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Nicht länger in einem Nest

Wenn die Kinder ausziehen, verändert sich das gesamte Familiengefüge. Christiane Lötter möchte dazu ermutigen, die Beziehungen neu zu gestalten.

Sind die Kinder klein und die Eltern zusammen, ist es einfach: Man ist Familie – so oder so. Der Auszug der Kinder bedeutet, dass Bewegung in die Familie kommt. Nichts ist mehr, wie es vorher war, so sehr mancher auch versucht, das Alte festzuhalten. Das, was bisher gut lief, wird auf den Prüfstand gestellt: Trägt es uns oder müssen wir neu gestalten? Halten wir anstehende Veränderungen aus? Wie gehen wir damit um, wenn wir loslassen müssen und es doch gar nicht wollen? Schnell fallen uns jede Menge wundervolle Ereignisse ein: Was haben wir nicht alles angestellt, unternommen und gefeiert? Wie viel Aufregungen und Abenteuer haben wir zusammen erlebt?

Furcht vor dem Neuen

Wenn unsere Kinder uns verlassen, fahren die Gefühle häufig Achterbahn zwischen „Endlich mehr Freiraum für uns!“ und „Wird es ihnen auch gut gehen?“. Die Kinder selbst gehen voller Enthusiasmus und Abenteuerlust. Wenn wir Glück haben, zeigen sie uns, dass sie sich auch ein wenig vor dem Neuen fürchten. Manch eine Mutter oder ein Vater fühlt sich vielleicht verletzt, weil sie uns scheinbar so leicht und selbstverständlich verlassen.

Studium, Partys, neue Freunde

Aber unsere Kinder erleben, was jedem Ende innewohnt: Abschied, Verlust und Loslassen. Sie zeigen das oft nicht, weil sie uns beschützen wollen. Und weil sie uns zeigen wollen, dass sie es schaffen, und weil die Aussicht auf ein neues, eigenes Leben alles überstrahlt. Deshalb erzählen sie nichts von Heimweh und Niederlagen. Das tun sie frühestens, wenn sie es überwunden haben. Sie erzählen uns von Ausbildung, Studium, Partys, neuen coolen Freunden und wie toll alles ist. Und das machen sie richtig, denn es geht uns nichts an, wie sie ihr Leben gestalten. Bleibt die Frage, ob wir auch in ein verändertes Leben gehen. Ob wir eigene Träume, die wir bisher zurückgestellt haben, verwirklichen und mit der Kraft, die aus unserer Familiengeschichte gewachsen ist, neue Wege beschreiten.

Was das Herz sagt

Wie soll nun aber unser neues Familienleben aussehen? Vieles hängt davon ab, wie unsere Kommunikation bisher ablief. Haben wir viel miteinander gesprochen? War die Atmosphäre von Vertrauen und Offenheit geprägt? Welche Typen sind wir? Wir können unsere Traditionen pflegen oder Neues ausprobieren. Reden wir mit unseren Familienmitgliedern darüber. Hören wir auf das, was der andere meint und auf das, was unser Herz sagt.

Natürlich können wir unseren Kindern davon erzählen, dass wir mit dem Abnabeln Schwierigkeiten haben, dass wir sie vermissen, dass wir das Beste für sie wollen und sie uns wichtig sind. Sie durch unsere Augen schauen zu lassen, zeigt ihnen, dass wir sie ernst nehmen. Und dann sind wir auch schon mittendrin in der Gestaltung.

Plötzlich frei

Die räumliche Entfernung bedeutet nicht gleichzeitig eine innere Distanz. Für Eltern kann es sehr befreiend sein, wenn ihnen eines Tages aufgeht: Wir haben zwar nicht mehr so viel Einfluss auf unser Kind, aber wir sind auch freier, weil wir keine Verantwortung für sein Handeln mehr haben. Eine Botschaft an die Kinder kann sein: „Wir sind immer für dich da, wenn du uns brauchst. Aber in den Zeiten, in denen du uns nicht brauchst, sorgen wir für uns.“

Kein Mausoleum

Gestalter des Familienlebens sind nicht nur die Eltern, auch die Kinder sind herausgefordert, daran mitzuwirken. Mama muss nicht jedes Mal ein vollkommenes Menü auf den Tisch zaubern. Kinder können ihr Bettzeug mitbringen, sie müssen nicht bei jedem Besuch ein Chaos hinterlassen. Die alten Kinderzimmer dürfen einer neuen Bestimmung übergeben werden. Sie sind kein Mausoleum, dass die Kindheit für immer aufbewahrt.

