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„Warum sagt einem das vorher keiner?“

Wie viel Realität können Schwangere vertragen? Sollte man idealistische Vorstellungen entlarven? Simone Oswald erklärt, warum Gespräche mit schwangeren Freundinnen eine Herausforderung für sie sind. Und welche Lösung sie gefunden hat.

Lange bevor ich schwanger war, wusste ich genau, wie mein Leben als Mama und mein zukünftiges Kind sein würden. Ich hatte sehr genaue Vorstellungen, wie etwa „das mit dem Stillen“ oder „das mit dem Schlafen“ bei uns mal ablaufen würde – ich hätte es schon Jahre vorher beschreiben können. Dann wurde ich tatsächlich Mutter und – Überraschung! – konnte mich bald vom Großteil meiner Ideen verabschieden.

In meinem Umfeld findet derzeit ein kleiner Babyboom statt. Ich führe daher recht häufig ein kleines Pläuschchen mit Frauen, die ihr erstes Kind erwarten und eine ganz genaue Vorstellung von allem haben. „Mein Kind wird, darf, soll und möchte später niemals …“ – Und ich? Ich habe das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben und mich in meiner früheren Version sprechen zu hören. Immer wieder stelle ich mir daher die Frage: Wie gehe ich richtig mit Bald-Mamas und ihren Vorstellungen von Mutterschaft und Kindererziehung um?

AUGENRINGE ÜBERSCHMINKEN

Völlig normal ist, dass man sich vor dem ersten Kind kaum in diese Situation hineinversetzen kann. Ich hatte früher immer etwas Sorge, mich bei Baby- oder Kleinkind-Beschäftigungen schnell zu langweilen. Heute schaue ich mit ehrlichem Interesse einem kleinen Marienkäfer beim Krabbeln zu und langweile mich dabei keine Sekunde, weil mein Kind vor Begeisterung kaum zu halten ist. Großen Respekt hatte ich auch vor dem allgegenwärtigen Schlafmangel. Und auch wenn sich meine Augenringe heute kaum überschminken lassen, so hätte ich mir niemals vorstellen können, wie mein Herz hüpfen würde, wenn mich mein Sohn um kurz vor fünf Uhr morgens fragt, ob ich auch etwas „Schönes däumt“ habe.

Andererseits hatte ich mir in der Schwangerschaft eine ganze Reihe an Fotomotiven abgespeichert, die ich mit meinem Neugeborenen nachstellen wollte. Dass ich in den ersten Wochen nach der Geburt mehr weinen als lachen würde und es daher kaum ein Foto aus dieser Zeit geben würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wusste damals noch nicht, dass ich viele Monate lang eine Höchst-Dusch-Dauer von zwei Minuten haben sollte und dass ich beim Verlassen der Dusche schon wieder durchgeschwitzt wäre, weil mein Baby wie am Spieß brüllen und mein Herz in Flammen stehen würde.

Wenn eine Schwangere mir von Ängsten und Sorgen berichtet, dann fällt es mir leicht, darauf zu reagieren. Ich zögere keine Sekunde, ihr vorzuschwärmen, wie viel leichter, umwerfender, großartiger und genialer das Leben als Mama ist, als sie es sich vorher ausmalen kann. Unsicher bin ich mir allerdings, ob ich im umgekehrten Fall auch sagen sollte, dass es manchmal sorgenvoller und zehrender wird, als sie es sich jetzt vorstellt …

AUFKLÄREN?

Milchstau, Schlafentzug, Streit, Überforderung … Für viele Mamas sind das keine Fremdwörter. Ich finde: Viele herausfordernden Situationen sind gerade dadurch herausfordernd, weil man nicht mit ihnen gerechnet hat und sich daher auch nicht auf sie einstellen konnte. Sollte ich meinen Freundinnen gegenüber also mehr von den schwierigen Seiten sprechen, damit sie davon nicht überrascht werden? Wären sie dann besser vorbereitet?

Einerseits bin ich für Offenheit bei vermeintlichen Tabuthemen – denn genau das scheinen manche Probleme in der Elternschaft zu sein. In den sozialen Netzwerken etwa braucht es sogar einen extra Hashtag #fürmehrRealität. Denn genau diese geht zwischen all den aufgeräumten Kinderzimmern mit zur Einrichtung passend gekleideten Kindern etwas unter. Einige Neu-Mamas werden von Problemen überrumpelt, auf die man sich durchaus hätte einstellen können – wenn nur andere Mamas offen reden würden. „Warum sagt einem das vorher keiner, wenn es doch offensichtlich allen so geht?“, mag sich manche Frau da fragen. Und auch ich habe mir gewünscht, dass ich manche Dinge vorher gesagt bekommen hätte.

Wenn ich mir auf der anderen Seite vorstelle, dass damals, als ich schwanger und beseelt von perfekten Zukunftsvisionen war, erfahrene Eltern ständig mit der Realitätskeule meine rosarot-hellblaue Blase zerplatzt hätten – ich wäre ihnen vermutlich nicht nur dankbar gewesen. Wenn man so voller Vorfreude ist, dann möchte man nicht permanent hören, wie unrealistisch der eigene Blick auf diese kommende Zeit ist. Man möchte träumen und seine überwältigende Vorfreude genießen. Sollte dann die Babyoder Kleinkindzeit doch anders verlaufen als erhofft – erst dann ist der richtige Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen. Ich vertraue darauf, dass meine Freundinnen mich um meine Erfahrungswerte bitten, wenn sie diese auch tatsächlich brauchen können. Bis dahin versuche ich, nicht mit ungefragten „Rat-Schlägen“ um mich zu schmeißen.

NICKEN UND LÄCHELN?

So belasse ich es dabei, von meinen Problemen im Mama-Alltag zu erzählen. Ich vermeide es aber, anderen zu suggerieren, dass meine Sorgen auch zwangsläufig auf sie zukommen werden. So einzigartig jedes Kind ist, so individuell ist auch unser Mama-Leben und unser Weg. Sicherlich ist es kein schlechter Gedanke, eine werdende Mutter vorbereiten zu wollen – doch geht das kaum, ohne ihr auch ein bisschen die eigene Geschichte überzustülpen. Ich versuche, die richtige Balance zu finden und meinen Freundinnen weder ihre Vorfreude zu beschneiden, noch ihnen ein unrealistisch perfektes Leben vorzugaukeln.

Tatsächlich muss ich (zumindest innerlich) meistens auch eher schmunzeln, wenn ich mir anhöre, was meine Freundinnen für die Zeit nach ihrer Schwangerschaft alles geplant haben. Die wichtigste Voraussetzung für ihre Pläne ist dummerweise meist ein Baby, das weder schlechte Laune noch Hunger, Müdigkeit, Schmerzen oder einen eigenen Willen kennt und mit recht wenig Zutun der Eltern zufrieden ist.

Wenn sie davon reden, dass sie den Beikostplan schon auswendig gelernt haben und das Kind die ersten Jahre zuckerfrei leben wird, dann grinse ich leicht skeptisch. Wenn sie mir erklären, wie albern sie den berühmten Ratschlag „Schlaf, wenn das Baby schläft“ finden – denn ein paar Wochen oder Monate etwas weniger schlafen, das wird ja wohl nicht so schlimm sein? –, dann muss ich mich schon anstrengen, ein vielsagendes Lachen zu unterdrücken. Und wenn sie erklären, dass ihr Kind später niemals in einem Supermarkt wegen einer verweigerten Süßigkeit losbrüllen wird, dann lächle ich beschämt und bin froh, dass sie uns letzte Woche nicht zu unserem Einkauf begleitet haben.

