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„Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi

Mutter adoptiert pflegebedürftiges Kind: „Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten“

Als Claudia Staudt die kleine Lena im Arm hält, ist für sie klar: Sie möchte ihre Mama werden. Dass Lena lebenslang pflegebedürftig sein wird, ändert nichts an ihrer Entscheidung.

Lena Marie. Lena. Lenchen. Mein Baby. Unsere Tochter. Unser großes Mädchen, das mit den ersten Launen der Pubertät kämpft, Sitzski fährt und allein ihre Assistenzhündin führt. Lena ist ein so bemerkenswertes Mädchen. Und bemerkenswert ist auch unsere Geschichte. Bis heute kann ich es manchmal kaum glauben, dass ich Mama dieses tollen Wesens sein darf. Dass ich überhaupt Mama sein darf.

Das winzigste Baby

Als mein Mann und ich unsere Tochter kennenlernten, war sie schon beinahe drei Monate alt. Und doch war sie das winzigste Baby, das ich je gesehen habe. Sie trug Kleidergröße 50 und versank darin. Lena war vier Monate zu früh zur Welt gekommen und hatte während der Geburt Hirnblutungen erlitten. Die Ärzte hatten so schwere Schädigungen des Hirns diagnostiziert, dass sehr schnell klar gewesen war, dass Lena zeitlebens schwere Beeinträchtigungen haben würde. Lenas leibliche Eltern hatten sie daraufhin zur Adoption freigegeben, und das Jugendamt hatte sie bei einer Bekannten unserer Familie untergebracht. Wir kannten Regina aus unserer Kirchengemeinde, sie nahm häufiger Kinder auf. Aus Familien, in denen es schwer war. Oder Babys, die weitervermittelt wurden. Und nun war Lena bei ihr. An einem Sonntag im März 2013 lag sie in meinen Armen. Ich roch an ihrem Haar, streichelte sanft über ihren kleinen Bauch und hörte zu, wie Regina berichtete, dass die Behörden keine Adoptiveltern für dieses kleine Mädchen finden konnten. Keiner wollte ein Baby adoptieren, das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit lebenslang ein Pflegefall bleiben würde. Die vergangenen drei Monate hatte dieses kleine Mädchen allein auf der Neonatologie gelegen. Sie hatte nach einer Frühgeburt in der 27. Schwangerschaftswoche um ihr Leben gekämpft, ihren Zwillingsbruder verloren und niemanden gehabt, der ihr sagte, dass er sie liebt. Und nun sollte sie den Rest ihres Lebens in einem Heim verbringen? Würde man da auch mehrmals die Woche mit ihr zu ihren Therapien gehen, wie Regina es tat? Alles in mir wehrte sich gegen diese Vorstellung.

Hals über Kopf verliebt

Mein Mann und ich hatten eine jahrelange Reise durch die Labore einer Kinderwunschklinik hinter uns. Hormonbehandlungen, künstliche Befruchtungen und Fehlgeburten hatten in den vergangenen Jahren unseren Alltag bestimmt. Unser sehnlichster Wunsch war es, einem Kind Liebe zu schenken und es in die Welt zu begleiten. Hier war nun dieses bezaubernde, hilflose Wesen, und niemand wollte ihm ein Zuhause geben? Wir wollten es. Ich wollte dieses kleine Menschlein festhalten, ihm immer wieder versichern, dass es nicht allein ist. Mein Mann und ich hatten uns Hals über Kopf in Lena verliebt und wollten für Lena da sein, sie glücklich machen, ihr helfen. Wir sprachen miteinander, mit Freunden und der Familie. Sprachen mit Regina. Wir stellten uns vor, wie es wäre, Lenas Eltern zu sein. Malten uns aus, wie das Leben mit einem schwer behinderten Kind aussehen könnte. Zeichneten Worst-Case-Szenarien und betrachteten sie. Schreckten sie uns ab? Nein. Hatten wir die Unterstützung unserer Freunde und Familien? Ja. Also gingen wir zum Jugendamt und erklärten, dass wir Lenas Eltern werden wollen. „Auf keinen Fall“, hieß es vonseiten des Jugendamtes. Man kenne uns schließlich gar nicht. Man könne uns nicht einfach so ein Kind geben. „Nein, nicht einfach so“, sagten wir. Aber man könnte uns doch wenigstens mal anschauen. Wir gaben nicht auf, wir kämpften, wir überzeugten das Amt, uns kennenzulernen. Endlose Gespräche, unzählige ausgefüllte Formulare und viele absolvierte Seminare später durfte Lena unsere Pflegetochter werden.

