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Warum Sie Ihr Kind nicht vor den Hürden des Lebens bewahren sollten

Hausaufgaben sind blöd, der Klavierunterricht nervt? Eltern sollten ihren Kindern trotzdem nicht zu viel Last abnehmen, rät Pädagogin Stefanie Diekmann.

„Das ist so blöd mit dem Theaterstück. Immer üben wir die gleiche Stelle. Den Mist-Text kann ich mir nicht merken. Ich geh‘ da nicht mehr hin!“, mault Piet. Sein Vater Mario schaut müde auf und zuckt mit den Schultern. „Dann lass es halt!“

Später grübelt Mario, ob diese Reaktion richtig war. Hätte er das Klavierspielen damals nicht aufgegeben, könnte er jetzt in der Kirchengemeinde Musik machen. Er hatte zu dem Zeitpunkt als Kind keine Lust dazu. Wollte lieber kicken gehen. Er hat viel gemeckert, und seine Mutter hat ihm irgendwann erlaubt, zu Hause zu bleiben. Nicht selten denkt er an dieses Aufgeben. Er hat die Hürde nicht genommen, sondern Anstrengung vermieden. Hilft er Piet, wenn er ihn aus dem Theaterprojekt aussteigen lässt?

Nicht alle Hürden aus dem Weg räumen

Kinder und Jugendliche dürfen lernen, Hindernisse zu überwinden – auch wenn dies mit Aufwand und inneren Schmerzen verbunden ist. Alle Gefühle kennenzulernen, hilft der Seele, sich weiterzuentwickeln und erwachsen werden zu können. Kinder und Jugendliche dürfen erfahren, wie sich Schmerz und Trauer, Forderung und Anstrengung anfühlen. Zum Erreichen der Ziele gehört ebenfalls dazu zu akzeptieren, dass sie phasenweise unglücklich sind oder auch mal weinen.

Wenn ein Kind sich im Schwimmkurs oder beim Erlernen kniffeliger Kartenspiele anstrengt, greift es die Herausforderung spielerisch auf. Es durchlebt dabei Frust, Mut, Freude, Größenwahnsinn, Zorn – und alles das ist Leben. Wenn aber ein 9-Jähriger vor Wut den Ball in die Dornen schießt, weil er beim Kicken mit Freunden unterliegt, scheint das Verlieren nicht oft geübt worden sein. Wenn eine 16-Jährige aus der Kirchenband aussteigt, weil sie gebeten wird, das Solo eifriger zu üben, hat sie sich wohl bisher zu selten anstrengen müssen.

Annahme ist der Schlüssel

Anstatt kritische Themen zu meiden und nicht mehr Karten zu spielen, Kuchen zu backen, Mathe zu üben, weil es beim Scheitern fiese Gefühle gibt, sind Trost, Annahme und Begleitung des Kindes oder Jugendlichen Schlüssel, um in Hindernissen nicht aufgeben zu müssen.

Kinder und Jugendliche checken in Herausforderungen schnell ab, ob ihre Eltern ihnen zutrauen, das Problem zu lösen. So wäre der Satz: „Piet, du schaffst es. Du hast bestimmt eine Idee, wie du dir den Text draufschaffen kannst“, eine echte Ermutigung.

Eltern sollten sich zurücknehmen

Eltern, die ihren Kindern alle Hürden aus dem Weg räumen, erleichtern ihnen keinesfalls das Leben. Sie verschieben die Auseinandersetzung mit dem Bewältigen von Schwierigkeiten lediglich auf einen späteren Zeitpunkt. Dabei ist es unerlässlich, dass Kinder und Jugendliche lernen, mit Misserfolgen umzugehen.

Viele Eltern greifen so schnell ein, dass das Kind oder der Jugendliche die Situation gar nicht richtig erleben kann. Oft ist es so, als würde das Hindernis des jungen Menschen zum Hindernis der Eltern. Wir Eltern hüpfen gern über Hindernisse, die gar nicht unsere sind. Es ist also unser Job, bei Hindernissen in die Hände zu klatschen und zu rufen: „Hurra. Mein Kind lernt jetzt etwas Wesentliches. Und ich bin dabei!“

Eigene Lösungen finden

Als unsere Tochter 16 war, gab es am Elternabend vor der anstehenden Klassenfahrt einen kollektiven Aufschrei. Die Jugendlichen sollten sich selbst versorgen: planen, einkaufen, kochen. Fast alle waren sich einig: Das geht gar nicht! Aufgelöste Eltern steckten ihren Kindern bei der Abreise Geld für einen Döner pro Tag zu. Aber ich habe das Konzept gefeiert! Das Team um unsere Tochter hatte sich bei uns getroffen und eine ihrer Freundinnen sagte: „Natürlich kann ich nicht kochen. Meine Mutter nervt das voll, wenn sie mir was erklären muss.“ Tatsächlich haben die Mädchen kaum gewusst, wie sie die Mahlzeiten planen sollen. Ich habe ein paar Fragen in den Raum geworfen und merkte, als sie Feuer fingen: schnell raus! Ich habe nämlich großes Talent, meine Ideen so lange auszuschmücken, bis meine Teens ergeben nicken und ihre eigenen Ideen verwerfen. Aber wenn mein Kind ein Hindernis bewältigen soll, muss ich es aushalten, dass nicht meine Strategien die Lösung sind.

