet und einen Halt gegeben hat: „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand.“ Wieder nickt er. Aber erst 2014, vier Jahre später, als er im Neuen Testament – zum x-ten Mal – den Bibelvers studiert, in dem von dem „Frieden Gottes“ die Rede ist, „der den menschlichen Verstand übersteigt“, da kapiert er: Ich muss „aus der Endlosspirale“ der Sorgen, zermürbenden Fragen und Selbstanklagen „aussteigen und Gott beim Wort nehmen – der meint das wirklich so“. Also hat er „einen Deal gemacht“ – und zu Gott gebetet: „Ich überlasse dir die Sorgen – den Rest musst du machen. Und Gott hat mir deutlich gemacht: Okay. Läuft!“, lacht Helmrich. „Ich bin ein nüchterner Typ, aber diese Aussage erzeugt in mir eine regelrecht wohlige Wärme.“

„Da ist mein Kind umgekommen – und die Leute werden freigesprochen?!“

Trotz der positiven Aspekte, die es gibt: Die Loveparade hat keine Chance auf ein Happy End. Als Anfang dieses Jahres sieben städtische Angeklagte im Prozess freigesprochen wurden, hat Helmrich das auch mit etwas Erleichterung aufgenommen. Zugleich versteht er, dass das für die Angehörigen der Opfer „überhaupt nicht vermittelbar“ ist; dass es furchtbar ist, wenn der Prozess – was gut möglich ist – ohne Verurteilungen beendet wird: „Da ist mein Kind umgekommen – und die Leute werden freigesprochen?!“ Nein, schüttelt er den Kopf, „was damals passiert ist, ist nicht ungeschehen zu machen“. Die Tragödie hat in der Stadt oft den Reflex ausgelöst: „Duisburg ist mehr als nur Loveparade!“ Regelmäßig zum 24. Juli „poppt das wieder hoch“, sagt Helmrich mit Verständnis. 2020 wird es wohl noch mal stärker werden, zum zehnjährigen Gedenken.

Er selbst hofft auf die heilsame Kraft der Vergebung. Besonders für die Angehörigen wünscht er sich, dass sie „für sich das schwierige Kapitel Vergebung bewältigen können“. Jörg Helmrich sagt das nicht ohne Grund. Er hat selbst Vergebung als „Heilmittel, das so einen schlimmen Verlust zumindest verkraftbarer macht“ erfahren. Kein leichter Satz. Und doch wünscht Helmrich sich, „dass Menschen den Gott kennenlernen, der Vergebung möglich macht“.

Totgeburt – Das berührende Tagebuch eines Papas

Als Emma zur Welt kommt, hat ihr Herz bereits aufgehört zu schlagen. Vater Oliver Helmers schreibt sich den Schmerz von der Seele.

7.1. Es ist absurd: Wir haben das süßeste Kind der Welt, aber niemand gratuliert. Wir halten unsere schwarzhaarige Emma auf dem Arm. Dass wir trotz allem in diesem Moment glücklich sind und Fotos machen wie andere Eltern auch, verstehen nur die, die ähnliches erlebt haben. Emma ist unser erstes Kind. Alles war in Ordnung, doch fünf Tage zuvor konnte die Ärztin keinen Herzschlag mehr finden. Unser Leben im falschen Film hatte begonnen.

13.1. Emmas Beerdigung: Fast 200 Menschen folgen uns zu Emmas Grab. Sie stehen hinter uns, im wahrsten Sinne des Wortes, und das tut gut. Genauso wie die Sonne, die an diesem eiskalten Wintermorgen auf den kleinen Holzsarg scheint.

DAS SCHWEIGEN DER MÄNNER

14.1. Mit Emmas Tod erlischt der Anspruch auf Elternzeit. Während meine Frau Mutterschutz hat und gerne wieder arbeiten würde, um wenigstens ein bisschen Normalität zu finden, geht für mich die Arbeit wieder los, obwohl ich lieber zu Hause bliebe. Natürlich hat jeder Verständnis, dass ich neben der Spur bin, fahrig und vergesslich wirke. Trotzdem: Bei der Arbeit muss ich als Pfarrer funktionieren. Aber wie soll man das, wenn das eigene Kind gestorben ist?

