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Schweigen ist Silber, Reden ist Gold

Mit Nicht-Gläubigen über Gott und den Glauben zu sprechen, ist nicht einfach. Das gilt umso mehr in der Familie. Wie es aber trotzdem gelingen kann und uns nebenbei noch selbst weiterbringt, berichtet Matthias Kleiböhmer.

Wir sitzen vor dem Kamin und sprechen darüber, wie die letzten Jahre gelaufen sind. Meine Frau sagt: „Wir können doch ganz zufrieden sein: Job okay, Kinder gesund und wir wohnen in einer guten Gegend.“ Ich denke: „Ja, Gott hat uns gesegnet.“ Aber ich sage es nicht. Meine Frau glaubt nicht an Gott. Und ich möchte den Augenblick nicht kaputt machen. Denn davon zu sprechen, was Gott in unserem Leben tut, führt eigentlich immer zu Diskussionen. In diesem Fall wäre das Thema: „Wieso segnet er dich und andere nicht?“ Aber wir werden noch darüber sprechen. Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.

Außerhalb der Kirchenmauern

Es braucht Mut, über den Glauben zu sprechen. Nicht in der Gemeinde – da geht es einfach. Aber fast überall sonst. Meine letzte Blitzumfrage nach dem Gottesdienst hat gezeigt: Es geht vielen so. Was Businesstrainer für den Smalltalk empfehlen, haben wir schon längst verinnerlicht. Geld, Politik und Glaube lässt man besser außen vor, sonst wird es zu persönlich, übergriffig oder einfach zu emotional – und es kann eskalieren. Deswegen bleiben wir mit unserem Glauben unter uns in der Gemeinde oder in der Anonymität unserer Social Media-Bubble. Alle anderen lassen wir besser außen vor.

Wenn man – wie ich – „die anderen“ direkt in der Familie hat, geht das nicht. Für den Moment kann man Gott schon mal aus einem Gespräch ausklammern. Aber auf Dauer gelingt es nicht. Man kommt sich sonst vor, als müsste man öffentlich erklären, dass die Erde eine Scheibe ist. Wir können unser Christsein nicht an der Haustür neben dem Schlüsselbrett ablegen. Wir bringen den Glauben mit. Er begleitet uns durch eine Gesellschaft, in der der Unterschied zwischen denen, die glauben, und „den anderen“ immer größer wird. Immer mehr haben Gott nicht nur vergessen; sie vergessen, dass sie ihn vergessen haben. Schon allein deshalb glaube ich, dass es in Zukunft mehr Beziehungen wie unsere geben wird. Zu Hause kann man sich aber nicht dauerhaft verbiegen. Deswegen können wir nicht permanent auf den Gottesdienst verzichten. Und wir können Gott – wie alles andere Wichtige im Leben auch – nicht für immer aus allen Gesprächen verbannen.

Also braucht es Mut. Denn wir wissen ja selbst, wie brüchig, unvollständig und schwach unser Glaube manchmal ist. Und das kann ein solches Gespräch offenbaren. Wie peinlich! Dabei ist das nicht einmal das Schlimmste. Viel schlimmer ist es, dass es uns oft schwerfällt, unsere Liebe zu Gott in Liebe zu den Menschen zu übersetzen. Schließlich erleben uns unsere Angehörigen immer und überall in der Nahaufnahme. Sie kennen unsere Stärken und Schwächen sehr genau. Der Mut besteht nicht nur darin, von Gott zu erzählen und die verständnislosen Blicke, das Desinteresse oder die anschließende Diskussion auszuhalten. Er besteht vor allem darin, sich selbst mit dem Maßstab des Glaubens messen zu lassen.