Es gibt die Tendenz zu glauben, dass das Leben schmerzfrei sein soll. Diese Vorstellung nimmt unseren Kindern die Möglichkeit, von ihren eigenen, überraschenden Erfahrungen zu lernen, Hindernisse – oft schmerzvoll – zu überwinden und die Folgen ihres Handelns zu begreifen.

Begleiten statt kontrollieren

Wir Eltern verfallen hier oft zu sehr in die „Vor-Sorge“: Ich sorge mich schon im Vorhinein vor der Niederlage, die durch eine Hürde droht. Ich sorge mich schon vorher vor Wut, Enttäuschung oder Traurigkeit, bevor mein Kind überhaupt eine Krise formuliert. Ich taste schon vor dem Lauf den Puls meines Hürdenläufers. Mein Fehlermelder ist aktiviert, noch lange bevor die erste Hürde krachend auf die Lebensbahn meines Kindes niedergeht.

Wir dürfen das Kontrollieren aufgeben und Begleiter werden. Ohne zu bewerten, wie der Lauf über die Hürden nun richtig zu gewinnen sei. Eine hilfreiche Grundhaltung ist die Frage: „Tue ich das, weil es meinem Kind zugute kommt oder um mich selbst zu beruhigen oder zu trösten?“

Mario versucht sich zu erinnern, was ihm geholfen hätte, durchzuhalten. Erstaunlicherweise fällt ihm dazu, neben dem Aufmuntern, auch strenge Gelassenheit ein. Er will Piet gönnen, Teil des Erfolges beim Theater zu sein. Will ihm ermöglichen zu erleben, warum es gut ist, sich anzustrengen.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und arbeitet als Bildungsreferentin in einer Baptistengemeinde. Sie lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

Warten mit Mehrwert

Warum gerade die Herausforderungen und Schwierigkeiten des Elternseins segensreich sein können.

Ein Zahnarztbesuch steht an. Im Wartezimmer blättere ich in einem bunten Magazin und lese mich in einer Reportage fest. Diese Lebensgeschichte fasziniert mich. Eine Frau erzählt: Früher sei sie zurückhaltend und schüchtern gewesen, habe sich wenig zugetraut. Dann wurde ihr Sohn geboren. Er war ein besonderes Kind mit einer geistigen und körperlichen Behinderung. Und sie spürte, dass dieses Kind es brauchen würde, dass sie Rückgrat beweist, dass sie sich in den Gegenwind stellt und für seine Bedürfnisse kämpft. So kam es auch. Sie setzte sich für ihren Sohn ein und erreichte viel mehr, als sie erwartet hätte. Sie lernte, den Mund aufzumachen, sie wurde mutig und schaffte es, aus sich heraus zu gehen. Als ihr Kind mit 16 Jahren starb, war sie nicht mehr dieselbe Frau wie vorher. Nach einer Zeit der Trauer begann sie, ihre neu gewonnenen Fähigkeiten für andere einzusetzen. Inzwischen engagiert sie sich in einem Kinderhospiz. Sie begleitet Kinder und Eltern durch leidvolle Zeiten. Sie tritt als Clownin für kranke Kinder auf, um sie zum Lachen zu bringen und ihnen zu Lebensmut zu verhelfen. Heute, so fasst sie es zusammen, ist ihr Leben erfüllter, und sie ist viel mehr sie selbst als vor der Geburt ihres Sohnes. Ich finde dieses Beispiel tief berührend. Und ich denke, es kann allen Eltern Mut machen. „Der höchste Lohn für unsere Bemühungen ist nicht das, was wir dafür bekommen, sondern das, was wir dadurch werden.“ Diese Erkenntnis von John Rushkin gilt besonders für alle Mühe und Liebe, die Eltern in ihre Kinder investieren. Nicht alle Familien haben eine so große Hürde wie die Behinderung eines Kindes zu bewältigen. Aber jedes Kind bringt individuelle Herausforderungen für seine Eltern mit. Und gerade sie sind es, die uns herausfordern, das zu entfalten, was in uns steckt. Wir Mütter und Väter haben zum Beispiel Geduld zu lernen, Gelassenheit, Verständnis. Wir sind gefordert, uns gegen Widerstände durchzusetzen, für unsere Ziele und Werte zu kämpfen. Vielleicht müssen wir lernen, Grenzen zu ziehen oder Grenzen zu akzeptieren, die uns und unseren Kindern gesetzt sind. Nicht selten sind es gerade die Charakterzüge an unserem Kind, die wir uns nicht ausgesucht hätten, oder Probleme, denen wir lieber ausgewichen wären, die das Potenzial haben, unser Leben reicher zu machen. Gerade sie können dazu beitragen, dass wir als Eltern am inneren Menschen wachsen. Sie tun es nicht automatisch. Ob es gelingt, hat damit zu tun, wie wir uns ihnen stellen. Und mit dem heilsamen und herausfordernden Wirken Gottes in unserem Leben. Dieses Geheimnis bringt Paulus in der Bibel einmal so auf den Punkt: „Wir wissen ja, dass für die, die Gott lieb haben, alle Lebensumstände am Ende zum Guten zusammenwirken“ (Römer 8,28). Wenn wir im Vertrauen auf Gott durch Nöte und Leidenspunkte in unserer Familiengeschichte nicht hart und bitter werden, sondern in Lebensweisheit wachsen und zu reifen, liebesfähigen Persönlichkeiten werden, dann ist das ein Wunder im Alltag, in dem wir den Segen Gottes spüren.

 

 

Ingrid Jope ist Theologin und Sozialpädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Wetter/Ruhr.