15.1. Im Internet: Ich schreibe „Totgeburt“ in die Suchmaske und sehe Bilder, die ich nicht sehen will: Bilder von toten Kindern und ihren unglücklichen Eltern. In einem amerikanischen Forum lese ich von Kurt, der zwanzig Jahre nach der Geburt seines Sohnes immer noch eine Kerze zu seinem Geburtstag anzündet, oder von Francis, der 72 Fotos von seiner Tochter gemacht hat und zehn Jahre später die schlechten Lichtverhältnisse im Kreißsaal verflucht. In diesen Geschichten fühle ich mich verstanden. Komischerweise schreiben in deutschen Internetforen nur Frauen. Doch Halt, die Beiträge von Micha sind richtig gut. Erst später merke ich, dass dies die Abkürzung für Michaela sein muss. Das Schweigen der Väter ist mir ein Rätsel. Warum wird Trauer totgeschwiegen?

EIN KOLLEGE OUTET SICH

17.1. Ein Kollege der obersten Führungsschicht schreibt mir eine Trauerkarte. Er kondoliert, aber nicht nur das: Auch er hat ein totgeborenes Kind. Seine Offenheit beeindruckt mich. Dass er während der Fahrt in seiner Dienstlimousine ausgerechnet mir schreibt, berührt mich. Und dann noch handschriftlich … Es gibt wenige Männer, die heute offen über Trauer schreiben: Im 19. Jahrhundert hat Friedrich Rückert 428 (!) Lieder über seine zwei toten Kinder Luise und Ernst geschrieben. „Kindertodtenlieder“ hat er sie genannt. Nicht gerade ein Liederbuch, zu dem man schmissige Griffe auf der Gitarre findet. Man könnte meinen, dass 1823 die Kindersterblichkeit so hoch war, dass der Verlust eines Kindes weniger ausgemacht hätte als heute – aber wie tief muss Trauer sein, wenn ein Mann 428 Gedichte über seine toten Kinder schreibt?

20.1. Ich gehe spazieren. Es beginnt zu regnen. „Emma weint“, denke ich allen Ernstes und frage mich schon im nächsten Moment, ob ich nun verrückt werde … Je zügiger ich durch den Regen gehe, desto stärker fühle ich mich auf der Suche nach unserer Tochter – als würde sie sich nur hinter einem Gebüsch verstecken oder am anderen Ende des Weges auf mich warten. Verliere ich den Verstand?

NIEMAND FRAGT, WIE ES MIR GEHT

21.1. Beim Hausarzt: „Nehmen Sie Platz. Was führt Sie zu mir?“ „Unsere Tochter ist gestorben.“ Schweigen. Mein Arzt hat selber ein totgeborenes Enkelkind. „Ich fühle mich vergesslich und weiß oft nicht mal, welchen Monat wir haben. Wie lange wird das noch andauern?“ Ein verständnisvoller Blick, ein Seufzen. „Das ist normal.“ Ich fühle mich verstanden.

8.2. „Wie geht es Ihrer Frau?“ Zu dieser Frage kann man als trauernder Vater nur eine Hassliebe entwickeln. Wie gut, dass niemand fragt, wie es mir geht. Mich hinter der Rolle des Beistands verstecken zu können, gibt mir den Hauch des Gefühls, stark zu sein. Aber warum muss man eigentlich immer stark sein?

ICH FÜHLE MICH WIE EIN AUSLÄNDER

20.3. Wir treffen uns mit Freunden und reden über Gott und die Welt, nur nicht über Emma. Tote werden totgeschwiegen – was für eine bittere Erkenntnis! Als hätte Emma für unsere Umwelt nie existiert. Unsere deutsche Sprache ist verräterisch: Wir sagen „Das Kind ist da“ und tun so, als sei es im Mutterleib noch nicht dagewesen.