Der Anspruch ist gewaltig

Viele Menschen haben zwar Gott vergessen, aber trotzdem gewaltige Ansprüche an Christinnen und Christen, was Geduld, Barmherzigkeit und Nächstenliebe angeht. Drei Disziplinen, in denen ich ständig versage. Als Bibelleser denke ich dabei oft an Paulus, und das macht es nicht leichter. Er ist nämlich der Meinung, dass in Beziehungen wie meiner nicht-gläubige Partnerinnen und Partner gewonnen werden können durch die vorbildliche Lebensweise der Christinnen und Christen. Das ist die wichtigste Art, wie wir über unseren Glauben sprechen, und es ist die schwierigste.

Man kann das alles maximal groß und kompliziert denken oder man kann die Freiheit des Glaubens ernst nehmen. Was ich meine: In meiner Situation spürt man den Erwartungsdruck der anderen, man liest Paulus und hört vielleicht sogar Jesu Aufforderung, „alle Welt“ mit dem Evangelium in Kontakt zu bringen. Das überfordert nicht nur mich, sondern auch Menschen, die im Glauben fester sind als ich. Tatsächlich hat Gott aber die Neigung, Menschen mit großen Schwächen zu Zeugen seiner Liebe zu machen. Petrus war ein Verräter, Paulus ging keinem Streit aus dem Weg und ein Berufssoldat der verhassten Römer erkennt als Erster: „Dieser Mann ist Gottes Sohn gewesen!“ Willkommen in der Gemeinschaft der Unvollkommenen!

Nicht-Gläubige, die wissen, dass wir Christen sind, werden sich sicher immer mal wieder fragen, wie glaubwürdig wir leben. Aber sie verstehen darunter meist etwas anderes, als Gott darunter versteht. Sie meinen meist eine moralische Christlichkeit mit selbstlosem Einsatz für den Nächsten. Dabei sind sie so ungnädig, wie wir Menschen eben sind. Gott kann da liebevoller drüber hinwegschauen und das sollte unser Maßstab sein. Wir müssen es trotzdem mit aller Kraft versuchen. Wir sind dran, weil es eben niemand anderen gibt, der es tun kann. In der Familie kann man sich nicht vertreten lassen.

Aber wie macht man das?

Wie findet man Worte für den Glauben und wie spricht man ihn aus? Ich meine, der einfachste Weg ist, mit einem eigenen Erlebnis zu beginnen. Da braucht man keine große Theologie und keine Argumente. Man darf einfach erzählen, wie man etwas erlebt hat. Zum Beispiel, dass man Gott erlebt hat, wo andere nur einen glücklichen Zufall sehen. Beispielsweise so, dass Gott in mein Leben positiv eingreift.

So habe ich es gemacht, als ich mich bei einem Beinahe-Unfall auf der Autobahn „bewahrt“ gefühlt habe. Das ist so ein typisches „Christenwort“, aber so habe ich es erlebt: Ein BMW fuhr viel zu schnell an meinem und einigen anderen Fahrzeugen vorbei und prallte in die Leitplanke. Dabei drehte er sich nur wenige Meter vor mir um die eigene Achse. Beim Aussteigen war ich geschockt – und fühlte mich bewahrt. Ich habe das bewusst auch denen genau so erzählt, die meinen Glauben nicht teilen. Was ich erlebe, darf ich auch so erleben. Wenn dann daraus eine theologische Fragestunde entsteht, in der ich nicht alle Antworten habe – sei es drum. Da bin ich trotz Studium und Predigtdienst manchmal nicht so gescheit, wie ich gern wäre. Aber was macht das schon? Ein anderer Christ oder eine andere Christin ist eben nicht da.