KLEINKIND MIT SCHOKOMUND

Sicherlich: Einiges davon funktioniert tatsächlich wunderbar, keine Frage. Diese Perfektion, in der manche Freundin ihre eigene Mutterschaft vor sich sieht, ist aber vermutlich nur auf sozialen Medien hinter bearbeiteten und gestellten Fotos zu finden. Oder wie viele Familien kennen Sie, bei denen alles perfekt läuft? Auf allen Ebenen? Ich persönlich: keine einzige.

Und genau dieses Wissen, das ich schon erfahren durfte und das sicherlich auch meine Freundinnen früher oder später erkennen werden, ist der eigentliche Grund, zu lachen und zu lächeln. Weil es eben nicht perfekt ist, das Leben mit Kindern. Und genau deswegen ist es ja so wunderbar! Sobald man sich von der perfekten Bilderbuch-Familie innerlich verabschiedet hat, lebt es sich gleich

viel angenehmer. Man versinkt im heimeligen Chaos mit Kleinkind (mit Schokomund!), trägt manchmal Milchflecken auf Shirts, Augenringe und ungekämmtes Haar und verspricht sich selbst, erst wieder mit Kindern zu backen, wenn sie alt genug sind, um hinterher auch beim Aufräumen zu helfen.

AUF DAS GUTE HOFFEN

So bleibt mir also nur eine Reaktion: Ich schweige. Und ich denke mir meinen Teil. Manchmal lache ich dabei innerlich, manchmal träume ich ihn mit, den Traum vom perfekten Leben mit Kind. Denn obwohl ich nun eigentlich „die Realität“ kenne, stelle auch ich mir zukünftige Situationen mit älterem Kind schön und ideal vor. Ich denke heute noch nicht daran, dass mein Zweijähriger als Teenager in der Pubertät verrückte Dinge tun könnte. Ich denke nicht darüber nach, dass er als Erwachsener Geldprobleme haben könnte. Ich mache mir keine Sorgen, dass er als Rentner unglücklich mit seinem Eigenheim sein könnte …

Ich blicke positiv in die Zukunft, obwohl ich ahne, dass sie realistisch gesehen auch Herausforderungen bereithalten wird. Ich will ganz bewusst positiv sein, ich hoffe mit voller Absicht auf das Gute. Und ich weiß, dass die Zukunft so viel mehr an Schönem bereithält, als ich mir jemals ausmalen könnte. Und genau diesen Genuss des Träumens wünsche ich auch meinen schwangeren Freundinnen. Es werden Probleme kommen, aber sie werden zu meistern sein! Und sollten wir irgendwann ein Gespräch darüber führen, dass gerade alles anstrengend ist und sie sich manches anders vorgestellt hatten – dann werde ich für sie da sein, mit offenem Ohr und liebendem Herzen zuhören und sie wieder dazu bringen, von einem umwerfenden „Bald“ zu träumen.

Simone Oswald arbeitet als Lehrerin und freie Texterin. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie im Landkreis Deggendorf.

Wie macht ihr das …

… wenn Freundinnen oder Freunde scheinbar unrealistische Vorstellungen vom Elternsein haben? Und hättet ihr vor dem ersten Kind gern mehr gewusst? Schreibt uns: info@family.de

Streit muss sein

Wenn Kinder miteinander streiten, belastet das nicht nur die Nerven der Eltern, sondern oft auch ihre Vorstellung von Familie. Wie mit Streit umgehen? Anregungen von Judith Oesterle

In der Werbung sitzen Familien oft glücklich gemeinsam am Esstisch. Sie unterhalten sich fröhlich und strahlen Harmonie aus. Mit der Sehnsucht nach diesem Idealbild bin ich Mutter geworden. Es war mir nicht wirklich bewusst. Aber es war da. Ich sehnte mich nach einer glücklichen Familie. Nach Harmonie am Esstisch. Nach fröhlichen Gesprächen. Nach Kindern, die gern miteinander spielen. Und in meinem Kopf setzte sich unbewusst der Gedanke fest, dass sich daran zeigt, ob ich eine gute Mutter bin.

Dann wurde ich Mutter. Ich bekam wundervolle Kinder mit viel Energie, großen Gefühlen und einem starken Willen. Meine Kinder waren nicht immer glücklich. Bei uns war es oft alles andere als harmonisch. Die Kinder weinten und schrien und stritten. Und ich wachte aus meinem Traum auf und fühlte mich als Versagerin.

Wenn Kinder rebellieren, sind sie gekränkt oder überfordert

Heute weiß ich, dass ich einem falschen Ideal gefolgt bin. Die Idee, dass ich nur dann eine gute Mutter bin, wenn immer Harmonie herrscht, darf ich zur Seite legen. Und mir anschauen, wie Familie auch ist. Für mich war es wichtig zu lernen, dass Kinder Teamplayer sind. Sie wollen mit uns kooperieren. Und sie wollen untereinander kooperieren. Wenn sie das nicht tun, hat das in der Regel zwei Gründe: Sie fühlen sich gekränkt. Oder sie sind überfordert.

Diese Überforderung kann aus der Situation heraus entstehen. Weil das Geschwisterkind etwas weggenommen hat, was man selbst möchte. Weil das Geschwisterkind etwas gesagt hat, was man nicht versteht. Diese Überforderung kann aber auch ohne Zusammenhang mit der Situation sein. Weil das Kind einen anstrengenden Schul- oder Kindergartenvormittag hatte. Weil es müde ist. Weil es Hunger oder Durst hat. Weil es zur Toilette muss.

„Bevor du einen Streit beginnst, überlege dir, ob du müde bist, Hunger oder Durst hast oder zur Toilette musst.“ In diesem Satz liegt so viel Wahrheit. Wenn diese körperlichen Bedürfnisse gestillt sind, können wir besser mit herausfordernden Situationen umgehen. Das gilt sowohl für uns als auch für unsere Kinder.

Drei Wahrheiten über Geschwisterstreit

1. Es ist normal, dass Geschwister streiten.
Forscher haben herausgefunden, dass es unter Geschwistern bis zu sechs Auseinandersetzungen in der Stunde gibt. Klingt nach viel. Ist aber normal. Wenn deine Kinder so häufig streiten, sagt das also nichts darüber aus, ob Sie eine gute Mutter oder ein guter Vater sind.

2. Es ist wichtig, dass Geschwister streiten.
Geschwisterstreit ist Training fürs Leben. Beim Streiten lernen die Kinder, wie man sich auf Regeln einigt, wie man verschiedene Interessen unter einen Hut bringt, wie man Kompromisse eingeht, wie man Verhandlungen führt und wie man in schwierigen Situationen gute Lösungen findet. Streit ist ein wichtiger Teil der Moralentwicklung, da es beim Streit oft um Fairness, Teilen und Gerechtigkeit geht. Häufig streiten Kinder um eine Sache: Wer darf mit dem einen bestimmten Playmobil-Männchen spielen? Wer bekommt den letzten Keks? Wer darf auf den Eckplatz beim Sofa? Egal, worum es geht: Wenn wir den Streit gut begleiten, bietet er eine enorme Chance!