21.3. Ich notiere mir: „Als Trauernder fühlt man sich wie ein Ausländer, der kein Deutsch spricht. Andere bemühen sich, einen zu verstehen, aber letztendlich verstehen sie die fremde Sprache nicht.“

EIN GOTTESDIENST FÜR EMMA

27.11. Während ich am Bodenseeufer zum Konstanzer Münster laufe, fühle ich mich, als hätte ich eine Verabredung mit Emma. Im Münster findet ein Gedenkgottesdienst für Verstorbene statt. Eigentlich hätte im Programmheft der Ablauf stehen sollen, doch im Druck ist etwas schiefgegangen. „Da sind leider nur die Namen drin“, sagt die Frau am Eingang und meint damit die Namen der Verstorbenen. Nur die Namen? Wenn sie wüsste … Dass der Name in diesem Heft steht, bedeutet mir unendlich viel. Als später die Pfarrerin in diesem großen Münster Emmas Namen nennt, bin ich gerührt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ihr Name in den letzten Monaten genannt wurde, obwohl ich jeden Tag an sie denke. Emmas Name, der niemals auf einer Ehrenurkunde oder Diplomarbeit stehen wird … Ich mache mehrere Fotos von der Kirche und fühle mich wie ein stolzer Vater.

2.12. In der Gruppe frühverwaister Eltern (ein schrecklicher Name!) sitzen wir bei Kerzenschein zusammen. Sogar ein paar Männer sind dabei, natürlich nur, um ihren hilfsbedürftigen Frauen beizustehen … Das Leid schweißt zusammen und verbindet uns mit unseren Kindern. Es klingt pathetisch, aber die Namen Noah, Leander, Gabriel, die Namen der anderen Kinder, klingen für mich, als seien sie Freunde von Emma. Freunde, die auf den Spielplätzen des Himmels miteinander toben und springen. Leider sehr weit weg von uns.

DIE TRAUER AUSHALTEN

Zwei Jahre später: Ich sitze im Café und frage mich, warum ich diesen Artikel schreibe. In unserer Kultur werden Tote totgeschwiegen und damit auch die Trauer um sie. Ich schreibe das nicht verbittert, ich kann es verstehen. Auch ich habe die Sprache der Trauernden wieder verlernt. Wenn man Trauernde aber fragt, was sie tröstet, dann ist es das: „Wenn andere meine Trauer aushalten.“ Zuhören, keine Tipps geben und nicht bewerten. Aber wer kann das schon? Den Namen einer Verstorbenen erwähnen und die Tränen des Gegenübers aushalten?

Meine Gedanken werden unterbrochen: „Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragt mich die Bedienung. Alles in Ordnung … Das ist der Grund, warum ich schreibe; wir leben in einer Kultur, in der immer alles okay ist und jeder die Frage „Wie geht’s?“ mit „Gut“ beantwortet. Es braucht Frauen und Männer (!), die nicht so tun, als sei alles in Ordnung. Es braucht Menschen, die Trauer nicht unter den Teppich kehren, sondern der Trauer Raum geben. Denn wo wir der Trauer Türen öffnen, entsteht ein Trost, der nicht zu unterschätzen ist.

Oliver Helmers lebt mit seiner Frau Anne in einem kleinen Schwarzwalddorf, wo er als evangelischer Pfarrer arbeitet. Inzwischen haben sie drei Kinder: Benjamin, Daniel und natürlich Emma.

Der Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V. bietet unter veid.de Hilfe für Familien, die um ein Kind trauern.

Achtsam durch den Alltag

Achtsamkeit ist ziemlich im Trend. Doch was genau ist damit gemeint? Und welche Chance beinhaltet sie für Familien? Von Melanie Schüer