Bestätigung statt Zweifel

Was wir erleben, ist das eine. Das andere sind die Worte dafür. Und die kann man sehr gut mit Menschen üben, die den Glauben teilen. Nicht, weil es ein Formulierungstraining braucht, sondern weil man sich am Anfang etwas dazu überwinden muss. Und das geht leichter in einem Umfeld, das ein solches Erlebnis nachempfinden kann. Der Partner oder die Partnerin ahnt ja vielleicht nicht, dass die Situation auch für uns eine Herausforderung ist. Wir wissen es aber und wir brauchen gerade am Anfang Bestätigung und nicht Zweifel. Deswegen kann man solche Erlebnisse (ich meine solche mit Gott, sie müssen nicht unbedingt so spektakulär sein wie in meinem Fall) gut zunächst in der Gemeinde oder im Hauskreis erzählen. Später dann in der Familie.

Als dritte Möglichkeit, neben einem authentischen christlichen Lebensstil und dem Reden über den Glauben, bleibt noch die subtilere Sprache der Symbole. Wer keine Worte findet, kann die Kunst in Bild oder Ton sprechen lassen. Dabei geht es weniger darum, die Wohnung sakral zu möblieren. Aber wenn der Glaube zu deinem Leben dazugehört, findet er auch einen Platz im Wohnraum, in der Spotify-Playlist oder beim Streaming. Ich selbst schaue die Streaming-Version der Jesusgeschichte („The Chosen“) zwar meist allein, aber ich erzähle davon, was ich daran gelungen finde und was nicht. Solange es nicht zu nerdig wird, ist es in Ordnung. Solange es kein dogmatischer Vortrag ist, sondern persönlich, darf es einen Platz im Familienleben haben. Deswegen gibt es im Wohnzimmer auch ein Kreuz, obwohl es nicht allen Familienmitgliedern etwas bedeutet. Es berührt mich, also darf es bleiben.

Aushalten

Trotzdem ist meine Erfahrung, dass man im Gespräch mit Nicht-Gläubigen einiges aushalten muss. Und das empfinden die Gesprächspartner umgekehrt auch manchmal so. Die gegenseitige Zumutung besteht darin, sich zu lieben und dennoch wichtige, grundlegende Sichtweisen auf das Leben nicht zu teilen. Das lässt sich aushalten, wenn man sich der Beziehung grundsätzlich sicher ist und die Tagesform passt. Bei beiden. Denn auch der Partner oder die Partnerin erlebt dann im Gespräch einen „Die-Erde-isteine-Scheibe“-Moment. Deswegen kommt es auf den richtigen Moment für das Gespräch an.

Ich weiß, dass solche Gespräche trotz guter Vorbereitung, entspannter Stimmung und tiefer, inniger Liebe scheitern können. Niemand möchte das und doch passiert es. Ich kann nur für mich selbst sprechen. Aber ich muss sagen, dass mich solche Gespräche letztlich immer weitergebracht haben. Denn sie führen dazu, dass ich meine Gedanken neu ordne und meine Antworten neu durchdenke. Und das stärkt auch meinen eigenen Glauben. Mein Christsein wird tiefer, wenn es regelmäßig durchgeschüttelt wird. Denn manchmal lernt man aus gescheiterter Kommunikation mehr als aus gelungener.

Matthias Kleiböhmer ist mit einer atheistischen Naturwissenschaftlerin verheiratet. Der Theologe leitet den YouTube-Kanal der Stiftung Creative Kirche.

BUCHTIPP

Matthias Kleiböhmer „Sonntagmorgensingle – Wie es ist, der einzige Christ in der Familie zu sein“ (Gütersloher Verlagshaus)

„Wir sehnen uns nach Gemeinschaft“

In einer „klassischen“ Gemeinde haben Jessica Schlepphege und ihr Mann keine Heimat gefunden. Deshalb probieren sie neue Formen der Gemeinschaft aus.