3. Ein Streit muss nicht schnellstmöglich beendet werden.
Unsere Aufgabe als Eltern ist es nicht, den Streit so schnell wie möglich zu beenden, sondern ihn zu begleiten und die Kinder in ihrem Lernprozess zu unterstützen. Wie machen wir das am besten?

Sechs Tipps: So können Eltern mit Streit umgehen

  • Ruhig bleiben und die Kinder beruhigen: Einen Streit kann ich nur dann gut begleiten, wenn ich selbst ruhig bin. Deshalb mein Überlebenstipp: Bevor Sie zu Ihren streitenden Kindern gehen, atmen Sie tief durch, sammeln Sie sich und sagen Sie sich: „Alles ist gut. Es ist normal und wichtig, dass Kinder streiten.“ Dann gehen Sie hin und beruhigen Sie Ihre Kinder. Nehmen Sie sie in den Arm. Trocknen Sie die Tränen.
  • Allen Parteien zuhören: Hören Sie Ihren Kindern zu. Und das möglichst wertfrei. Es passiert uns so leicht, dass wir eine Situation vorschnell bewerten und die Kinder in Täter und Opfer einteilen, bevor wir überhaupt wissen, was passiert ist. Deshalb: Hören Sie zu! Fragen Sie, was passiert ist! Nehmen Sie sich Zeit!
  • Beschreiben, was passiert ist: Nach dem Zuhören hilft es, wenn wir in Worte fassen, was passiert ist: „Ach so. Du wolltest einen Polizeieinsatz spielen und brauchst dafür ganz viele Männchen. Und du wolltest, dass die Männchen einen Ausflug zum Zoo machen. Stimmt das?“ Wenn unsere Beschreibung richtig ist, kommt oft ein erleichtertes „Ja!“. Wenn sie falsch ist, melden uns das unsere Kinder sofort zurück. Und wir dürfen noch einmal eine Runde zuhören.
  • Regeln und Werte ansprechen: Wenn sie sich gehört fühlen, sind die Kinder oft bereit, zu hören, welche Regeln uns wichtig sind. Zum Beispiel, dass wir nicht möchten, dass ein Kind dem anderen wehtut.

Lösungen erarbeiten

  • Lösungen erarbeiten: Fühlen sich die Kinder gesehen und gehört, kommen sie oft auf wunderbare Lösungen. Wenn sie es allein nicht schaffen, können wir ihnen mit Fragen helfen: „Wie könntet ihr das denn am besten machen, dass beim Polizeieinsatz genügend Männchen dabei sind und der Zoo trotzdem viele Besucher hat?“ Vielleicht fällt den Kindern ein, dass in einer Kiste noch mehr Männchen sind. Vielleicht können sie einen Kompromiss eingehen und jeder bekommt nur ein paar Männchen. Oder vielleicht tun sie sich zusammen und spielen zuerst gemeinsam den Polizeieinsatz und danach den Zoobesuch. Das Wunderbare ist: Fühlen sich Kinder in ihrer Not gesehen, sind sie wieder in der Lage, miteinander zu kooperieren.
  • Lösungen umsetzen: In der Regel können wir uns an diesem Punkt zurückziehen. Und die Kinder können ihre Lösung selbst umsetzen.

Ist es jetzt also absolut falsch, wenn ich mich nach der Familie aus der Werbung sehne? Nein. Dieses Ideal darf sein. Und wir dürfen solche Harmonie-Momente genießen. Wir dürfen aber genauso wissen, dass es in jeder Familie auch diese anderen Situationen gibt. Und das ist gut so.

Judith Oesterle lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Sie ist Sonderschul-Lehrerin, Coach für Mütter und bloggt unter judithoesterle.de und auf Facebook: JudithOesterle.inVerbindung

Paartherapeut warnt: Verfallen Sie nicht dem Optimierungswahn!

Unzufriedene Paare müssen nicht alles ändern, meint Jörg Berger. Manchmal kann es auch helfen, die Ideale anzupassen.

„Wir nehmen einander an, wie wir sind. Jeder wusste vorher, worauf er sich einlässt.“ „Nein, unsere Ehe gelingt nur, wenn wir auch an uns arbeiten.“ Die Partnerin, die die zweite Überzeugung vertritt (häufiger ist es die Frau), hat den Termin bei mir vereinbart. Sie kann auf meine Unterstützung zählen. Hoffentlich. Paartherapeuten helfen doch bei der Veränderung. Und können den motivieren, der nicht an sich arbeiten will, oder? Der zufriedene Partner kommt widerstrebend. Vielleicht entdeckt der Fachmann das Problem ja bei seiner Frau. Ihm muss doch auffallen, dass sie zu Unzufriedenheit und zum Kritisieren neigt.

Wir leben in der Spannung zwischen unseren Idealen von einer Liebesbeziehung und der Wirklichkeit, die wir erfahren. Damit können wir unterschiedlich umgehen. Wir können unsere Vorstellung von Liebe an die Realität anpassen. Oder wir versuchen, die Liebesbeziehung in Richtung unserer Ideale zu entwickeln. Doch darin, sagt Arnold Retzer, liegt eine Ursache für gemeinsames Unglück. Er ist Paar- und Familientherapeut. In seinem Anti-Ratgeber „Lob der Vernunftehe“ wirbt er für Realismus in der Liebe: Glück nicht als machbar zu verstehen und eine „resignative Reife“ zu entwickeln, die auch mit dem zurechtkommt, was nicht ideal ist. Einige spannende Gedanken aus seiner Streitschrift stelle ich hier vor.

Ist Zufriedenheit schlecht?

Zufriedene Partner können diesen Beitrag als kleine Entschädigung lesen. Denn ihnen machen wir vermutlich in unseren Beiträgen immer wieder Stress – mit unseren unermüdlichen Tipps, den Porträts von glücklichen Ehen oder zumindest tapfer durchgestandenen Krisen. Wozu das alles? Eine Paarbeziehung kann eben immer noch schöner, krisenfester und – wie paradox – gleichzeitig entspannter werden. Und wer das nicht in Anspruch nimmt? Muss der sich nicht träge, oberflächlich und letztlich schuldig an der Beziehung fühlen?

In meiner Praxis versuche ich in der Frage, ob man Dinge verändern oder annehmen muss, unparteiisch zu bleiben. Der Veränderung suchende Partner ist dann häufig irritiert. Der zufriedene Partner glaubt mir das dagegen kaum. Wie kann ich gegen mein eigenes Geschäftsmodell vertreten: „Man kann es auch so lassen“?

Eine Ehe ist wie eine Heizung

Arnold Retzer beschreibt die Not mancher Ehen mit dem Bild einer Heizung, die durch ein Thermostat gesteuert wird. Das Thermostat stellt man auf einen Soll-Wert ein, zum Beispiel behagliche 23° C. Liegt der Ist-Wert darunter, heizt der Brenner, und zwar so lange, bis der Soll-Wert erreicht ist. Ein Soll-Wert kann aber auch überfordern: Die Heizkosten entgleisen oder ein Brenner geht durch den Dauerbetrieb kaputt. Auch für Ehen gibt es Soll-Werte: ein bestimmtes Maß gegenseitiger Aufmerksamkeit und Gespräche im Alltag, die Freizeit gemeinsam verbringen, so und so oft Sex. Ehekonflikte drehen sich meist um einen solchen Soll-Wert, der nicht erreicht wird: Einer wünscht sich mehr, der andere fühlt sich überfordert oder unter Druck gesetzt. Nicht selten verschlechtert dieser Konflikt dann andere Bereiche der Beziehung, die dem Ideal vom gemeinsamen Glück schon sehr nahekamen.