Wer achtsam ist, konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt. Er schweift gedanklich nicht ständig ab in das, was gestern war, oder beschäftigt sich mit Sorgen um das, was morgen kommt. Er legt seinen Fokus ganz auf den gegenwärtigen Moment. Dieser wird sehr aufmerksam und intensiv, mit allen Sinnen wahrgenommen: Was sehe ich? Wie riecht es gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Was höre ich? Wie fließt mein Atem?
Diese verschiedenen Fragen werden nicht schnell „abgearbeitet“. Jeder Aspekt wird ruhig und langsam erkundet. Abschweifende Gedanken werden bewusst wahrgenommen, ohne sie zu bewerten – und wieder losgelassen, um sich erneut im Hier und Jetzt zu verankern.
In unserem hektischen Alltag ist uns diese Haltung häufig fremd. Bei der Menge an Aufgaben und Themen fühlen wir uns meist zu Multitasking gezwungen: Während wir putzen, denken wir darüber nach, wie wir das Seminar morgen gestalten. Während wir duschen, spüren wir weniger den angenehmen Wasserstrahl, sondern grübeln über das Gespräch mit dem Chef nach … Doch dieses ständige Multitasking fördert innere Unruhe und Stress – deshalb bergen Achtsamkeits- Übungen eine große Chance. Sie lassen sich einfach in den Alltag integrieren: Beim Zähneputzen bewusst den Kopf ausschalten und sich nur auf die Bewegungen der Zahnbürste konzentrieren. Beim Spazierengehen spüren, wie die Füße bei jedem einzelnen Schritt den Boden berühren.

ACHTSAMKEIT HILFT BEI WEHEN

Auch für Eltern ist Achtsamkeit ein wertvoller Ansatz – schon in der Schwangerschaft. Die Hebamme Nancy Bardacke hat mit ihrer Methode „Mindful Birthing“ das Konzept der Achtsamkeit auf Schwangerschaft und Geburt übertragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, loszulassen und sich auf das, was geschieht, einzulassen – und daraus das Beste zu machen.
So dauert eine Wehe in der Regel 60 bis 90 Sekunden – das sind etwa sieben bis zehn Atemzüge. Wenn eine Wehe beginnt, kann die Frau sich bewusst machen: „Ich atme jetzt zehnmal ganz tief ein und aus, dann ist diese Wehe schon wieder geschafft“ als Gegenentwurf zu Gedanken wie: „Ich ertrage das nicht mehr!“ Eine gute Unterstützung ist es, Formulierungen wie „Loslassen“ oder „Zehn Atemzüge, dann ist es geschafft!“ auf Karteikarten zu schreiben und zur Geburt mitzunehmen.
Achtsamkeit bedeutet auch, nicht zu werten, und das, was ist, anzunehmen. Wenn uns etwas weh tut, neigen wir dazu, uns zu verspannen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Dabei geht es viel besser, wenn wir tief in den Schmerz hineinatmen und ihn annehmen – als etwas, das jetzt eben sein muss, das aber vorübergeht.

DAS FAMILIENLEBEN ACHTSAM GESTALTEN

Der Ansatz von Nancy Bardacke bezieht auch die Zeit nach der Geburt mit ein, zum Beispiel wenn das Baby weint. Eltern können sich bewusst werden, welche Gefühle das Schreien in ihnen auslöst: Traurigkeit? Wut? Hilflosigkeit? Es gilt, diese Gefühle zuzulassen, ohne sie zu bewerten – sie einfach anzunehmen, zu fühlen und dann loszulassen und sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Tief in den Bauch einatmen, als würde man ganz viel Frieden und Ruhe einatmen und lange wieder ausatmen, als würde man allen Stress und alle Anspannung hinausatmen. Bauchatmung reduziert die eigene Körperspannung. Das spürt auch das Baby und hilft ihm, sich sicherer zu fühlen.
Auch im Umgang mit älteren Kindern ist Achtsamkeit eine wertvolle Haltung. Sie beinhaltet, unsere Kinder so wertzuschätzen und anzunehmen, wie sie sind – und auch mit den eigenen Fehlern barmherzig umzugehen. Die Achtsamkeitslehrer Myla und Jon Kabat-Zinn erklären: „Wir sehen dies als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst –, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen.“
Myla Kabat-Zinn versteht unter achtsamer Erziehung, „zu versuchen, die Dinge aus den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern.“ Das ist ein guter Rat – bewusst die Perspektive des Kindes einzunehmen, zu überlegen und zu erfragen: Wie erlebt er oder sie diese Situation?