Wir dürfen sorgfältig prüfen, was bleiben kann und was gehen muss. Wir haben die Erlaubnis, für das Neue Platz zu schaffen, innerlich und äußerlich. Das Tempo bestimmen wir selbst. Gestaltung bezieht sich sehr auf die nicht greifbaren Dinge. Es kann hilfreich sein, das mit Praktischem sichtbar zu machen. Beide, die Nestflüchtlinge und die Zurückgebliebenen, sind herausgefordert, ihren Platz zu finden in diesem Familienkonstrukt.

Distanz halten, Nähe finden

Immer wieder berichten Eltern, dass es gut war, auf Distanz zu gehen, weil der Blick auf die Kinder nun freier war und die alltäglichen Reibereien aufgehört haben. Stattdessen sei nun Platz für lockere und für ernste Gespräche. Die gemeinsame Zeit werde als echte Gemeinschaft erlebt und nicht zwischen anderen Verpflichtungen eingeschoben.

Alte neue Gewohnheiten

Kinder erzählen häufig, dass sie selbst Gewohnheiten entwickeln, die sie früher im Elternhaus abgelehnt haben, inzwischen jedoch als praktisch empfinden. Es war gar nicht so schlecht, was die Eltern alles so gemacht haben. Wenn wir es schaffen, solche Offenbarungen nicht mit Genugtuung, sondern mit einem warmen Lächeln zu beantworten, haben wir sehr viel gewonnen.

Mit einer gewissen Distanz kann man auch beginnen, das anzusprechen, was nicht gut gelaufen ist oder wo es noch Klärungsbedarf gibt. Hier ist es wichtig, behutsam vorzugehen und herauszufinden, ob Gesprächsbereitschaft besteht. Wir dürfen uns den Raum schaffen für das Lachen über die tollen Erinnerungen und auch für Entschuldigungen, wo wir versagt haben. Es entsteht so auch die Möglichkeit, Missverständnisse aufzuklären.

Gute und schlechte Erinnerungen

Manches mag auch schockieren. Es kommt vor, das unsere Kinder über Erlebnisse berichten und wir denken: „War ich dabei? Daran erinnere ich mich gar nicht.“ Neben negativen tauchen auch viele gute Erfahrungen auf, wie oft wir die Kinder beschützt, versorgt und geliebt haben und wie sehr sie das in dem Moment auch gebraucht haben.

Zu hohe Maßstäbe

Solche Rückblicke und Erinnerungen dienen dazu, die Gemeinsamkeiten zu benennen und festzustellen, was uns verbindet und was uns trennt. Wir entscheiden als Familie, wie wir mit Verbindendem und Trennendem umgehen. Nicht alles muss jetzt und sofort geklärt werden, Kreativität ist gefragt.

Wir können das nicht? Das sind zu hohe Maßstäbe? Häufig schauen wir auf andere Familien, in denen alles scheinbar perfekt läuft. Beruflich und privat scheint alles im Lot. Sind wir uns bewusst, dass andere oft nur die Sonnenseiten zeigen? Da bleiben die, bei denen nicht alles rund läuft, schnell auf der Strecke. Merken wir, wie viel Stress das erzeugt? Sich davon zu distanzieren und bei sich selbst zu bleiben, ist gar nicht so einfach. Wichtig ist: Wir sind Familie, und wir sind genau richtig. Hier wird nach unseren Regeln gespielt, und nur wir dürfen diese Spielregeln hinterfragen oder ändern. Andere haben da nichts verloren.

Das Familien-Mobile

Das Mobile kommt mir in den Sinn: Wenn einer sich bewegt, bewegt sich das Ganze. Es schwankt eine Weile und balanciert sich neu aus. Manchmal hängt sich auch noch ein neues Element an, dann muss sich alles neu einpendeln. Vielleicht haben wir noch alte Bilder in unserem Herzen. Aber jetzt leben wir in einer neuen Situation.

Gestaltung bedeutet, das Neue anzunehmen und es aktiv mitzugestalten, damit es gelingt. Unser Familienmobile kann auch äußeren Veränderungen ausgesetzt sein. Dann müssen alle zusammenhalten, um die Balance wieder herzustellen. Bewegung von innen darf stattfinden. Jeder einzelne entscheidet, wie er sich bewegt. Familiengestaltung ermöglicht uns, uns in einem sicheren Rahmen auch dann noch zu entfalten, wenn die Kinder ausgezogen sind. Wir haben die Erlaubnis, Bewährtes zu behalten und Neues auszuprobieren. Was für ein Gewinn!