Aber deshalb einfach den Soll-Wert anpassen? Und hinter dem zurückbleiben, was man sich für die Liebe ersehnt und auch für möglich gehalten hat? Manchmal ist das vernünftig. „Wie war das eigentlich zu Beginn Ihrer Beziehung?“, frage ich immer, wenn nur einer zufrieden ist. Oft stellt sich dann heraus, dass das Konfliktthema noch nie die Soll-Größe erreicht hat: Franziska war nie der Kuscheltyp. Sie hat die leidenschaftlichen Momente geliebt, wenn die Stimmung dafür da war. Aber Händchen halten im Alltag, Umarmungen in der Küche oder beim Filmgucken umschlungen auf dem Sofa sitzen – das war noch nie ihr Ding. Patrick war tatsächlich Franziskas Dornröschenprinz, der so manches wachgeküsst hat. Aber er kann nur wachküssen, was auch in Franziska angelegt ist, und er hat auf mehr gehofft.

Umstände können sich ändern

Oft bleiben Menschen auch ihrem Lebensstil ein ganzes Leben lang treu: „Fabian war schon immer ein Chaot“, berichtet Caroline. Trotzdem hat Caroline gehofft, dass er sich mit dem ersten Kind in einen gut organisierten Familienvater verwandelt. Schließlich hat er jetzt Verantwortung. Sie versucht, ihn dahin zu bringen. Aber kann das gelingen?

Manche Beziehungsbereiche verschlechtern sich auch einfach durch Anforderungen. Viele introvertierte Partner zum Beispiel verbrauchen ihre Beziehungsenergie durch die Bedürfnisse kleiner Kinder. Ihre Seele schreit dann nach Rückzug und für den Partner bleibt nicht mehr viel übrig. Wenn emotional verwundbare Menschen einer starken beruflichen Belastung ausgesetzt sind, reichen ihre seelischen Pufferzonen nur noch dafür aus. Zu Hause verhalten sie sich dann selbstbezogen, einfach weil ihre seelische Kraft aufgebraucht ist. Kann das nicht eine Therapie verändern? Ein bisschen schon, aber nicht so weit, wie es sich der Ehepartner wünschen würde, der unter dem Rückzug oder einer Selbstbezogenheit des anderen leidet. Es bleibt oft nur ein Realismus: akzeptieren, was nicht zu verändern ist, und gemeinsam das Beste daraus machen.

Das Glück nehmen, wie es kommt

„Eine der herausragenden Möglichkeiten, Verzweiflung zu erzeugen, besteht darin, dass zwei sich zusammentun und heiraten, um gemeinsam glücklich zu sein“, schreibt Arnold Retzer provozierend. Was Paare daran zur Verzweiflung bringe, sei die Vorstellung von Machbarkeit eines solchen Glücks. Denn wenn Glück machbar ist, muss man den anderen auch glücklich machen und selbst glücklich sein.

Retzer dagegen wirbt dafür, das Glück als „Widerfahrnis“ zu verstehen, etwas, das kommt und geht, das wir aber weder herstellen noch festhalten können: „Dadurch hätten wir sogar mehr Möglichkeiten, Energie und Zeit zur Verfügung, uns auf das zu konzentrieren, was wir beeinflussen können, wofür wir also auch die Verantwortung übernehmen können. Wir könnten uns auf die Launen des Glücks vorbereiten. Wir könnten mit dem Unwahrscheinlichen rechnen, sodass wir, wenn wir das Glück auch nicht erzeugen können, dennoch nicht versäumen, es zu bemerken und zu genießen, wenn es sich denn einstellen sollte. Wir könnten eine Überraschungs- und Glückssensibilität entwickeln.“

Alle Segnungen moderner Gesellschaften – Wohlstand, Gesundheit, Sicherheit, Freiheit – haben eine Schattenseite. Wir leben im Glauben, dass wir einen Anspruch auf das alles haben, zumindest, wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen und entsprechend leben. Materielle Not und Krankheit, auch viele Schicksalsschläge und Zwänge erscheinen vermeidbar und damit selbstverschuldet. So ist es auch mit dem Glück, das angeblich jeder selbst schmiedet. Doch wer offen ist für Glück, es aber nicht beansprucht, kommt auch mit manchen Ehesituationen besser zurecht.

Probleme sind oft gescheiterte Lösungsversuche

Arnold Retzer ist ein prominenter Vertreter der sogenannten systemischen Therapie, eines Ansatzes, der das ganze „System“ – eine Familie, eine Organisation oder auch die Paarbeziehung – betrachtet. Seine Therapierichtung geht davon aus, dass Probleme oft Lösungsversuche sind: Lösungen, die nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben, an denen Betroffene aber trotzdem festhalten. Retzer beschreibt das zum Beispiel so: „Ein Ehepartner, der ständig aufgefordert wird, sich zu verändern, fühlt sich, seinen Lebensstil, seine Überzeugungen und seine Autonomie in Frage gestellt. Er reagiert daher vernünftigerweise mit Verteidigung. Die Folge: Die Verteidigungsmaßnahmen stabilisieren genau das, was angegriffen wird.“ Manchmal verändert sich erst dann etwas, wenn der Kampf um die Veränderung befriedet ist. Manchmal lassen sich die lösbaren Probleme angehen, wenn weniger Aufmerksamkeit an ein unlösbares Problem gebunden ist.

Wie aber helfe ich meinem Paar, wenn einer zufrieden ist, der andere sich aber so dringend eine Veränderung wünscht? Zwei Zufriedene haben ja kein Problem – auch wenn man als Außenstehender vielleicht denkt, sie könnten es noch schöner haben. Zwei, die sich von Idealen beflügeln lassen, freuen sich, dass ihre Liebe in Bewegung bleibt – auch wenn man als Außenstehender vielleicht denkt, dass sie sich dadurch manchmal Stress machen.

Der Mittelweg kann helfen

Wenn aber der Veränderungswunsch einseitig ist, versuche ich, ein Paar für einen Mittelweg zu gewinnen. Dabei entdeckt der zufriedene Partner: Ein wenig Veränderung ist der Schlüssel zu der Ruhe und Zufriedenheit, die ihm in den Konflikten verloren gegangen ist. Dafür nimmt er auch einmal Momente in Kauf, in denen er sich überfordert oder gezwungen fühlt. Die Partnerin, die sich mehr wünscht, entdeckt: Mehr Annahme öffnet dem anderen endlich wieder Ohr und Herz und man kann gemeinsam über Möglichkeiten nachdenken, die für beide in Ordnung sind. Dafür kann sie auch einmal verzichten oder ein Ideal loslassen, das sich als unerreichbar herausstellt.

Ab und zu aber kann sich der zufriedene Partner auf keinerlei Veränderung einlassen. Als Therapeut bliebe mir nur, die Rolle des Unzufriedenen einzunehmen: einladen, motivieren, erklären, über die Folgen aufklären … und so immer mehr unterschwelligen Druck aufbauen. Das will ich nicht und beende die Begleitung. Die Partnerin (oder auch der Partner, wenn es umgekehrt ist) bleibt dann mit einer großen Enttäuschung zurück. Besonders ihr kann dann die Weisheit der Vernunftehe helfen.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. Neben Ratgebern veröffentlicht er Online-Kurse, die Paaren helfen (epaartherapie.de; derherzenskompass.de/schwereliebe).