AUFMERKSAM DURCH DEN TAG

Ganz konkret umfasst ein achtsamer Familienalltag auch das Einrichten von regelmäßigen Zeiten, in denen die Eltern sich ganz dem Kind zuwenden, ohne nebenher zu putzen, zu lesen oder aufs Handy zu schauen. Dazu gehört aufmerksames Zuhören und eine Form der Anerkennung, die eher ermutigt als lobt. Das bedeutet, dass man sein Kind nicht mit einem schnell dahergesagten Lob wie „Gut gemacht!“ abspeist, sondern dass man wirklich hinschaut und konkret sagt, warum man sich über etwas freut.
Eng verbunden mit Achtsamkeit ist eine dankbare Haltung: Die Überzeugung, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern dass der Alltag voller kleiner Wunder und Geschenke ist. Im Familienleben kann man Kindern wunderbar Achtsamkeit und Dankbarkeit vorleben, indem man selbst aufmerksam durch den Tag geht.
Auch die Beziehung zum Partner ist ein Bereich, der Achtsamkeit verdient: Wirklich hinhören, was meinen Partner beschäftigt und nicht gleich urteilen, sondern meinem Partner auch in Konflikten mit einem offenen Herzen begegnen. Den anderen nicht als selbstverständlich betrachten, neugierig aufeinander bleiben und regelmäßige Paarzeiten einplanen.

ALLES IM FLUSS

Achtsamkeit in der Familie kann auch helfen, schwere Zeiten besser zu bewältigen. Wer achtsam ist, fragt sich nicht ständig, wie das wohl weitergeht und wie lange man das noch aushalten kann. Stattdessen übt man, im Hier und Jetzt zu bleiben – mit dem Wissen, dass alles eine Phase ist, die vorbeigeht. Diese Herangehensweise ist auch in der Bibel zu finden:
„Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist:
Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“ (Prediger 3,1-8)
Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat, hilft, sich auf das, was gerade ist, einzulassen – ohne innerlich noch am Gestern zu hängen oder erwartungs- oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Heute ist der einzige Tag, den wir gestalten können. Gestern ist unwiderruflich vorbei – und wer weiß schon, was das Morgen bringt? Jesus selbst lebt uns diese Fokussierung auf die Gegenwart vor, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“ (Matthäus 6, 34).
John Kabat-Zinn formuliert es so: „Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen.“

Melanie SchüerMelanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und bietet Onlineberatung für Eltern von Babys und Kleinkindern sowie für Schwangere an: www.neuewege.me

Kaisergeburt

„Mein Kind wird per Kaiserschnitt zur Welt kommen. Meine Bekannten sind der Meinung, eine Kaisergeburt sei besser. Ist die Kaisergeburt tatsächlich eine gute Alternative zur herkömmlichen Methode?“

Seit einigen Jahren bieten Kliniken die sogenannte Kaisergeburt an – einen Kaiserschnitt, bei dem die Mutter beziehungsweise die Eltern zuschauen können, wie ihr Kind aus dem Bauch der Mutter „aufsteigt“. Dies wird dadurch ermöglicht, dass der Sichtschutz, der eigentlich vor dem Gesicht der Mutter hängt, beiseite genommen wird. Diese Art des Kaiserschnittes kann natürlich nur dann durchgeführt werden, wenn keine weiteren Komplikationen zu erwarten sind.

GEBURTSERLEBNIS
Wie können Sie als Eltern nun entscheiden, ob Sie sich eine Kaisergeburt zutrauen? Zunächst einmal sollten Sie überlegen, wie groß Ihre Angst oder Unsicherheit vor einem Operationssaal generell ist. Zwar werden Sie auch bei einer Kaisergeburt das Operationsfeld nicht sehen können, aber wenn grundsätzlich große Berührungsängste existieren, kann die Anspannung allein durch den Gedanken daran noch größer werden. Solche Ängste sollten im Vorfeld mit dem operierenden Arzt besprochen werden, um Klarheit zu erlangen. Manche Frauen erleben einen Kaiserschnitt generell als eine Enttäuschung, weil sie sich gewünscht haben, ihr Kind auf ganz natürlichem Weg auf die Welt zu bringen, oder weil sie es sogar als Versagen empfinden, es „nicht geschafft zu haben“. Für diese Frauen könnte die Kaisergeburt das Geburtserlebnis positiv beeinflussen, weil sie sehen, wie das Kind geboren wird, und weil sie in der Regel aufgefordert werden zu pressen, also selbst aktiv zu werden. Bei einem Kaiserschnitt, in welcher Form auch immer, empfiehlt es sich, ein besonderes Augenmerk auf das Bonding nach der Geburt zu legen. Die Mutter sollte ihr Baby, wenn es ihm gut geht und es keine medizinische Versorgung braucht, direkt auf die Brust gelegt bekommen.