Anders als die anderen

Dass Lena anders war als die Babys in unserem Umfeld, die keine Behinderung hatten, war von Anfang an sehr deutlich. Wenn ich gefragt werde, wann wir merkten, dass das Leben mit Lena nicht so werden würde, wie wir uns unser Familienleben während unserer Kinderwunschbehandlungen vorgestellt hatten, sage ich, dass Anders gemeinsam mit Lena bei uns eingezogen ist. Angeklopft hatte es schon einige Jahre zuvor, das kleine Anders – nämlich mit unserem Gang ins Kinderwunschzentrum. Mit Lena aber nistetete es sich bei uns ein, war gekommen, um zu bleiben. Ich erinnere mich an die Babyschwimmkurse: Jede einzelne Stunde beendeten Lena und ich vorzeitig und verließen vor allen anderen fluchtartig das kleine Becken. Lena konnte die vielen Reize nicht verarbeiten. Das Wasser, das Lachen der anderen Kinder, der Gesang der Mütter – alles zu viel für sie. Anders war es auch mit Lena im PEKiP-Kurs. Während die übrigen Kinder von Woche zu Woche mobiler wurden, nach Gegenständen griffen, sitzen lernten und sich irgendwann an den großen bunten Spielquadraten hochzogen, lag Lena von Anfang bis Ende des Kurses in meinem Arm. Sie zeigte kein Interesse an der Bewegung, scheiterte daran, irgendetwas festzuhalten, und begann stets panisch zu brüllen, wenn ich ihren Körper auch nur ansatzweise von meinem entfernte. Ich litt. Nicht, weil ich mein Baby nicht jede Sekunde bei mir haben wollte. Nein, ich liebe es noch immer, an ihr zu riechen, sie an mich zu drücken und ihr über die dunklen Locken zu streicheln. Aber die anderen Kinder schienen so viel Freude an der Bewegung zu haben – und das wünschte ich mir für Lena auch.

Außen vor

Mit Lena wuchs auch Anders. Es nahm immer mehr Platz auf unserer Couch ein. Es begnügte sich nicht mehr damit, bei uns zu Hause zu sein, sondern spazierte mit uns durch die Straßen unseres Stadtviertels. Das war ungefähr zu der Zeit, als wir für Lena einen Rehabuggy bekamen. Ein sperriges und für mein Empfinden hässliches Teil. Das sei in grau eigentlich ganz schick, hatte der Rehatechniker bei der Erprobung gesagt. Glatte Lüge. Aber es bot Anders eine tolle Möglichkeit, sich beim Spazierengehen daran festzuhalten – alle anderen Familien hatten schicke moderne Buggys. Wir fielen also auf. Anders fiel auf. In der Kindergartenzeit sorgte Anders immer wieder für Tränen bei Lena und uns. Kindergeburtstage in der Kletterhalle, Playdates auf dem Spielplatz, die ersten Turnstunden – Lena war außen vor. Und mit Lena waren auch wir außen vor. Die Mamas der nicht behinderten Kinder unseres inklusiven Kindergartens waren großartig und luden mich immer mit ein, wenn sie sich trafen. Immer ging ich voller Vorfreude und Optimismus hin. Und immer kam ich enttäuscht nach Hause. Denn jedes Mal ging es um Themen, bei denen ich nicht mitreden konnte: Welche Ballettschule im Umkreis ist die beste? Welches Fahrrad ist für den Einstieg geeignet? Und wo gibt es Vereine, in denen die Kinder den Freischwimmer machen können? Ich hörte zu und lächelte. Wollte aber manches Mal lieber heulen. Und mich eigentlich über Windeln für große Kinder, schönen Rolli-Speichenschutz und die nächste stationäre Kinderreha unterhalten. Es passte einfach meistens nicht.

Hobby gefunden

Mittlerweile besucht Lena die vierte Klasse einer inklusiven Montessorischule. Und noch immer ist Anders ein Thema. Nach wie vor gehört Lena für unser und ihr Empfinden nicht richtig dazu. „Mama, das liegt nicht an mir. Das liegt an meiner Behinderung“, sagt sie oft. Ja, mein Kind, ganz richtig. Nun könnte man fragen, ob sie denn an einer Förderschule nicht besser aufgehoben sei. „Nein“, sagt Lena. Wir haben uns vor Schuleintritt gemeinsam mit ihr für die private Regelschule und gegen die Förderschule entschieden. Denn Therapien konnte man uns in der Förderschule ohnehin nicht garantieren. Individuelle Förderung für unser zwar motorisch so eingeschränktes, kognitiv aber so fittes Mädchen auch nicht. Dazu dreimal so lange An- und Abreisezeit und unflexible Unterrichtszeiten. Lenas Schule ist toll. Und in der Schule selbst ist Lena voll dabei. Genau wie all die anderen Kinder mit Behinderung. Aber zwischen „Ich akzeptiere meine behinderte Mitschülerin“ und „Ich möchte mit meiner behinderten Mitschülerin befreundet sein“ liegen eben Welten. Lena hat eine Freundin. Eine. Und die auch erst seit Ende der dritten Klasse. Inklusion ist eben mehr, als behinderte Kinder als nicht störend zu empfinden. Trotz aller Schwierigkeiten sind wir heute eine glückliche kleine Familie, Lena ein fröhliches, intelligentes und humorvolles elfjähriges Mädchen. Mit ihrem Elektro-Rollstuhl fährt sie selbstbewusst durchs Leben. Sie ist eloquent und durchsetzungsfähig. Und stolze Teampartnerin einer Assistenzhündin namens Ypsi. Mit Ypsi hat Lena ein Hobby gefunden, das sie gemeinsam mit den anderen Kindern aus unserem Assistenzhundeverein ausüben kann.