Fehlende Superkräfte

Warum ich kein Heldenpapa bin. Von Moor Jovanovski

Heldeneltern? Ja, ich verstehe, was man lobend damit sagen möchte, wenn man Eltern als Helden bezeichnet. Aber es ist mir doch zu pathetisch. Das, was ich als Vater für meine Kinder tue, ist eine Selbstverständlichkeit. Damit spreche ich nicht einer Leidenschaftslosigkeit das Wort, sondern möchte von einer wohlwollenden Pflicht sprechen.

Es erfüllt mich nämlich persönlich sehr, wenn ich Stabilität und Sicherheit durch mein Vatersein für meine Kinder gewährleiste. Es macht mich stolz, wenn ich sehe, dass meine Kinder selbstbewusst und glücklich im Leben unterwegs sein können. Auch und gerade in der Zeit der aktuellen Pandemie ist es unerlässlich, dass ich für meine Kinder noch eine Extra-Schippe drauflege, damit das so bleibt.

Legendäre Momente

Denn ihre anderen Lebensbereiche, die auch verlässlich sein sollten und ihnen Halt und Sicherheit vermitteln können, sind es zurzeit nicht: Die Schulen stolpern von Beschulungskonzept zu Beschulungskonzept (zumindest in unserem Bundesland), die Sportvereine versuchen verzweifelt, irgendein Trainingskonzept auf die Beine zu stellen, und die Freundschaften meiner Kinder leiden unter diesen Umständen sehr. Jetzt bin ich gefragt und muss über mich hinauswachsen. Das ist keine Frage von Heldenmentalität oder vermeintlichen Superkräften, die damit einhergehen, sondern von Verantwortung und Wille.

Da ich es aber aller Anerkennung wert finde, dass Eltern in dieser Zeit auch besondere Erwähnung finden und ihre überdurchschnittlichen Mühen nicht übersehen werden, würde ich mich eher als Legende denn als Held für meine Kinder sehen wollen.
Legenden können beides sein: unglaubwürdig oder ruhmreich. Sie sind entweder personifizierte, unrealistische Ideale, die nahezu mystisch verklärt werden (das sind Väter in bestimmten Momenten eben auch), oder sie sind reale Personen mit handfesten und weltverändernden Handlungen, die nachvollziehbar und bleibend sind. Eine Legende scheitert oder begeistert. Dem fühle ich mich näher als einem strahlenden Helden, denn ich scheitere ebenfalls an meinen Idealen und versage auch mal als Vater. Dann wiederum gibt es diese legendären Momente, in denen ich nicht nur alles richtig mache, sondern nahezu Unsterbliches schaffe (mit Augenzwinkern geschrieben).

Hauptsache: Bleiben

Anlässlich meines Geburtstages bekam ich kürzlich ein Freundebuch geschenkt, in das auch mein vierzehnjähriger Sohn schrieb. Und er listete unter der Rubrik „Was ich an dir schätze“ sieben (!) kurze Sätze auf, die meinen „Legendenstatus“ unterstrichen. Eine legendäre Aussage teile ich gern mit Stolz an dieser Stelle. Er schrieb: „Ich schätze an dir: Dass du immer für mich da bist (egal, wie schlecht meine Noten sind)!“ Zu seiner Verteidigung muss ich sagen, dass es sich um ein „Hassfach“ handelt, dass jeder von uns kennt und hatte.

Der Basketball-Profisportler Kobe Bryant, der seine gesamte Karriere bei einem Verein in der amerikanischen Profiliga NBA verbrachte, fünf Meisterschaften gewann und im Januar 2020 viel zu früh durch einen Unfalltod verstarb, sagte einmal: „Helden kommen und gehen. Legenden bleiben!“ Das ist das, worauf es in meinem Vatersein ankommt: Dass ich bleibe! Egal, in welchen Zeiten.

Moor Jovanovski ist leitender Pastor von Mosaic Heppenheim und als Redner und Berater tätig. Er lebt mit seiner Frau Monica und seinen beiden Kindern in Erzhausen. www.moorjovanovski.com

Gegen Drachen kämpfen

Warum ich eine Heldenmama bin. Von Hella Thorn

Gegen welche Drachen ich zu kämpfen haben würde, wusste ich nicht, als ich mich vor fünf Jahren in das Land der Mutterschaft aufmachte, um meine Prinzessin vor dem Bösen zu beschützen. Klar war nur, dass ich mit meiner minderen Grundausstattung unerschrocken gegen alles Böse kämpfen würde, damit aus meiner Tochter eines Tages eine mutige, (willens-)starke, gebildete, hilfsbereite und glückliche junge Frau wird. Allein das macht mich per Definition schon zu einer Heldenmutter. Und da sind die Ungeheuer, in die sich meine Kinder zuweilen verwandeln können, die Monster unter dem Bett, die „Kämpfe“, die man um Fernsehzeiten, falsch geschnittenes Brot, den adäquaten Umgang mit Schere, Kleber und Tacker oder Süßigkeiten im Supermarkt auszufighten hat, nicht mitgezählt.

Große und kleine Kämpfe

Trotzdem, der Begriff des Helden hat keinen guten Stand. Versuche ich, ihn mir selbst zuzusprechen, schreien mich direkt Drachen nieder: „So viel wie du schimpfst und meckerst?“ „Sorry, aber bei deinem dünnen Nervenkostüm und porösen Geduldsfaden eignest du dich nicht gerade zur Mutter des Jahres.“ „Du entsprichst ja noch nicht mal dem Instagram-Bild einer guten Mutter. Da wollen wir von einer Heldenmama gar nicht anfangen.“

Denke ich an die Väter, fallen mir scheinbare Gegenargumente ein wie die häufigere Abwesenheit, der mangelnde Anteil an der Care- und Haushaltspflicht und die Unkenntnis über die aktuelle Schuhgröße, die Namen der besten Freunde oder die Ratlosigkeit darüber, was es zum Abendessen geben soll. Klar, das sind alles keine rühmlichen Handlungen oder imponierendes Wissen, aber sie scheinen doch mit einem Heldenvater einhergehen zu müssen.
Doch diese (Glaubens-)Sätze sind nichts anderes als Drachen. Drachen, gegen die Mütter und Väter ihre Schwerter ziehen müssen, um sie niederzukämpfen. Denn jeden Tag beweisen Eltern, dass sie echte Superhelden sind. Jeden einzelnen Tag leisten sie im Großen und Kleinen Außergewöhnliches. Jeden Tag gehen sie über ihre Grenzen, Kraftreserven und eigenen Wünsche hinweg.

Die Drachen der Gegenwart

So stelle ich mich unerschrocken jeder Diskussion, jedem starken Gefühl und jedem Bedürfnis meiner Kinder. Ich laufe stundenlang durch unsere Stadt auf dem Weg zur unsichtbaren Freundin meiner Tochter, die dann leider nicht zu Hause ist. Ich lese meinem Sohn unermüdlich Bücher vor, deren Beschränkung auf Hauptwortsätze mich mürbe macht. Ich ermögliche meinen Kindern verschiedenste Erfahrungen – obwohl ich es doch so oft besser weiß. Ich kämpfe gegen Müdigkeit, graue Haare und Schokoflecken auf T-Shirts und für gerechte Teilhabe, Bildung und ein starkes Selbstwertgefühl der Kinder.

