Das steckt hinter den Gefühlen
Starke Gefühle werden häufig von unerfüllten Wünschen und Bedürfnissen ausgelöst. Wie gehen wir damit um?
Die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen und auszudrücken, fällt vielen Menschen schwer. Wenn Kleinkinder Bedürfnisse haben, äußert sich das in einem Ausdruck von Gefühlen. Es wird lautstark gerufen, geschrien oder geweint. Sobald wir Menschen sprechen lernen, fangen wir an, unsere Bedürfnisse verbal auszudrücken. Dennoch bleibt da auch immer eine gewisse Unfähigkeit, sie transparent in Worte zu fassen.
Die Maslowsche Bedürfnispyramide
Es gibt grundlegende Bedürfnisse, deren Erfüllung wir zum Überleben brauchen. Die sogenannte Bedürfnispyramide nach Maslow geht davon aus, dass bestimmte Grundbedürfnisse erfüllt werden müssen, bevor andere Arten von Bedürfnissen angestrebt werden können. Die Bedürfnispyramide besteht aus fünf Ebenen. Zur untersten und überlebenswichtigsten Ebene gehören die körperlichen Bedürfnisse. Sie beziehen sich auf grundlegende Dinge wie Schlaf und Nahrung. Auf der zweiten Ebene steht Sicherheit. Hier geht es um einen Zustand der Stabilität in Bezug auf unsere Umgebung, aber auch um finanzielle und seelische Sicherheit. Auf der dritten Ebene stehen soziale Bedürfnisse. Dazu gehören Freundschaften und ein gutes Beziehungsnetzwerk. Die vierte Ebene ist Anerkennung. Hier geht es darum, Respekt und Wertschätzung von anderen Menschen zu bekommen. Auf der fünften Ebene geht es schließlich um Selbstverwirklichung. Auf dieser Ebene möchten Menschen ihre Potenziale ausschöpfen, Ziele erreichen und Neues erschaffen.
Die ersten vier Ebenen werden als Defizitbedürfnisse bezeichnet und die höchste Stufe als Wachstumsmotiv. Werden Defizitbedürfnisse nicht befriedigt, kann der Mensch physischen oder psychischen Schaden erleiden. Hingegen wird das Wachstumsmotiv, also Selbstverwirklichung, nie vollkommen erfüllt werden. Wir brauchen Selbstverwirklichung also nicht zum Überleben, aber wir brauchen sie für unsere Zufriedenheit.
In meinem Nachdenken über Bedürfnisse möchte ich nicht vergessen, dass sich Selbstverwirklichung nur wenige Menschen auf der Erde leisten können. Viele Menschen werden durch Krieg, Flucht, Armut und aus weiteren Gründen niemals die Chance haben, sich um dieses Bedürfnis zu kümmern. Trotz aller Probleme in unserer Gesellschaft möchte ich niemals vergessen, dass es ein Privileg ist, sich um Selbstverwirklichung kümmern zu dürfen.
Gefühle nicht kleinhalten
Ich bin aufgewachsen mit Eltern und Großeltern, die mit dem Wahrnehmen von Bedürfnissen wenig anfangen konnten. Der Umgang mit Schwächen, Bedürfnissen und Gefühlen ist kulturell geprägt und abhängig von dem pädagogischen Mainstream der Zeit. Weder meine Großeltern noch meine Eltern durften als Kinder lernen, über ihre eigenen Bedürfnisse, Gefühle oder Schwächen zu sprechen. Seitdem hat sich viel verändert. Unsere Kinder erleben eine bedürfnisorientierte und gleichwürdige Erziehung. Uns ist es wichtig, was sie fühlen und was hinter ihren Gefühlen steckt. Bestenfalls bieten wir ihnen Wörter für ihre Gefühle an. Das bedeutet nicht, dass wir ihre Bedürfnisse immer erfüllen müssen. Aber wir möchten sie wahrnehmen, anhören und mit ihnen im Gespräch darüber bleiben.
Marshall B. Rosenberg hat mit dem Ansatz der Gewaltfreien Kommunikation den Satz geprägt, dass hinter jedem Gefühl ein Bedürfnis steckt. „Ach so ist das“, dachte ich, als ich diesen Ansatz vor zehn Jahren kennenlernte. Dann steckt hinter meiner Wut also ein Bedürfnis. Aber welches? Zu Hause wurde mir keine Sprache dafür mitgegeben. Gefühle wurden kleingehalten und nicht akzeptiert. Wie soll ich denn jetzt an mein Bedürfnis herankommen?