VORTEIL IM WOCHENBETT
Ein wesentlicher Vorteil der Kaisergeburt liegt darin, dass die Hormonausschüttung verstärkt wird, das heißt, dass die Mutter (und oft auch der Vater) durch den sofortigen Blickkontakt zu ihrem Kind eine gute Bindung zu ihm aufnehmen können und es schneller als ihr Kind annehmen. Auch das Stillen klappt dadurch häufig früher und besser. All das führt zu einer stabileren emotionalen Situation der Mutter im Wochenbett. Trotz aller positiven Aspekte besteht aber durchaus die Gefahr, dass durch diese „sanfte“ Art des Kaiserschnitts der Eindruck entsteht, dass er der Spontangeburt ebenbürtig oder sogar zu bevorzugen sei. Ein Kaiserschnitt ist und bleibt eine große Operation und sollte daher nicht leichtfertig durchgeführt werden, auch nicht in Form einer Kaisergeburt. Weder für die Mutter noch für das Kind ist er im Normalfall die schonendere Art der Geburt. Wenn es jedoch eine eindeutige Indikation – medizinischer oder psychischer Art – gibt, können wir dankbar für unsere gut ausgestatteten Kliniken und gut ausgebildeten Ärzte sein. Für werdende Eltern in dieser Situation bietet die Kaisergeburt eine Möglichkeit, sich der natürlichen Geburt so nahe wie möglich zu fühlen.

Martina Parrish ist Hebamme und Stillberaterin und arbeitet in der Hebammenpraxis Fokus Leben in Berlin.

12 Thesen für eine gute Geburtshilfe

Anlässlich des heutigen Internationalen Hebammentages hat der Deutsche Hebammenverband 12 Thesen veröffentlicht:

1. Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind natürliche und besonders schützenswerte Vorgänge im Leben von Frauen.

2. Schwangere und Mütter haben in diesen Lebensphasen das Recht auf eine respektvolle und individuelle Betreuung und Begleitung durch Hebammen.

3. Hebammen unterstützen bei diesen natürlichen Lebensprozessen. Sie schützen, wahren und fördern die körperliche und seelische Gesundheit der Frauen und ihrer Kinder. Dies steht an oberster Stelle bei jeder Begleitung durch Hebammen.

4. Jede Geburt und jede Frau haben ihren eigenen Rhythmus – sie bekommen die Zeit, die sie benötigen.

5. Damit jede Frau an einem von ihr selbst gewählten Ort gebären kann, muss ihr ein ausreichendes Angebot an Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.

6. Schwangeren und Gebärenden steht jederzeit ein geschützter Raum, die Wahrung ihrer Intimsphäre sowie Verschwiegenheit zu.

7. Während der Geburt hat jede Frau das Recht, kontinuierlich durch eine Hebamme begleitet zu werden, die sich ausschließlich um sie kümmert. Eine solche Eins-zu-eins-Betreuung wird von
jeder Hebamme angestrebt.

8. Hebammen erfüllen alle ihre Aufgaben bestmöglich unter den gegebenen Umständen und unabhängig von wirtschaftlichen Interessen.

9. In den natürlichen Geburtsvorgang sollen Hebammen und Ärzte nur eingreifen, wenn die Gesundheit der Frau oder des Kindes bedroht sind.

10. Frauen haben das Recht, vor jedem Eingriff in das Geburtsgeschehen verständlich und nachvollziehbar darüber aufgeklärt zu werden, was genau passieren wird. So können sie gemeinsam mit denjenigen, die sie betreuen, informierte und verantwortungsvolle Entscheidungen über ihren Körper treffen.

11. Die Werte von Frauen und ihre Entscheidungen sind zu respektieren.

12. Die Stärkung der Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten der Frauen stehen im Fokus aller Überlegungen und allen Tuns.

Weitere Infos: www.unsere-hebammen.de