Beiträge

Auf eigenen Füßen – Großfamilie im Konflikt

Elternfrage: „Mich belastet im Umgang mit den Schwiegereltern unseres Sohnes (22) das Gefühl, immer zurückstecken zu müssen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wo mein Sohn und seine Frau die Feiertage verbringen. Was kann mir dabei helfen?“

Diese Frage führt uns in eine Großfamilie, die noch nicht lange in dieser Konstellation besteht: Zwei junge Menschen haben geheiratet und damit treffen zwei Familienkulturen der Herkunftsfamilien aufeinander. Das betrifft aber nicht nur das Paar, sondern auch alle Angehörigen. Unsere Familienkultur prägt unseren Umgang mit Ritualen und Festen, aber auch mit den grundsätzlichen Themen wie Kommunikation und Erwartungen. Da gibt es ein Ehepaar, das gern an den Feiertagen ihren Sohn und seine Frau bei sich haben möchte. Und es gibt ein anderes Ehepaar, das gern zur gleichen Zeit ihre Tochter und deren Ehemann bei sich haben möchte. Um besser verstehen zu können, was in diesem Gesamtsystem „Großfamilie“ vor sich geht und wie sich dafür Lösungen finden lassen, kann man die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg nutzen.

Gewaltfreie Kommunikation

Schritt 1: Was ist passiert? Versuchen Sie, so objektiv wie möglich zu beschreiben, was vorgefallen ist. Als ob Sie einen Film drehen würden, der vor dem inneren Auge abläuft. Wer hat was getan oder nicht getan und in welcher Reihenfolge?

Schritt 2: Welche Gefühle hat das Geschehen bei Ihnen ausgelöst? Es lohnt sich, darüber etwas länger nachzudenken.

Schritt 3: Welche Bedürfnisse stehen hinter den Gefühlen, die Sie entdeckt haben? Man könnte sich selbst auch fragen: Was will ich „eigentlich“? Was treibt mich denn so um, dass ich mich benachteiligt, ärgerlich, verletzt, hilflos oder ähnliches fühle? Wenn Sie bemerken, dass es emotional erstaunlich heftig in Ihnen zugeht, könnte es sein, dass sehr wichtige Dinge wie eine Sehnsucht, eine Überzeugung, ein Grundwert oder Ideal (zum Beispiel von Familie) berührt wurden.

Schritt 4: Formulieren Sie eine Bitte an sich selbst oder an eine andere Person, in der freundlich in Worte gefasst wird, was Sie sich wünschen.

Diese Abfolge von Fragen kann dazu dienen, dass Sie sich besser verstehen und sortieren.

Verständnis füreinander

Eine weitere Übung ist es, diesen 4-Schritte-Ablauf für jede beteiligte Person des Systems einmal zu durchdenken. Natürlich ist da etwas Spekulation dabei, aber sicherlich werden einige Fragen auch leicht zu beantworten sein. Was hat Ihr Ehepartner erlebt? Was hat denn das junge Paar dabei erlebt? Was haben die Eltern der Schwiegertochter erlebt? Gibt es überraschende Erkenntnisse bei dieser Betrachtung?

Der nächste Schritt wäre nun, diese Kommunikation nicht nur im Denken, sondern in der Realität zu führen. Ein „Sag mal, wie geht es dir eigentlich damit, wie wir die Feiertage als Familie verbringen?“ könnte Ihnen vielleicht leichter gegenüber Ihrem Sohn über die Lippen kommen, weil Sie sich vorher über Ihre Gefühle und Bedürfnisse klar geworden sind. Vielleicht kommen auch überraschende Erkenntnisse zutage, wer was gesagt oder nicht gesagt hat; wer welche Gefühle mit sich herumträgt und wer was gern hätte oder erwartet. Dabei können große Unterschiede oder Übereinstimmungen entdeckt werden. Im Idealfall kann sich ein größeres Verständnis für die anderen Beteiligten einstellen. Und vielleicht gelingt es anschließend, eine neue gemeinsame Großfamilienkultur zu leben.

Ursula Hauer leitet den Seelsorge- und Beratungsdienst Feuerbach und lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.