Manchmal wage ich es gar nicht auszusprechen: Mein Mann, unsere Kinder und ich haben kein „geistliches Zuhause“. Wir gehen nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst und sind auch in keinem Hauskreis. Zwar sind wir noch Mitglieder in unserer Heimatgemeinde, die wir hin und wieder besuchen, aber regelmäßige „Gemeindeaktivitäten“ pflegen wir dort nicht mehr. Seit gut zehn Jahren befinden mein Mann und ich uns auf der Suche nach dem, was Gemeinde für uns bedeutet. Angefangen hat dieser Prozess, als wir studiumsbedingt Richtung Norden zogen. Für uns war klar, dass wir auch in unserer neuen Heimat einer Kirchengemeinde angehören wollten. Also besuchten wir kurz nach dem Umzug die ersten Gottesdienste. Doch auch nach längeren Zeiträumen, die wir in einzelnen Gemeinden verbrachten, fühlten wir uns nirgendwo zu Hause. Sicherlich gab es auch hier und da Formen oder Strukturen, die uns befremdlich waren oder sogar irritierten. Doch der Illusion, einer perfekten Gemeinde zu begegnen, waren wir schon lange entwachsen. Schließlich wurde uns klar, dass unsere Gemeinde unbedingt vor Ort sein sollte. Wir sehnten uns nach Gemeinschaft, die regelmäßig ohne größeren Aufwand praktiziert werden konnte. Doch in den Gemeinden vor Ort kamen wir nie richtig an.

SCHLECHTES GEWISSEN
Immer seltener machten wir uns am Sonntagmorgen auf den Weg zum Gottesdienst, bis wir uns schließlich bewusst dazu entschieden, nicht mehr Teil einer Gemeinde vor Ort zu sein. Durch unsere gemeindliche Prägung meldete sich nicht selten das schlechte Gewissen: Ist es okay, wie wir unseren Glauben leben? Tun wir uns, anderen oder Gott damit Unrecht? Auch die sorgenvollen Fragen anderer Christen ließen uns manches Mal zweifelnd zurück. Wir suchten mehrmals wieder Kontakt zu einer Gemeinde, merkten aber beide relativ bald, dass unsere Bedürfnisse nicht gestillt wurden. Mit der Zeit kristallisierte sich heraus, wonach wir uns sehnten. Denn eigentlich klangen all unsere Gründe ‚gegen’ diese oder jene Gemeinde wie faule Ausreden. Wir sehnten uns nach anderen, vielleicht neuen oder eben nur ganz einfachen Formen des Gemeindelebens. Eine Gemeinschaft, die nahezu ohne Strukturen auskam. Strukturen, die wir immer mehr als hinderlich empfanden. Wir wollten eine Gemeinde nach dem Prinzip: Weniger ist mehr. Weniger Leute. Weniger Programm. Weniger Hierarchie. Weniger …

VERÄNDERTES GEMEINDEBILD
Schließlich traf das Buch „Der Schrei der Wildgänse“ von Wayne Jacobsen und Dave Coleman genau unseren Nerv. Es waren gar nicht so sehr einzelne Zitate oder Sätze, die mich berührten, sondern die Geschichte als Ganzes, der Lernprozess der Hauptfigur und seine oft dämlichen Fragen, die exakt so von mir hätten stammen können. Die Autoren beschreiben den Weg eines Gemeindeleiters und Pastors, der aus den Strukturen seiner (Mega-)Kirche ausbricht. Auf seiner Suche nach dem, was „Gemeinde“ bedeuten kann, begegnet er immer wieder einem mysteriösen Mann, der ihn herausfordert, seinen Weg ehrlich zu reflektieren. Im Grunde geht es in der Geschichte um die Einfachheit von Gemeinde. Um die Frage: Wo fängt Gemeinde eigentlich an? Auch meinen Mann und mich beschäftigen die Fragen, was Gemeinde eigentlich ist und welche Formen sie annehmen kann. Früher bedeutete Gemeinde für uns das, was die meisten Christen unter einer herkömmlichen Gemeinde verstehen: Sie hat einen Namen, einen Ort und ein Programm. An verschiedenen, über die Woche verteilten Terminen findet das Gemeindeleben statt. Das Gemeindeleben beziehungsweise die Gemeinschaft entstehen also durch diese Strukturen. Im Laufe der Jahre veränderte sich unser Bild von Gemeinde. Obwohl wir unser Leben oft als gemeindefern bezeichnet hatten, würden wir heute sagen, dass wir eigentlich schon lange, wenn nicht sogar immer, ein lebendiges Gemeindeleben führen. Wir leben enge Beziehungen zu anderen Christen, teilen mit ihnen die Tischgemeinschaft und ermutigen uns in unserem Weg mit Gott. Bei allem, was wir tun und in allen Beziehungen, die wir leben, möchten wir uns der Nähe von Jesus bewusst sein. Diesem Gedanken folgend fängt Gemeinde mit Gemeinschaft an. Ein organischer Prozess, bei dem authentische Beziehungen im Mittelpunkt stehen. Beziehungen, wie Jacobsen schreibt, in denen „man einen offenen, ehrlichen Austausch pflegt, ein ehrliches Interesse am geistlichen Wohlergehen der anderen zeigt und sich gegenseitig ermutigt, Jesus zu folgen, wie auch immer er die Einzelnen führt“.