Sicherlich gibt es viele weitere Drachen, gegen die Eltern, vor allem Mütter, heutzutage zu kämpfen haben. Der Mental Load, die fehlende Anerkennung der Care-Arbeit oder die krass überhöhten Erwartungen, die an Mütter und Väter gestellt werden, sind gefährliche Drachen, die den Weg der Elternschaft flankieren und erschweren. Deshalb sind wir Heldeneltern – und als Eltern zukünftiger Helden haben wir den Titel sowieso verdient.

Hella Thorn ist Mutter zweier kleiner liebenswerter Ungeheuer (2 und 5 Jahre) und arbeitet als Redakteurin, Autorin und Lektorin.

Psychologe warnt vor Bullerbü-Komplex: „Eltern scheitern grandios an einem Idealbild“

Viele Familien sehnen sich nach einer heilen Welt wie der in Astrid Lindgrens Kinderbuch „Wir Kinder aus Bullerbü“. Psychologe und Buchautor Lars Mandelkow sieht darin eine Gefahr.

Was ist so schlimm an Bullerbü?
An Bullerbü ist erst mal gar nichts schlimm. Das ist ein wunderbares Kinderbuch. Ich habe es geliebt und meinen eigenen Kindern vorgelesen. Bedenklich ist allerdings, dass dieses Bullerbü-Bild bei vielen jungen Familien ein Idealbild geworden ist, dem manche hinterherstreben und dann grandios daran scheitern. Denn in unserer wirklichen Welt kann es nie so sein wie in Bullerbü. Ich kenne viele Familien, die versuchen, so einen pastellfarbenen Alltag hinzukriegen. Im rauen Alltag mit Schulterminen, Leistungsdruck etc. schaffen sie es aber nicht. Und meinen dann, sie hätten etwas falsch gemacht. Das ist schlimm an Bullerbü. Also nicht Bullerbü selbst, sondern die Art, wie es mehr oder weniger unbewusst instrumentalisiert wird.

Was sind denn Aspekte von Bullerbü, die Eltern gern in ihren Alltag integrieren würden?
Bullerbü ist die klassische heile Welt – diese drei Höfe, die in unberührter Natur in Schweden liegen. Es gibt keinen Arbeitsplatz, der weit entfernt ist. Alles ist zu Fuß zu erreichen. Die Kinder haben nichts weiter zu tun, als den ganzen Tag zu spielen. Und die Eltern bilden eine sanft lächelnde Kulisse. Alles ist ruhig und übersichtlich. Es gibt ein paar schöne Familienrituale, aber keine großen Konflikte. Es gibt nur wenig Beispiele von echten Problemen. Selbst der Tod und das Alter werden friedlich beschrieben. Es ist eine heile Welt. Auf ganz vielen Ebenen ist sie heil. Und das macht diese große Sehnsucht aus. Deshalb ist das so ein starkes Bild, weil sich viele Leute nach einer heilen Welt sehnen, sie aber nicht erleben.

Kinder brauchen entspannte Eltern

Sie fordern in Ihrem Buch „Der Bullerbü-Komplex“ Eltern auf, es „gut sein zu lassen“, und betonen, dass es reicht, „gut genug“ zu sein. Aber woher weiß ich, wann dieser Punkt erreicht ist?
Wenn man sich an dem Besten orientiert, ist es klar: Dann geht es immer aufwärts, immer das nächstbeste ist das Ziel. Sich an dem zu orientieren, das gut genug ist, ist eine Kunst. Sich mit etwas Durchschnittlichem nicht nur zu arrangieren, sondern es sogar besser zu finden als das ständige Streben nach dem Besseren – das ist eher ein Lebensraum als ein Zielpunkt. Wann kann ich beginnen, zufrieden zu sein? Wann habe ich das letzte Mal meine Kinder dafür gefeiert, dass sie eine Drei nach Hause gebracht haben? Wann habe ich mich selbst dafür gefeiert, dass mir eine Aufgabe „ganz gut“ gelungen ist? Und nicht „ganz großartig“? Es ist eine Haltungsübungssache, nicht immer nach oben zu gucken.

Was ist das Allerwichtigste in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern?
Wenn ich meine Kinder angucke und sie in meinem Blick Entspannung sehen, dann ist ganz viel erreicht. Wenn Kinder Eltern erleben, die entspannt sind mit sich selbst, mit der Familie, mit den Erwartungen, dann ist das etwas Zentrales. Wenn nicht dauernd die Unzufriedenheit im Vordergrund steht: „Hast du schon …? Bist du sicher, dass du nicht noch …?“ Wenn Unzufriedenheit und Unvollkommenheit immer im Fokus sind, kann das ein Gift sein in der Beziehung. Entspannte Eltern – das ist das, was Kinder am meisten brauchen.

Ist die Liebe sichtbar?

Es passiert aber wohl allen Eltern, dass sie mal die Beherrschung verlieren und ihr Kind anschreien.
Natürlich passiert es, dass Eltern ihre Kinder anschreien. Da muss man sich fragen, ob es das Grundmuster der Beziehung ist oder die Ausnahme. In den meisten Fällen ist es die Ausnahme, und Kinder können das durchaus wechseln. Es ist sogar gesund, wenn Kinder erleben, dass Mama oder Papa mal einen schlechten Tag haben. Wenn man sich fragt: Erleben meine Kinder eigentlich grundsätzlich, dass sie geliebt sind? Nicht 100 Prozent jeden Tag, aber regelmäßig, immer wieder an den meisten Tagen. Wenn man sie fragen würde: Lieben Papa und Mama dich? Und sie würden sagen: Ja. – Dann ist das gut genug. Es kommt auf den Grundton an. Ausnahmen sind normal. Wenn man sich diese Ausnahmen nicht gestattet als Eltern, kommt man schnell in die Überforderung. Ich habe den Eindruck, dass manche Eltern glauben, dass das nicht gestattet ist, weil sofort die psychische Krankheit der Kinder folgt oder ein Entwicklungsschaden.