„Wie sollen wir das alles schaffen, Papa?“ – Vater einer Großfamilie erzählt vom Corona-Alltag

500 Gramm Nudeln für sieben Esser, vier Videokonferenz-Programme und Zelten im Garten. Großfamilie Hullen erlebte die Zeit des Lockdowns als besonders anstrengend – und außerordentlich bereichernd.

Wie werden wir uns einmal an diese Corona-Zeit zurück erinnern? Wie werden wir diese absonderlichen Monate bewerten, als in Deutschland Tausende starben, noch viel mehr in wirtschaftliche Nöte gerieten und das komplette öffentliche Leben zusammenbrach? Ich traue es mich fast nicht zu sagen, aber: Ich habe die Zeit genossen, all den Herausforderungen zum Trotz, mit denen unser Großfamilienhaushalt zu kämpfen hatte.

Fünf Kinder zu bespaßen

Wir haben eine Tochter in der siebten Klasse, Zwillingsmädchen in der fünften Klasse und zwei Jungs im Kindergarten, drei und sechs Jahre alt. Fünf quirlige Kinder also, darunter ein hyperaktiver Autist, die wir plötzlich ganztags beschulen, betreuen und bespaßen mussten. Sieben gute Esser, die bekocht werden wollten in einer Zeit, wo es weder Mehl, noch Nudeln, noch Klopapier zu kaufen gab. Der Lockdown führte uns an unsere Grenzen und eröffnete uns neue Räume. Aber der Reihe nach.

Sommerlager-Laune

Als am Freitag, 13. März, die Schulschließungen verkündet werden, kommen unsere drei Mädchen freudestrahlend von der Schule nach Hause. Für sie ist klar: „Wir haben Corona-Ferien!“ Auch ich bin sofort in Sommerlager-Laune: Die Aussicht auf ein paar unverhoffte freie Tage lässt uns direkt Pläne schmieden. Wir könnten einige Spaßbäder abklappern, Bekannte besuchen und ein paar Räume renovieren. Wenige Tage später ist klar: Daraus wird nichts.

Anfangs hochmotiviert

Die ersten Wochen des Homeschoolings bringen wunderschöne kreative Ergebnisse hervor und uns an den Rand der Verzweiflung. Die Mädchen stürzen sich hochmotiviert auf ihre Aufgaben. Ein Aufsatz in Religion über vier Seiten? „Es hat halt so viel Spaß gemacht“, verkündet Amelie (13). Und die beiden Fünfklässlerinnen Aurelia und Valentina machen aus schnöden Buchrezensionen epische Kunstwerke mit 13 Seiten. Ich ringe mit mir: Soll ich sie bremsen, damit sie sich ihre Kräfte besser einteilen? Oder sollte man diese fröhlichen Lern-Anfälle fördern, weil der Spaß an der Sache wichtiger ist als jedes Kosten-Nutzen-Kalkül?

Die Entscheidung wird uns abgenommen. Als die Mädchen merken, dass immer mehr Aufgaben eintrudeln, weicht die Begeisterung schierer Panik: „Wie sollen wir das alles schaffen, Papa?“, stöhnen sie, während der Drucker die Arbeitsblätter dutzendweise ausspuckt. Es ist offensichtlich, dass auch ihre Lehrer hochmotiviert bei der Sache sind.

Homeschooling + Homeoffice = Homekatastrophing

Ich bin auch Lehrer und ebenfalls sehr motiviert, das Beste aus der Fernbeschulung herauszuholen. Und da man als Lehrer sowieso einen guten Teil der Arbeit zu Hause am Schreib- oder Küchentisch erledigt, sollten ein paar zusätzliche Stunden Heimarbeit eigentlich kein Problem sein, denke ich.

Ich denke falsch. Statt Home-Officer bin ich Bürokaufmann („Papa, kannst du Englisch ausdrucken?“), Nachhilfelehrer („Ich verstehe die Mathe-Aufgabe nicht!“ – „Was genau verstehst du denn nicht?“ – „Alles!“), IT-Fachkraft („Wir müssen Zoom installieren, gleich startet unsere Videokonferenz!“), Publikum („Ich lese dir mal meine Geschichte vor, ja?“), Erzieher („Hör auf, deinen Bruder zu hauen!“) und Kinderpfleger („ABPUUUTZEN!“). Dazu kommt, dass jeder Einkauf plötzlich Stunden dauert, weil man ein halbes Dutzend Supermärkte abklappern muss, bis man hier sechs Rollen Klopapier, dort ein Kilo Mehl und nirgends Hefe ergattern kann. Ich stelle fest, dass alle Supermärkte davon überzeugt sind, dass 500 Gramm Nudeln für eine siebenköpfige Familie eine haushaltsübliche Menge darstellen.