Ständiger Kampf

Und wir? Wir kämpfen noch immer. Nicht mehr um Lena, sondern für sie. Für Teilhabe, für Hilfsmittel, für Inklusion. Für Entlastung, Verständnis und Unterstützung für uns pflegende Eltern. Wir haben gelernt, uns Anders zu Nutzen zu machen. Lena spricht auf medizinischen Kongressen über ihre Behinderung. Sie berichtet, wo sich in ihrem Alltag Hürden auftun, welche Hilfsmittel ihr die liebsten sind und was sie sich für die Zukunft wünscht. Auf meinem Instagram-Account @claudistaudi lasse ich die Welt an unserem turbulenten Alltag teilhaben. Ich betreibe außerdem den Podcast „Pflegegrad Glück“ für pflegende Mütter. Und ich habe ein Buch veröffentlicht. In „Wir wollten Lena“ erzähle ich nicht nur unsere Geschichte, sondern beschreibe auch, dass es nach wie vor die Bürokratie ist und nicht Lenas Behinderung, die uns im Alltag am meisten behindert. Andreas und ich werden oft gefragt, ob wir es bereuen, ein behindertes Kind angenommen zu haben. Die Antwort ist ein entschiedenes und laut gebrülltes „NEIN!“. Aber auf die Frage, ob das Leben mit einem behinderten Kind so ist, wie wir es uns vorgestellt hatten, brüllen wir ein ebenso lautes „NEIN!“. Niemals hätten wir gedacht, wie schwierig es ist, die Hilfsmittel und die Unterstützung zu erhalten, die unserem Kind und uns zustehen. Und niemals hätten wir vorab realisieren können, wie wenig inklusiv unsere Gesellschaft ist. Aber ebenso wenig hätten wir uns jemals ausmalen können, wie glücklich und zufrieden uns das Leben mit Lena machen würde.

Claudia Staudt arbeitet als freie Journalistin, Pressesprecherin und Fitnesstrainerin. Sie lebt mit ihrem Mann, ihrer Pflegetochter und deren Assistenzhündin im Großraum Düsseldorf. Über ihre Geschichte mit Lena hat sie ein Buch geschrieben: „Wir wollten Lena“ (Bonifatius) Mehr zur Familie auf Instagram unter @claudistaudi

Inklusion in der Gemeinde

„Unser Sohn (12) hat eine geistige Behinderung. Die gleichaltrigen Kinder in unserer freikirchlichen Gemeinde besuchen nun den biblischen Unterricht. Wir fragen uns, ob unser Sohn auch daran teilnehmen soll.“

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„Helft dem Krüppelprediger aufs Bike zurück!“

2015 ist für EDENerdig-Gründer Markus Schenderlein ein besonderes Jahr, eine Art Jubiläum: Vor zwanzig Jahren konnte er noch laufen und saß zum letzten Mal auf einem Motorrad. Am 24.07.1995 hatte er auf einer Mitarbeiterfreizeit seiner Kirchengemeinde einen Unfall und ist seitdem querschnittsgelähmt.

Statt mit dem Bike ist er nun im Rolli für den Herrn unterwegs: Gemeinsam mit seiner Frau hat er eine christliche Beratungsstelle in Ostfriesland eröffnet für Menschen, die sich sonst keine professionelle Hilfe in Krisenzeiten leisten können: www.kleiner-leuchtturm.de. Vor zwei Jahren kam der Arbeitszweig „EDENerdig“ hinzu – eine Initiative, die besonders Christen für die Themen Barrierefreiheit und Inklusion begeistern möchte: www.edenerdig.de. Und das alles auf Spendenbasis.