Eltern haben in der Tat Angst, ihre Kinder könnten psychische Schäden davontragen, wenn sie etwas falsch machen oder dem Kind zu wenig Zuwendung geben. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Es ist nicht der Mangel an Zuwendung, der Kinder krank macht. Es ist der absolute Mangel.“ Aber wie kommt es dann, dass Jugendliche psychisch krank werden, die aus Familien kommen, in denen es eine gute Beziehung und Zuwendung gibt?
Ich finde diese Frage ganz wunderbar – nur falsch gestellt. Wenn Sie die Frage so stellen, klingt es so, als wäre die Ursache für psychische Schwierigkeiten von Kindern als Allererstes in der Familie zu suchen. Die Frage, so wie Sie sie stellen, stellen sich viele Eltern auch und denken sofort: „Ich bin schuld. Ich habe irgendwas nicht gut genug gemacht.“ Meistens gibt es aber eine gute Beziehung zwischen Kindern und Eltern. Also kann es nicht daran liegen. Psychische Schwierigkeiten treten mit normalen Schwankungen überall auf, ganz unabhängig von der Familie. Vor allem aber glaube ich, dass viel mehr Ursachen für psychisches Ungleichgewicht aus der Umgebung der Kinder kommen: aus den Medien, aus der Schule, aus anderen Erwartungen, die um die Familie herum zu suchen sind. Und die Eltern, die eigentlich eine gute Beziehung zu den Kindern haben, könnten viel Gutes tun, wenn sie diese gute Beziehung selbstbewusst leben und in den Vordergrund stellen: „Wir haben es gut zusammen, bei mir kannst du einen sicheren Hafen finden.“

Gnade ist das Zentrum

Im dritten Teil Ihres Buches stellen Sie den Begriff der Gnade in den Mittelpunkt. Warum?
Zum einen ist der Begriff Gnade das Zentrum meines christlichen Glaubens. Es ist eine Aufgabe, mit mir selbst gnädig zu sein. Die Aufgabe, miteinander gnädig zu sein. Je mehr Gnade, desto besser. Und nicht: Je mehr Bullerbü, desto besser. Wir brauchen keine heile Welt, sondern in der Welt, in der wir leben, brauchen wir die Gnade als tragenden Grund. Und der ist uns geschenkt. Der andere Grund, warum mir das wichtig war in meinem Buch: Ich dachte, es ist zu wenig, nur das Problem zu beschreiben und zu versuchen, eine Lösung zu skizzieren. Denn es braucht ja auch einen Grund, auf dem das Ganze steht. Man braucht einen Ausgangspunkt für diese ganzen Gedanken.

Wie kann Gnade in der Familie praktisch gelebt werden?
Gerade in Momenten, wo der Druck steigt oder sich das Leben schwierig anfühlt, kann man sich angucken, was Gnade bedeutet: Wenn die Kinder mir als Gnadengabe geschenkt sind, was bedeutet das für meine Beziehung zu ihnen? Wie wäre ich als Vater, wenn ich ein gnädiger Vater wäre? Wie wäre ich als Ehemann, wenn ich Gnade wichtig finden würde? Oft hat das mit Geduld, mit Vergebung und mit Humor zu tun. Wenn ich merke, ich schaffe es nicht, alle Erwartungen zu erfüllen, dann kann ich mich in schlechtem Gewissen versenken oder ich kann die Gnade greifen und sagen: Ich bin, wie ich bin. Gnade bedeutet, dass ich so sein darf. Das ist ein Ausgangspunkt dafür, den nächsten Tag anders zu gestalten, ein bisschen freundlicher mit mir selbst und anderen zu sein.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

Auf dem Weg zum Ideal

Warum Ideale eine gute Motivation sein können. Und wo ihre Grenzen liegen. Von Mirjam Groß

Als unser erstes Kind unterwegs war, machten wir uns manche Gedanken und einige Anschaffungen, um uns auf den Neuankömmling vorzubereiten. Wir waren uns schnell einig, dass wir versuchen wollten, mit Stoffwindeln zu wickeln – laut unserer Recherche war es die umweltfreundlichere, kostengünstigere Variante und hatte noch andere Vorteile. Wir kauften gebraucht einen großen Karton Windeln, Einlagen und Vlies. Nach kurzer Zeit bekamen wir im Stoffwickeln Routine und unserem Sohn schienen die „Windelpakete“ auch nichts auszumachen.

Anderthalb Jahre später war ich am Anfang meiner zweiten Schwangerschaft und mir war häufig übel. Ich fühlte mich kraftlos, hatte keinen Appetit, brauchte sehr viel Schlaf. Und ich war sehr geruchsempfindlich. Ich brachte es kaum mehr über mich, den stinkenden Windeleimer in die Waschmaschine zu räumen. Das Auf- und Abhängen der Windeln strengte mich an. Mein Mann und ich beschlossen, eine Stoffwindel-Pause einzulegen, und kauften Einwegwindeln. Als wir uns weiter auf das Leben zu viert vorbereiteten und überraschend auch noch ein Umzug anstand, wurden wir uns wenige Wochen später einig, dass wir es dabei vorerst belassen würden.

AUF DIE FINGER SCHAUEN LASSEN

Das Leben mit zwei Kleinkindern ist bunt und voll. Im Moment bin ich dankbar, nicht abends noch Windeln falten zu müssen. Im Gespräch mit anderen Eltern merke ich zwar immer wieder, dass ich eigentlich vom Wickeln mit Stoff überzeugt bin. Aber ich bin auch versöhnt mit unserer Lösung. Nur manchmal nagen Zweifel an mir: Darf ich das überhaupt? Versöhnt sein mit etwas, das die Umwelt so belastet und meinen Idealen entgegensteht?

Ich habe Angst davor, unglaubwürdig zu sein. Wer Ideale propagiert, muss sich auch auf die Finger schauen lassen. Mein Eindruck ist, dass jeder nach Idealen strebt, auch wenn diese sich durchaus unterscheiden und sich nicht jeder gleich stark daran orientiert. Aber Ideale sind hip. Die Werbung spricht nicht nur unsere Bedürfnisse an, sondern auch unser Gewissen. Von Nachhaltigkeit und Fairness über Beziehungsideale, Sauberkeit und Individualität. Das stumme Versprechen lautet dabei: „Halte dich an diese Ideale und du wirst ein gutes, zufriedenes und glückliches Leben führen.“ So sehr ich auch selbst eine Idealistin bin, muss ich gestehen, dass die Sache nicht nur einen Haken hat: Zum einen sagt der Name schon, dass wir Ideale nicht ganz erfüllen können. Zum anderen wird es um uns herum und in uns selbst immer widerstreitende Ideale geben.

DER KAMPF DER IDEALE

Grundsätzlich erlebe ich Ideale als guten Ansporn, in eine Richtung zu gehen. Der Anreiz eines gesunden Körpergefühls motiviert mich zur Bewegung an der frischen Luft. Der Wunsch, meine Kinder in die Eigenständigkeit zu führen, hilft mir, die sieben Extra-Minuten beim Anziehen einzuplanen oder zumindest auszuhalten. Dennoch fühle ich mich schon in der eigenen Familie herausgefordert zu hinterfragen, woher meine Ideale kommen: Welchen Stellenwert hat Arbeit? Woher kommt mein Ideal zum Medienkonsum? Sind diese Ideale wirklich so ideal, wie ich meine?

Sind sie von Gott eingesetzt oder Teil meiner kulturellen, familiären oder meiner Persönlichkeits-Prägung?

Dann gibt es da noch widerstreitende Ideale in mir selbst. Mein schwäbisches Ich möchte gern so günstig wie möglich einkaufen, mein sozialkritisches Ich möchte auf jeden Fall gute Arbeitsbedingungen unterstützen und mein kreatives Ich hätte das Kleid am liebsten selbst genäht.

Mein Lehrerinnen-Ich möchte eine anregende Englischstunde für die Siebtklässler entwerfen, mein Hausfrauen-Ich mahnt mich dazu, jetzt wenigstens noch die Krümel unterm Tisch zusammenzufegen und mein Achtsamkeits-Ich ruft dazwischen, dass es nach dieser Erkältung das einzig Vernünftige wäre, gleich ins Bett zu gehen.