Arbeiten bis zwei Uhr nachts

Und schließlich benötigen auch unsere kleinen Jungs viel Aufmerksamkeit, vor allem unser autistischer Konstantin (6). Darum verschiebt sich meine eigene Unterrichtsvorbereitung weit in die Nachtstunden, vor zwei Uhr komme ich nicht ins Bett. Merke: Wer meint, Homeoffice und Kinderbetreuung ließen sich gut miteinander verbinden, der hat beides nicht verstanden.

Technik zehrt an den Nerven

Besonders die technische Seite des Homeschoolings ist nervenzehrend. Die von vielen Schulen genutzte Lernplattform moodle bricht unter dem massiven Ansturm zusammen, ist in den ersten Wochen kaum benutzbar. Die Lehrer meiner Kinder suchen Alternativen, in kurzer Folge werden zwei Lernplattformen und vier verschiedene Videokonferenz-Programme benutzt, die auf den Smartphones der Kinder installiert werden müssen – und die mal mehr, mal weniger, mal gar nicht funktionieren. Wie viel Stress, Frust und Leidensdruck verspüren wohl all die Schülerinnen und Schüler, die keine Unterstützung durch technik-affine Eltern haben?

Ein Wochenplan muss her

Nach der ersten, chaotischen Woche beschließen wir, mehr Struktur in unseren Corona-Alltag zu bringen. Jeden Sonntagabend machen wir Familienrat. Während die kleinen Jungs schlafen, reflektieren wir die Höhepunkte der letzten Tage, thematisieren Probleme (Dauerthema: der stets ausbaufähige Küchendienst) und planen die nächste Woche. Es gibt nun vormittags fixe Lern- und Pausenzeiten. Die warmen Mahlzeiten werden festgelegt, sodass wir nicht jeden Tag entscheiden müssen, was es wohl zu essen gibt. Und mit großer Freude überlegen wir uns besondere Aktionen: Fahrradtouren, Bastelnachmittage, Spiele- oder Filmabende, Wellness-Kuren mit selbstgemachter Gurkenmaske bei Kerzenschein im Wohnzimmer, Vorlese-Abende, Übernachtungen im Garten, Raclette-Abende, Arbeitseinsätze … Hier erfahren wir eine unglaubliche Bereicherung unseres Familienlebens! So viele schöne und intensiv genutzte Stunden mit meinen Kindern habe ich wohl in den letzten zehn Jahren zusammen nicht erlebt!

Die intimste große Feier

Zu den Höhepunkten gehört auch unser 20. Hochzeitstag. Bislang hatten Katharina und ich unsere Hochzeitstage eher unspektakulär mit einem abendlichen Restaurantbesuch begangen. Was nun? Wir ergreifen den Stier trotzig bei den Hörnern. Oma und Opa, mit denen wir in einem Haus wohnen, werden ganz förmlich per Karte eingeladen – „um festliche Garderobe wird gebeten“. Den ganzen Tag bereiten Katharina und ich in der Küche ein opulentes Drei-Gänge-Menü vor, das Wohnzimmer wird leergeräumt und in einen Ballsaal umfunktioniert, wo wir nach dem Dinner erst den Hochzeitstanz reaktivieren und dann mit den Kinder zu einem fröhlichen Rumgehopse übergehen.

Schön war‘s. Und skurril. Es war der erste Hochzeitstag, den wir richtig groß gefeiert haben. Und dabei war es gleichzeitig die intimste große Feier, die wir jemals ausgerichtet haben.