Bedürfnisse herausfinden und anerkennen
Der erste wichtige Schritt dafür ist, das Bedürfnis hinter dem Gefühl herauszufinden. Der zweite ist, mich mit diesem Bedürfnis mitzuteilen. Unsere Gefühle zeigen uns, in welchem Maße unsere Bedürfnisse erfüllt werden oder auch nicht. Gefühle sind wichtige Boten. Wenn wir unser Bedürfnis hinter dem Gefühl erkennen und dieses mitteilen, dann gibt man dem Gegenüber die Möglichkeit, das Gefühl zu verstehen.
Als ich vor zehn Jahren auf eine Liste von Bedürfnissen blickte, wurde mir klar: „Ja, ich habe da einige Bedürfnisse, die nicht gestillt sind und die anfangen zu schmerzen. Aber ich kann ja sowieso nichts daran ändern.“ Außerdem hatte ich gelernt, dass ich nicht bedürftig zu sein habe und dass meine Bedürfnisse nicht wichtig sind. Inzwischen weiß ich: Das ist Blödsinn. Natürlich darf ich bedürftig sein und Bedürfnisse aussprechen. Nur so schaffe ich Nahbarkeit. Erst wenn mein Gegenüber weiß, was ich brauche und was mir wichtig ist, kann ein gesundes Gleichgewicht in einer Beziehung entstehen. Bedürfnisse können auch ausgehandelt werden: Können wir gerade umziehen? Kann ich meinen Job wechseln? Können wir etwas an unserer Partnerschaft verändern? Können wir weniger arbeiten? Kann ich in der Woche Zeit nur für mich allein haben? Bedürfnisse zu teilen, kostet Mut, denn ich zeige mein Inneres und mache mich verletzlich. Es besteht die Gefahr, dass mein Gegenüber die Bedürfnisse nicht versteht. Jeder von uns hat unterschiedliche Bedürfnisse. Das kann uns in Konflikte bringen. Aber es hat auch die Kraft, uns zu verbinden. Das Risiko, das damit einhergeht, wenn wir uns ehrlich mitteilen, lohnt sich. Denn am Ende steht die Chance einer tieferen Verbundenheit.
Sich von Wünschen nicht beherrschen lassen
„Ein Bedürfnis ist Hunger, ein Wunsch ist Pizza“, meinte neulich ein Freund zu mir. Wünsche resultieren aus Bedürfnissen. Dabei haben wir oft eine klare Vorstellung davon, wie unsere Bedürfnisse gestillt werden sollen. Ich war Gott schon ab und an dankbar, dass er mir meine Wünsche nicht erfüllt hat. Gleichermaßen habe ich schon oft gelitten, weil ich einen Wunsch hatte, wie jenes Bedürfnis gestillt werden sollte, und es ist ebenfalls nicht passiert. Das sind manchmal qualvolle Zeiten, in denen ein Wunsch nicht in Erfüllung geht und ein Bedürfnis nicht gestillt wird. Es ist ein Ringen. Und doch darf ich erleben, dass Bedürfnisse oft anders erfüllt werden als gedacht. Manchmal habe ich versucht, meine Bedürfnisse mit meiner Vernunft abzuschneiden. Erfolglos. Sie machen sich an anderer Stelle wieder bemerkbar. Bedürfnisse sind wichtig und können nicht einfach abgeschnitten werden. In ihnen liegt auch ein Teil meiner Persönlichkeit. Meine Bedürfnisse geben mir Antrieb für Veränderung. Ist etwas im Hier und Jetzt nicht gut, dann melden sich meine Bedürfnisse durch ein ungutes Gefühl. Bedürfnisse schaffen neue Ideen, Räume und Begegnungsflächen.
Sehnsüchte und Wünsche, wie ein Bedürfnis erfüllt werden soll, haben auch die Schlagkraft, mich zu beherrschen. Wenn mein ganzer Fokus auf der Erfüllung meines Wunsches liegt, dann wird er zerstörerisch und sorgt dafür, dass ich das Schöne, das neben dem unerfüllten Wunsch steht, nicht mehr wahrnehme. Dankbarkeit für das, was da ist, hilft gegen den Frust der unerfüllten Wünsche. Auch helfen weitere Perspektiven, wie Bedürfnisse gestillt werden könnten. Es gibt viele Wege dafür und wenn sie mir selbst nicht in den Sinn kommen, haben Freunde und Gott oft weitere kreative Ideen. Folgende Haltung hilft mir: Ich halte meine Handflächen nach unten und lasse los: Alles, was mich beschwert, gebe ich an Gott ab. Ich halte inne. Dann drehe ich meine Handflächen nach oben: Ich empfange. Ich bete mein persönliches Gebet. Mein Taufvers lautet: „Denen, die Gott lieben, werden alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28). Darauf will ich vertrauen.
Tamara von Abendroth arbeitet in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Berlin.