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Mut zur Lücke

Warum Jugendliche ihre Eltern dabei brauchen. Von Stefanie Diekmann

Mit grimmiger Miene erscheint Isa beim Abendessen. Sie will nicht so richtig damit raus, was sie gerade beschäftigt. Zwischen Salat und Käsebrot beginnt ihr Bruder Ruben zu reden: „Hey Isa, hast du gehört: Paula geht mit ‚Jugend trainiert für Olympia‘ nach Berlin. Krass, was die alles kann!“ Während Isa Ruben giftige Blicke zuwirft, steigt Mama unbedarft ins Thema ein: „Ja, Paula ist wirklich sehr vielseitig: Sie tanzt, singt im Lobpreisteam der Gemeinde, ist im Physik-Projekt für Jungforscher … Und letzte Ferien hat sie ein Praktikum in Japan gemacht. Unglaublich!“ Isa springt auf. Für sie ist es zu viel. Zu viel, was andere können und sie nicht.

Von Freunden abhängig

Die Begabungen junger Menschen entwickeln sich ab der Pubertät sehr individuell. Während einige sich auf einzelne Sportarten oder ein Musikinstrument konzentrieren, gibt es Jugendliche, die scheinbar alles können. Sich bewusst auf sich zu konzentrieren und die eigenen Interessen zu erspüren, scheint in der Tretmühle eines vollen Wochenplans kaum möglich. In dieser Altersphase ist das Bewusstsein für sich selbst sehr vom Miteinander mit Freunden abhängig. Da geht man mit zum Handball-Training, weil alle gehen, ob wohl man im Orchester viel mehr Spaß hat.

Mut zur Lücke ist eine befreiende Haltung, die junge Lebensentdecker immer wieder aus ihrem Umfeld hören sollten: Du brauchst nicht alles zu wissen. Du darfst alles fragen, musst aber nicht auf alles Antworten haben. Und du musst schon gar nicht alles können. Sich mit anderen zu vergleichen und scheinbar weniger begabt zu sein, wird in dieser Zeit oft als Niederlage erfahren. Das kann dem Jugendlichen zusetzen, weil das Selbstbewusstsein meist noch einem weichen Tonkrug gleicht.

Als Letzte im Ziel

Was können Eltern tun? Zum Beispiel von ihren eigenen Lücken berichten: Wie Papa sich im Kunstunterricht beim Zeichnen gequält hat. Wie Mama bei den Bundesjugendspielen als Letzte ins Ziel lief. Wie Oma bis heute beim Scrabble immer verliert und der Jugendleiter gar nicht singen kann.

Eine Lücke hat niemand gern. Auch Erwachsene nicht. Ihnen kann es unangenehm sein, nach den aktuellen Kommaregeln zu fragen. Oder sich zum dritten Mal erklären zu lassen, wie man den Streaming Dienst startet. Wenn schon Menschen mit erlebten Erfolgen und Kompetenzen ungern Lücken aushalten und preisgeben, dann sollten wir Jugendliche umso mehr ermutigen, dass sie nicht alles können und wissen müssen.

Der Schweizer Psychiater Léon Wurmser hat ein komplexes Thema mit diesem Zitat zusammengefasst: „Scham ist die Hüterin der menschlichen Würde.“ Mich als unwissend zu entblößen, bedeutet, die Scham auszuhalten, dass andere wissender, klüger, gebildeter … sein könnten oder sind als ich. Jugendliche darin zu begleiten, die Scham über eine „Lücke“ nicht als Endpunkt zu erleben, ist die Aufgabe der Eltern. Jugendliche zeigen auch hier einen ganz unterschiedlichen Umgang mit ihren Lücken. „Wenn ich etwas nicht weiß, guck ich mir später eine Doku dazu an“, verrät Alba ihren Umgang mit Lücken. Leo meint: „Ich finde mich damit ab. Ich bin wohl eher der Dulli in Physik! Dafür kann ich viel besser kochen als meine Freunde!“
Die Würde eines Menschen ist unabhängig von dem, was er tut. Unabhängig von Leistung und Können. Hier ist Gottes bedingungslose Zustimmung zur Persönlichkeit jedes Menschen zu spüren. An diese Annahme und Würde werden alle gern erinnert: Eltern und Jugendliche.

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

 

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