Rasenmähen, Wischen, Fensterputzen

Ob es den Familienrat und die Wochenpläne auch nach Corona noch geben wird, weiß ich nicht. Eine Aktion werden wir aber auf jeden Fall beibehalten: das Arbeitsamt. Diese Aktivität wurde aus der Not geboren: Da unsere fünf Kinder die Wohnung schneller verwüsten, als man hinterherräumen kann, haben wir irgendwann alle anfallenden Arbeiten auf Post-Its notiert und mit Sternchen versehen. Dann wetteifern alle darum, so viele Arbeiten wie möglich zu erledigen, um mit den gesammelten Sternchen begehrte Preise (Film aussuchen, Snack bestimmen, mehr Handyzeit etc.) zu ergattern. Das ist eine absolute Win-Win-Win-Situation. Die Wohnung wird sauber, viele „Das-müssten-wir-irgendwann-mal-anschrauben“-Arbeiten werden erledigt und die Kinder lernen nebenbei Rasenmähen, Wischen und Fensterputzen.

Was wird mir also in Erinnerung bleiben? Neben dem Gefühl der Bedrohung und der Sorge um meine Lieben möchte ich vor allem an die schönen Seiten denken: An die Wochen ohne unzählige Termine, an das etwas spätere Frühstück, an das Zusammenwachsen als Familie. Und daran, dass wir alle hoffentlich gesund aus dieser Krise herausgekommen sind.

Kleinunternehmen Großfamilie: So lebt es sich mit acht Kindern

Weihnachtsfeier-Marathon, teure Schwimmbad-Tickets und abschätzige Kommentare – Großfamilie Müller hat’s manchmal schwer. Trotzdem geht die Harmonie nicht flöten. Wie das?

Fast eine Stunde ist meine kleine Familie mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, um an den Rand Berlins zu gelangen. Zehn Minuten schlendern wir mitten auf der dörflich anmutenden Straße, denn wann hat man als Großstädter schon mal eine Straße ganz für sich allein? Schließlich machen wir vor dem fliederfarbenen Haus der Familie Müller Halt. Ein schlanker junger Mann mit südländischem Teint empfängt uns freudig und warmherzig. Martin, der Familienvater, und mein Mann kennen sich von einem gemeinsamen Musiktherapie-Studium. Schon beim Betreten der Wohnküche beschleicht mich ein Gefühl von Ehrfurcht: Hier soll eine zehnköpfige Familie leben? Davon zeugt einzig der lange Tisch mit den vielen Sitzgelegenheiten, ansonsten ist alles picobello ordentlich. Mutter Christina, auch sie hat einen südländischen Einschlag, empfängt uns genauso warmherzig und tiefenentspannt wie ihr Mann. Ihr Bauch kann schon nicht mehr ganz verbergen, dass darin gerade ein elftes Familienmitglied heranwächst.

EIN TISCH VOLLER KINDER

Vom Tisch blicken mir drei adrett gekleidete Jungen im Grundschulalter entgegen, die geduldig vor ihren Tellern warten, auf denen bunte Kuchenstücke liegen. Zu ihnen gesellen sich in den nächsten Minuten, fröhlich plaudernd, fünf weitere Kinder im Alter von knapp zwei bis fünfzehn Jahren. Trotz kühler Temperaturen ist unser fast zweijähriger Sohn der einzige mit einer Rotznase und auch der einzige, der sich schon vor offiziellem Beginn des Kaffeetrinkens am Obstteller bedient. Nun wird gesungen und fröhlich zugelangt. Den Papageienkuchen hat der zehnjährige Wilhelm fast ohne Hilfe gebacken.

Als ich mein Diktiergerät einschalte, wandern immer mal wieder neugierige Blicke aus zehn Augenpaaren zu mir herüber, bereit, sich jederzeit am Gespräch zu beteiligen.

NOCH NICHT VOLLSTÄNDIG

Das Haus mit den sechs Kinderzimmern hat die Familie 2011 bezogen, als die Grundstückspreise noch erschwinglich waren. Die monatlichen Raten für den Kredit sind sogar ein wenig geringer als die Miete für das Reihenhaus, in dem sie vorher gewohnt haben.