Mein Beziehungs-Ich ist nicht bereit, den Anruf einer kranken Freundin länger vor sich her zu schieben, mein Mama-Ich sträubt sich dagegen, den kleinen Bücherwurm mit seinem Wunsch nach Sofa-Bilderbuch-Zeit wegzuschicken und mein Gottesfreund-Ich gibt zu bedenken, dass auch die Sofazeit mit Gott die letzten Tage ausgefallen ist.

Mir wird klar: Ich kann es mir selbst nicht ganz recht machen. Einer der Idealisten in mir wird immer etwas beanstanden. Ähnlich verhält es sich mit meiner Umgebung:

Auch hier wird mein Verhalten nicht die Ideale aller Mitmenschen und sogar Mitstreiter erfüllen. Das tut manchmal weh und kann sogar Freundschaften beenden. Es kann an Ehen rütteln und Gemeinden auf die Probe stellen. Und: Es kann uns selbst ins Wanken bringen.

SELBSTZWEIFEL

Ideale prägen unsere Lebensführung und auch unseren Umgang mit uns selbst. Eine Bekannte, die ich wirklich bewundere für ihr Engagement in Richtung Selbstversorgung und nachhaltigem Lebensstil, war vor einiger Zeit am Boden zerstört, als wir miteinander sprachen. Der Fuchs hatte nachts all ihre selbst aufgezogenen Hühner erwischt. Sie hatte wohl die Tür nicht ausreichend gesichert und machte sich schwere Vorwürfe. „So etwas darf nicht passieren – und ich bin schuld …“

Ich finde es spannend, dass häufig gerade Menschen, die sich bewusst aus gesellschaftlichen Konventionen lösen, für sich selbst anhand von Idealen neue Erwartungen schaffen, an die sie sich umso stärker gebunden fühlen. Ich glaube, das ist sogar symptomatisch für unsere Gesellschaft von Individualisten. Wenn wir im Erreichen unserer (selbstgewählten) Ideale versagen, stellen sich bei vielen von uns tiefgreifende Selbstzweifel ein. Ich jedenfalls komme häufig an den Punkt, von mir selbst enttäuscht zu sein. Ideale offenbaren uns letztlich auch immer wieder, was wir alles nicht sind und nicht können. Ich kann nur unendlich dankbar dafür sein, dass ich an dieser Stelle weiß, wo mir vergeben wird und wer mich wieder aufbauen kann. Gott hat mir schon viele Lasten abgenommen.

Im „Idealfall“, wenn wir unseren selbstgesteckten Zielen nahe kommen, können Ideale uns auch selbstgerecht machen – aber eben nicht wirklich gerecht. Nur weil ich etwas so hinbekomme, wie ich es für richtig halte, bin ich nicht ein besserer Mensch. Wie gehe ich um mit Leuten, die meine Ideale nicht teilen? Liegen sie mir trotzdem am Herzen?

LIEBE UND BARMHERZIGKEIT

Bei einem Seminar hat ein älterer Pastor uns als junge Generation herausgefordert, die Ideale Gottes für voll zu nehmen. Sein Beispiel war: Soziales Engagement ist hip wie nie in der heutigen Zeit, Engagement in diesem Bereich und bewusster Konsum selbstverständlich für viele. Worauf liegt Gottes Augenmerk? Daniels Rat lautete: „Geht den ganzen Weg mit den Menschen, die Gott so sehr liebt. Könnt ihr Menschen aus Prostitution befreien oder ihre Arbeitsbedingungen verbessern, ihrer Integration helfen? Herrlich! Dann leitet sie auch darin an, wie man zu Jesus‘ Jüngern wird. Und dann zeigt ihnen, wie sie selbst Gottes Werke tun und Menschen zu Jüngern machen können!“ Die Bibel formuliert in 1. Korinther 13: „Wenn ich all dies erreiche, habe aber keine Liebe, dann bin ich nichts.“

Mich hat das nachdenklich gemacht, weil „gute Taten“ dann nicht mehr Selbstzweck sein können. Darüber kann und sollte ich mich nicht definieren. Alle Ideale müssen sich daran messen lassen, ob sie Gott Freude machen und Menschen (inklusive mir selbst) dienen. Wir können nicht wählen zwischen Idealen und Liebe. Wir brauchen beides. Wir brauchen das Bild vom großen Ganzen, das unser Tun motiviert. Wir brauchen Barmherzigkeit, um mit anderen Arm in Arm unterwegs zu sein, trotz derer und unserer Unvollkommenheit.

Daher will ich mich fragen: Verfolge ich ein Ideal, weil ich mich von anderen abgrenzen möchte? Brauche ich es, um mein Selbstwertgefühl wieder aufzurichten? Muss ich mir oder anderen damit etwas beweisen? Oder kann ich mit diesem Ideal Menschen lieben, wie Gott sie liebt? Meine Familie zum Beispiel mit vollwertigem, gesundem Essen – aber auch mit einer Nachtisch-Milchschnitte.

DER OBERSTE LEITSTERN

Für mich lösen sich Ideale damit von dem Anspruch, „erfüllt“ zu werden. Es geht darum, in eine Richtung unterwegs zu sein und nicht darum, das Ziel schon erreicht zu haben. Denn das ist in den meisten Fällen unmöglich. Wenn Liebe meine Motivation ist, dann bleibt es nicht bei guten Vorsätzen. Liebe ist tätig. Ich kann immer wieder an mir arbeiten und meine bisherige Routine überdenken. Dabei sind für mich als Nachfolgerin von Jesus aber Ideale nicht mein oberster „Leitstern“ – das ist und bleibt Gott selbst. Er möchte auch nicht, dass ich nach meiner Befreiung durch ihn wieder Sklave von Idealen werde. Ich bin so dankbar, dass Jesus nicht nur ein Ideal zur Orientierung ist, sondern eine Person. Ich werde zwar in diesem Leben nie seine Vollkommenheit erreichen, aber ich darf mit ihm in Beziehung leben und von ihm persönlich lernen – das ist besser als jede Idealvorstellung, an der ich mich orientieren könnte, weil er mich schon jetzt so annimmt, wie ich bin. Das motiviert mich am meisten!

Ich bin also nicht in erster Linie, was ich vielleicht gerne wäre:

  • eine Super-Mama
  • eine Künstlerin
  • eine Gesellschaftsaktivistin
  • eine Umweltschützerin
  • eine Selbstversorgerin
  • die beste Ehefrau

Ich bin in erster Linie ein geliebtes Geschöpf. Das macht mich fähig, andere zu lieben. Es macht mich auch fähig, viele Entscheidungen in Richtung guter Ideale zu treffen. Ich bin aber auch dann ein vollkommen geliebtes Geschöpf, wenn ich das nicht schaffe. Gleiches trifft für meine Mitmenschen zu! Weder sie noch ich halten es aus, an Idealen gemessen zu werden. Abgesehen davon hat sicher keiner von uns Idealisten bisher die perfekte Balance in all den widerstreitenden Leitideen gefunden. Hier will ich lernen, barmherzig zu sein mit mir selbst und anderen, ohne die als richtig erkannten Ideale aus dem Blick zu verlieren. Und ich will auf dem Weg bleiben, offen für Veränderungen: Vielleicht wird das nächste Kind ja doch wieder mit Stoff gewickelt, wer weiß? Die Hauptsache jedenfalls ist, dass es geliebt wird.

Mirjam Groß ist Ehefrau, Mama und Lehrerin und wohnt mit ihrer Familie auf der schwäbischen Alb.