Damit EDENerdig auch 2016 weiter läuft und rollt, hat sich das Paar etwas Besonderes einfallen lassen: Als Rollifahrer ist Markus für viele Motorradfahrer die personifizierte Angst – denn da will keiner hin. Doch was ist, wenn nicht die Querschnittslähmung oder andere Einschränkungen das Leben bestimmen, sondern eine höhere Macht? Gott persönlich? Von Gottes Liebe und deren Auswirkungen auf jeden Einzelnen von uns möchte Markus den Bikern erzählen – und deshalb wieder zurück in den Sattel und raus zu den Motorradtreffs und -gottesdiensten.

EDENerdig möchte nicht mehr nur durch Publikationen und Aktionen auf Inklusion und Glaube aufmerksam machen, sondern raus zu den Menschen: „Ich würde gerne mit meinem Bike in eure Gemeinde oder zu anderen christlichen Veranstaltungen kommen und erzählen, warum Inklusion ein zutiefst christlicher Wert ist“, erklärt Markus. „Warum Inklusion Freude macht. Wie Barrierefreiheit uns allen Freiheit schenkt. Und was Gott damit zu tun hat.“

Ein rollstuhlgerechtes Bike hat allerdings seinen Preis. Mit den erforderlichen Umbauten kostet es rund 20.000 Euro. Deshalb hat die Initiative eine Spendenaktion bei Betterplace gestartet: www.betterplace.org/de/projects/32199.

Jetzt sucht EDENerdig Unterstützer, damit Markus seinen Job als Krüppelprediger wieder aufnehmen und nach zwanzig Jahren aufs Bike zurückkehren kann. EDENerdig-Initiatorin Nicole erklärt, wie man mithelfen kann: „Spendet selbst was für den Krüppelprediger; jeder Cent zählt. Startet eine eigene Spendenaktion für den Krüppelprediger bei Betterplace. Macht in den sozialen Netzwerken darauf aufmerksam. Bringt unser Infomaterial unter die Leute. Ladet EDENerdig in eure Gemeinde ein. Teilt eure Ideen mit uns. Denn gemeinsam können wir Markus wieder aufs Bike setzen:

„Da kamen vier Männer, die einen Gelähmten trugen. Weil sie wegen der vielen Menschen nicht bis zu Jesus kommen konnten, deckten sie über ihm das Dach ab. Durch diese Öffnung ließen sie den Gelähmten auf seiner Trage hinunter.“ (Markus 2,3-4)“

Gottes bunter Sommer

Am 5.6., einen Monat nach dem Internationalen Tag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, startet die christliche Initiative für Barrierefreiheit und Inklusion „EDENerdig“ mit einer Social-Media-Aktion, um auch über den 5.5. hinaus auf die Notwendigkeit von Inklusion – besonders unter Christen – aufmerksam zu machen.

Die Initiatoren erklären je in einem kurzen Video auf Facebook, warum Inklusion für Christen ein wichtiges Thema ist und laden passend zum Datum fünf bis sechs ihrer Freunde ein, das ebenfalls zu tun.

Die Aktion wird von prominenten Christen unterstützt: Die Paralympicsiegerin im Fechten Esther Weber, der Musiker und Künstler Jens Böttcher, die Fotografin Conny Wenk und Bloggerin Mandy werden ebenfalls ein Video posten und fünf bis sechs ihrer Freunde dazu einladen.

Mitmachen kann aber ausdrücklich nicht nur, wer eingeladen wird, sondern jeder, dem das Thema wichtig ist oder jetzt mehr darüber wissen möchte. Wie das konkret geht, erklären Nicole und Markus Schenderlein von „EDENerdig“:

„Wir möchten, dass Gottes Vielfalt sichtbar wird. Damit niemand mehr ausgegrenzt wird, brauchen wir alle jemands. Also dich!

Mache mit und stelle dich der Herausforderung: Zeige dich der Welt und sag ihr, warum Inklusion jeden was angeht und was Gott damit zu tun hat. Und das geht so:

1) Filme dich und erkläre kurz, warum Inklusion und Barrierefreiheit für Christen wichtige Themen sind.

2) Poste dein Video auf deiner Facebookseite und bitte auch bei www.facebook.de/edenerdig. So entsteht eine bunte, inklusive Videomischung von ganz unterschiedlichen Menschen, die Gottes Vielfalt zeigt.

3) Lade fünf bis sechs Freunde ein, ebenfalls ein Video zu drehen, zu posten und wiederum fünf bis sechs Freunde einzuladen.

Lasst uns gemeinsam den Sommer 2015 richtig schön bunt machen. Damit Menschen mit Behinderungen und Menschen, die am Rand stehen, nicht mehr ausgeschlossen werden. Danke.“

Mehr Infos über Inklusion als gelebte Nächstenliebe gibt es auf www.edenerdig.de.