Martin (Jahrgang 1979) und Christina (1978) haben sich in ihrem Heimatort in Thüringen schon im Jugendalter kennengelernt und mit Anfang Zwanzig geheiratet. Als sie über Familienplanung gesprochen haben, sei schnell klar gewesen, dass beide sich mehrere Kinder vorstellen konnten. Vier oder fünf mindestens. Danach hätten sie es einfach immer noch mal gewagt. Christina sagt, sie habe so ein Gefühl gehabt, noch nicht vollständig zu sein. Martin erläutert, dass ein neues Kind ja auch immer ein neuer Mensch sei, auf den man sich erst einlassen müsse: „Doch irgendwie haben unsere Kapazitäten das hergegeben.“

DER LUSTIGE PAPA

Ich bin noch immer baff von der freundlichen, selbstbewussten und bildschönen Kinderschar und frage sie nach den Superkräften ihrer Eltern, so eine Großfamilie am Laufen zu halten. Mit einem Lachen verrät die 14-jährige Elisabeth: „Papa ist sehr geduldig.“ Und Wilhelm (10) ergänzt: „Ja, und nett.“ August (8) weiß noch hinzuzufügen: „Und lustig.“ Wie man es denn schaffe, als geduldiger, netter und lustiger Papa mehrere Kinder gleichzeitig zum Verlassen des Hauses fertig zu machen, möchte ich wissen. Daraufhin lacht Martin und gibt zu, dass das eher keine seiner Spezialfertigkeiten sei und am Ende meist die falschen Kinder die falschen Klamotten tragen würden. Christina habe da den besseren Überblick.

MAMA-SUPERKRÄFTE

Christina ist neben ihrem Mann, dem Fels in der Brandung, das Organisationsgenie. Laut Martin hat sie stets alle Termine auf dem Schirm und kümmert sich um die logistische Umsetzung. Sie sei es, die den ganzen Laden zusammen und am Laufen halte. Wilhelm bringt es auf den Punkt: „Sie hat Mama-Superkräfte“. Denn wo schon so manche Kleinfamilie über die hohe Terminbelastung durch Kindergeburtstagseinladungen und Elternsprechtage klagt, lässt Familie Müller sich nicht lumpen. Martin: „Zweimal im Jahr gibt es einen Marathon. Einmal im Dezember, wenn die ganzen Weihnachtsfeiern anstehen, und am Schuljahresanfang die Elternabende. Da stehen wir in der Regel bei jedem Termin auf der Matte.“ Martin arbeitet als Krankenpfleger und Musiktherapeut. Christina ist Sozialarbeiterin bei der Stadtmission und gerade in Elternzeit. Durch das staatliche Bildungs- und Teilhabepaket werden Hobbys und Klassenfahrten der Kinder bezuschusst. Meiner Meinung nach für den Staat ein super Deal, wenn man bedenkt, was die Kinderschar schon in einigen Jahren in die Renten- und Sozialkassen einzahlen wird.

GROSSFAMILIENALLTAG

An einem ganz normalen Wochentag unternehmen Martin oder Christina morgens um 5:50 Uhr ihren Streifzug durchs Haus, um alle Kinder zu wecken. Nach und nach versammelt sich die Familie zum Frühstück in der Wohnküche. Die 14-jährige Elisabeth ist die Erste, die mit wehenden Fahnen das Haus verlässt, denn ihr Schulweg dauert fast eine Stunde. Seit der fünften Klasse besucht sie ein musikbetontes Gymnasium im Herzen Berlins. „Ich musste einen Aufnahmetest machen, und es hat überraschenderweise funktioniert. Die Schule ist richtig cool. Wir haben extra Musikstunden und einen Chor. Montags gehe ich nach der Schule noch zur Stimmbildung.“

VOLLZEIT-JOB

Ein bisschen später machen sich die anderen Schulkinder Hannah, Agathe, Wilhelm und August auf den Weg. Bei gutem Wetter schwingen sie sich aufs Fahrrad, ansonsten nehmen sie den Bus. Albrecht und Joseph werden in den Kindergarten gebracht, und mit der knapp zweijährigen Martha besucht Christina einmal wöchentlich die Krabbelgruppe. Der Vormittag vergeht wie im Flug. Christina kämpft sich durch Wäscheberge, saugt das Haus, räumt auf, lüftet, kocht, und schon um 12 Uhr stehen die ersten Kinder wieder zum Mittagessen auf der Matte. Eine Haushaltshilfe gibt es nicht.