Christiane Lötter arbeitet als Familienberaterin und Coach und lebt in der Nähe von Osnabrück. Sie hat zwei erwachsene Kinder.

„Ich will zuhause bleiben!“

„Meine Tochter (10) hat auf Klassenfahrten, oder wenn sie auswärts übernachtet, extremes Heimweh. Sollten wir sie immer abholen? Was können wir tun, damit es besser wird?“

Die meisten Kinder erleben mehr oder weniger starkes Heimweh, wenn sie nicht in ihrer vertrauten Umgebung sind. Sich diesen schmerzhaften Gefühlen zu stellen und einen guten Umgang damit zu finden, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt für Kinder.

GEFÜHLE ORDNEN
Wichtig ist zunächst, dass Sie den Trennungsschmerz Ihres Kindes von Anfang an ernst nehmen und Ihrem Kind die Möglichkeit geben, darüber zu reden. Äußert Ihre Tochter schon vor der Klassenfahrt ihre Befürchtungen, fragen Sie nach, was sie genau beschäftigt: Wie fühlt sich das Heimweh an? Welche Erfahrungen hast du damit gemacht? Geht das Gefühl irgendwann auch weg? Mit solchen Fragen können Sie Ihrer Tochter helfen, sich dem Thema zu nähern und Ordnung in ihre Gefühlswelt zu bekommen. Ihre Tochter sollte wissen, dass viele Kinder ähnliche Gefühle haben und dass sie damit nicht allein ist. Und gleichzeitig sollten Sie ihr auch vor Augen malen, wie schade es ist, wenn sie von diesen Gefühlen gelähmt wird und somit viele schöne Dinge im Leben verpasst.

VORBEREITUNG
Steht eine längere Klassenfahrt an, sollte die Trennung frühzeitig in kleinen Schritten geübt werden. Suchen Sie Gelegenheiten, bei denen Ihr Kind für eine Nacht bei Freunden oder den Großeltern, die in der Nähe wohnen, übernachten kann. So kann sich ihre Tochter in einem vertrauten Umfeld an die Trennungssituation gewöhnen. Sogenannte Übergangsobjekte sind für manche Kinder auch eine gute Hilfe, das Heimweh zu überwinden. Ein Kuschelkissen oder ein Kuscheltier können auch im Alter Ihrer Tochter noch gute Dienste erweisen und eine emotionale Brücke nach Hause spannen. Und wenn dann in Absprache mit dem Klassenlehrer alle Kinder ihren Teddy im Gepäck haben (müssen), ist das Ganze auch weniger peinlich. Übertragen Sie dem Lehrer für die Zeit der Klassenfahrt die Verantwortung. Die meisten Lehrer bringen viel Erfahrung mit, wie sie mit Heimwehsituationen ihrer Schüler umgehen können und zeigen Verständnis. Sagen Sie Ihrer Tochter, dass sie ihren Lehrer ansprechen kann, wenn sich Heimweh breitmacht. Das kann für Sie als Eltern eine hilfreiche Entlastung sein, setzt allerdings auch voraus, dass ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Ihnen, Ihrer Tochter und dem Lehrer besteht.

ABHOLEN?
In der Regel ist es nicht ratsam, ein Kind von der Klassenfahrt wieder abzuholen, wenn es Heimweh äußert. Denn so bringen Sie Ihr Kind um die Erfahrung, dass es in der Lage ist, schmerzhafte Gefühle zu überwinden und eine herausfordernde Situation meistern zu können. Allerdings gibt es hier auch Grenzen. Je nach Situation und je nach Kind kann die Sehnsucht so groß werden, dass die Trennung zur Überforderung wird. In besonderen Fällen kann es in Absprache mit dem Lehrer oder Freizeitleiter der bessere Weg sein, das Kind abzuholen. Das sollte dann nicht als Versagen gesehen werden – vielleicht braucht Ihr Kind einfach noch ein bisschen länger. Dann ist wichtig, dass Sie Ihrer Tochter immer wieder Mut zusprechen, dass es diese Hürde irgendwann sicher überwinden wird.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrer Familie in Remscheid, www.sonja-brocksieper.de.