EIN JOB FÜR ZWEI

In den letzten Monaten musste Christina aufgrund von Schwangerschaftskomplikationen strenge Bettruhe halten. Für Martin eine echte Zerreißprobe. Gott sei Dank würden die älteren Kinder ganz selbstverständlich mithelfen, doch neben seinem Job auch noch Christinas Aufgaben zu meistern, sei sehr herausfordernd gewesen. Jetzt darf sie das Bett wieder verlassen und wirbelt in gewohnter Weise durchs Haus.

ALS PAAR AUFTANKEN

Nach den Hausaufgaben sind die Nachmittage gefüllt mit gemeinsamem Spiel im Haus und Garten, denn bei so vielen Geschwistern findet man garantiert immer einen Spielpartner. Jedes Kind ist an mindestens zwei Nachmittagen im Sportverein oder beim Musik- oder Tanzunterricht. Hier und da werden sich Fahrten mit Nachbarsfamilien geteilt. Abends gehen die älteren Kinder selbstständig zu Bett, die jüngeren werden von den Eltern gebracht. Wenn Ruhe eingekehrt ist und die Kräfte reichen, ziehen Christina und Martin manchmal noch zusammen los, um einen Abend in Zweisamkeit außerhalb des Hauses zu erleben. Die großen Mädchen sind es gewohnt, ab und zu die Jüngeren zu hüten. „Diese gemeinsame Zeit ist enorm wichtig, um als Paar aufzutanken“, erklärt Martin. „Wir schauen auch, dass im Alltag Zeiten sind, in denen wir zum Quatschen kommen. Manchmal ist das im Eifer des Gefechts eine umkämpfte Geschichte, die uns mal mehr, mal weniger gut gelingt.“

EIN ZENTRUM FÜR GROSSFAMILIEN

Martins Leidenschaften sind Musik und Literatur. Auch dafür erarbeitet er sich immer wieder Freiräume. Christina trifft sich gern allein mit einer Freundin oder widmet sich ihrem Hobby Nähen. In ihrer Gemeinde engagiert sie sich ehrenamtlich im Team für den Kindergottesdienst, den sie mit aufgebaut hat.

Sonntags setzt sich die ganze Familie in ihren Kleinbus und fährt in die Kirchengemeinde. Hin und wieder besuchen sie alle gemeinsam Freunde oder unternehmen Wochenendausflüge zu den Großeltern. Ihren Sommerurlaub verbringen die Müllers meist an der Ostsee. Dort gibt es ein Familienerholungszentrum, das speziell für Großfamilien ausgelegt ist.

ABSCHÄTZIGE KOMMENTARE

Wenn die Familie gemeinsam in der Öffentlichkeit auftritt, fallen schon auch mal abschätzige Kommentare von Fremden, oder Passanten schütteln ungläubig den Kopf. Das habe sich in den letzten Jahren jedoch deutlich verbessert, erzählen die Eltern. Die überwiegende Mehrzahl der Rückmeldungen sei positiv: „Mensch, gute Arbeit!“

KEINE KARTE FÜRS SCHWIMMBAD

Auf meine Fragen, ob es auch manchmal schwierig sei, in so einer großen Familie zu leben, erhalte ich von den Kindern nur Antworten, wie: „Nein, alles ist toll.“ Nach einigem Überlegen nennen die Eltern Eintrittskarten für den Zoo oder das Schwimmbad, die für ihre Familiengröße nicht existierten, weshalb so ein gemeinsamer Ausflug fast unbezahlbar sei.

Und Taschengeld? Hier gibt es die Regelung, dass jedes Kind pro Schulstufe, in die es geht, einen Euro pro Woche bekommt. Hannah, die Älteste, verdient sich durch gelegentliches Babysitten oder Aushilfsjobs in der Firma von Freunden etwas dazu.

PLATZ NACH OBEN?

Die Müllers sind gern mit ihrer Familie zusammen und können sich kein anderes Leben vorstellen. Unter den Kindern herrscht ein liebevoller Umgang. Alle sind sehr musikalisch und genießen das regelmäßige gemeinsame Musizieren. Ihren christlichen Glauben leben Martin und Christina durch Gebete, zum Beispiel vor dem Essen, beim Zubettbringen oder beim unregelmäßig stattfindenden Familienrat. Sie wollen den Kindern ihren Glauben nicht aufzwingen, sondern wünschen sich, dass diese ganz frei einen positiven Zugang dazu erlangen.

BLOSS KEINE VERGLEICHE

Ob auch nach Kind Nummer neun noch Platz nach oben sei, möchte ich wissen. Beide Eltern schließen das nicht aus, erwähnen nur, dass altersbedingt ja irgendwann eine Grenze erreicht sei. Nach einem herzlichen Abschied muss ich mich auf dem Heimweg bemühen, mich nicht zu vergleichen. Mir ist sogar mein eines Kind schon manchmal zu viel. Ich freue mich total für diese tolle Familie und bin überzeugt, dass jeder von ihnen genau am richtigen Platz ist und die beiden Eltern einfach eine Gabe für das Kleinunternehmen Großfamilie haben.

Anna Koppri liebt es, durch ihren Schreibjob immer wieder Einblicke in die verschiedensten Lebensbereiche zu erhalten. Mehr von ihr auf: liebenlernenblog.wordpress.com

Inzwischen ist bei Familie Müller Kind Nr. 9 dazugestoßen: Mit Adele Johanna sind nun die Mädchen in der Überzahl.

Ein Kind isst Schokolade aus einem Glas.

Nutellafrühstück bei Oma

Mit den Eltern unter einem Dach zu leben, ist für eine Familie Gewinn und Herausforderung zugleich. Von Beate Kuhn

„Man sollte als junges Ehepaar so weit weg von den Eltern wohnen, dass man die Schürze ausziehen muss, um sich gegenseitig zu besuchen!“ Als junge Frau habe ich über diese Lebensweisheit den Kopf geschüttelt: Damals lebte ich als unerfahrene Mutter von zwei kleinen Kindern und mit einem vielbeschäftigten Ehemann 320 Kilometer entfernt von meinen Eltern und vermisste viel zu sehr den gegenseitigen Kontakt, um den Wahrheitskern zu erahnen. Erst später habe ich verstanden, dass ein gewisser Abstand beiden Seiten auch guttun kann.

Zurück nach Hause

Nach zwölf Jahren zogen wir aus beruflichen Gründen zurück in die alte Heimat und nahmen das großzügige Angebot meiner Eltern an: Ihnen war das Haus nach dem Tod meiner Großeltern zu groß geworden. Sie verkleinerten sich auf das Dachgeschoss und machten uns als fünfköpfiger Familie Platz. Den konnten wir gut gebrauchen. Nach Mehrfamilienhaus und Gemeinschaftsgarten fühlten wir uns auf nunmehr 200 Quadratmetern und Garten wie im Paradies und breiteten uns aus. Die darauffolgenden Jahre unter einem Dach sind angefüllt mit vielen schönen Erfahrungen, aber auch mit manchem Konfliktstoff. Kinder und Eltern wurden älter – und wir mittendrin: Verwoben in eine Gratwanderung zwischen dem Idealbild der harmonischen Großfamilie und der Realität, dass wir alle Fehler machen. Wenn ich darüber erzähle, möchte ich weder schwarzmalen noch idealisieren.

Heimliche Verschwörungen

Das Zusammenleben birgt eine Menge Vorteile: Die Kinder hatten Oma und Opa in greifbarer Nähe – für beide Seiten ein Schatz fürs Leben! Die Palette der großelterlichen Liebestaten ging vom großzügigen Nutellabrotfrühstück über geduldige Taxifahrten bis hin zu heimlichen „Verschwörungen“. So kennen wir bis heute nicht die wirklichen Geschehnisse jener ereignisreichen, spontanen Partynacht, in der wir als Eltern außer Haus waren und Oma und Opa Hintergrunddienst hatten.

Auch wir Älteren profitieren: Bis heute wandern alle Näharbeiten in den Nähkorb meiner Mutter – und mein Mann hat seine Schwiegereltern geduldig an die Finessen und Tücken eines Tablets und Smartphones herangeführt. Geteilte Arbeit ist halbe Arbeit: Mein Vater werkelt gern, und einmal in der Woche kocht meine Mutter für uns alle, was uns einiges an Arbeit abnimmt. Und sobald eine Regenwolke am Horizont auftaucht, bietet mir mein Vater sein Auto an. Wie lieb!

Im Notfall ganz nah

Als mein Vater schwer erkrankte, haben wir miteinander die Hände gefaltet und Gott in den Ohren gelegen. Tatsächlich offenbaren Krankheitstage den kostbaren Wert einer solchen Hausgemeinschaft: Schnell mal die Treppe hochzuspringen, nach dem Rechten zu schauen und ein freundliches Wort zu wechseln, kostet keine Minute. Die zumutbare Fürsorge für den Fall einer dauerhaften Pflegebedürftigkeit ist bisher nicht eingetreten, aber miteinander vereinbart.

Nicht zuletzt hat es finanzielle Vorteile, anfallende Kosten zu teilen – so sind wir alle an einem Ort, den wir lieben und der Platz und Freiheiten bietet, die sich eine Partei für sich allein auf Dauer nicht leisten könnte.

Bitte anklopfen!

Natürlich gibt es auch Konfliktfelder: Die in unseren ersten Ehejahren liebgewonnene Unabhängigkeit war nicht so leicht aufrechtzuerhalten. Mein Mann mag seine Schwiegereltern sehr, aber ebenso seine Privatsphäre. Er plädierte deshalb von Anfang an für den Einbau eines üblichen Türschlosses. Ich wiederum fürchtete, dass dies von meinen Eltern missverstanden würde und hoffte darauf, dass das vereinbarte Beachten der Privatsphäre funktionieren würde.

Und so gibt es immer wieder Situationen, die schwierig sind: Meine Eltern müssen sich bis heute dazu überwinden, im ehemals eigenen Haus den Weg in den Keller nicht durch unsere Wohnung, sondern außen um das Haus herum zu nehmen. Oder unseren Bereich tatsächlich nicht zu betreten, wenn niemand von innen „Herein“ ruft. Auch der Umgang mit Nacktheit in den eigenen vier Wänden erfordert Erfindungsreichtum und eine gehörige Portion Humor. Dann das Konfliktfeld Garten: Meine Eltern lieben gepflegte Beete, wir ziehen bei schönem Wetter einen Ausflug dem Rasenmähen vor. Kompromisse sind auf beiden Seiten nötig. Der Samstag war in meiner Herkunftsfamilie von jeher Arbeitstag, mein Mann freut sich jedoch nach einer stressigen Woche auf „lazy time“. So muss immer ein Mittelweg gefunden werden. Als Ehefrau und Tochter stehe ich öfter zwischen den Stühlen. Das empfinde ich als anstrengend.

Nicht alles mitbekommen

Beim Zusammenleben ist klare Kommunikation eine große Hilfe, hier war und ist mir mein Mann ein großer Lehrmeister.

Mittlerweile sind die Kinder ausgezogen und wir sind nur noch zu viert. Unsere Kinder und Enkelkinder leben alle weiter weg. Wenn ich sie treffen möchte, muss ich mir nicht nur „die Schürze abbinden“, sondern jedes Mal einen Koffer packen! Das bedaure ich schon mal. Aber auch wenn mein Omaherz dann seufzt, weiß mein Kopf: Die junge Familie ist eine Einheit für sich. Nichts braucht sie weniger als Großeltern, die alles mitbekommen. Und offen gestanden: Neben aller Sehnsucht genießen wir Alten ebenfalls, dass wir nicht alles mitbekommen!

Ganz viel Verständnis

Wir sind also nun selbst schon fast in der Phase angekommen, in der meine Eltern damals die Entscheidung getroffen haben, uns den Einzug anzubieten. Ihre damit verbundenen Opfer und Lernprozesse kann ich deshalb immer besser verstehen. Dazu kommt unsere wachsende Einsicht über die Prägung der Generation Kriegskinder, für die Ordnung und Besitz einen anderen Stellenwert haben als in meiner Generation. Ich verstehe meinen Vater, wenn er seinen Rasen pflegen möchte. Und ich verstehe mich, wenn ich bei schönem Wetter manchmal andere Pläne habe. Dazwischen liegt der weise Satz des Paulus: „Einer achte den anderen höher als sich selbst.“ – Lösung und Kunststück zugleich. Danke, Paulus!

Beate Kuhn ist Ehefrau, Mutter, Oma und Tochter, lebt in Bad Berleburg und bezeichnet ihre derzeitige Lebensphase als spannenden „Altweibersommer“.

Klapp die Flügel ein!

Elisabeth Vollmer über ein neues Motto in ihrer Großfamilie

Weiterlesen