ERFAHRUNGEN
Wenn wir auf die vergangenen zehn Jahre mit unserer Form des Gemeinde- und Gemeinschaftslebens zurückblicken, wird uns Folgendes wichtig:

1. Mehr Eigeninitiative Eine Herausforderung war zunächst, dass wir mehr Eigeninitiative für unser Glaubensleben aufbringen mussten. Während wir früher mindestens jeden Sonntag und Donnerstagabend einfachen Zugang zu Lobpreis, Bibelauslegung und Gemeinschaft hatten, mussten wir uns nun bewusst darum bemühen, diese Komponenten in unseren Alltag einzubauen. Das versuchen wir, indem wir zum Beispiel Predigten über das Internet ansehen, eigene Lobpreiszeiten mit CD oder Klavier gestalten und die Gemeinschaft mit anderen Christen suchen. Je länger wir ohne festen Gemeindebezug auskommen wollten, umso natürlicher fühlte es sich an, Verantwortung für unser Glaubensleben zu übernehmen (was nicht heißen soll, dass Mitglieder einer herkömmlichen Gemeinde das nicht tun).
2. Missionales Leben Durch die Einfachheit von Gemeinde, wie wir sie leben wollen – das Weglassen von Strukturen und Terminen –, wurden Zeit und Kraft für einen anderen Bereich freigesetzt, der uns wichtig geworden ist: missionales Leben. Das bedeutet, wir möchten Gottes Licht und seine Liebe in den Beziehungen leben, die ganz natürlich in unserem Lebensumfeld entstehen. Obwohl wir dieses Prinzip auch schon vorher gelebt hatten, merkten wir, wie unser Alltag ohne die Veranstaltungen in der Gemeinde viel mehr Raum für Beziehungen bot: in der Nachbarschaft, bei Veranstaltungen für und mit den Kindern, bei der Arbeit und unseren Hobbys. Uns persönlich geht es dabei nicht darum, Menschen zu bekehren, sondern Gottes Liebe und all das Gute, das er uns schenkt, an die Menschen um uns herum weiterzugeben.
3. Kinder integrieren Im Laufe der Zeit wurden wir mit drei tollen Kindern beschenkt. Wir fragen uns immer wieder, wie auch sie Teil unseres Gemeindelebens sein können. Gerade sind sie im Baby-, Kindergarten- und Grundschulalter, und wir empfinden das Vorleben des eigenen Glaubens wichtiger als den Besuch eines Kindergottesdienstes oder der Jungschar. Aber auch unsere Kinder sehnen sich nach regelmäßiger Gemeinschaft vor Ort, sodass unser Ältester nun den Wunsch geäußert hat, eine Jungschar zu besuchen. Wir glauben nicht, dass das unserem Gemeindeverständnis widerspricht. Auch unsere Kinder sollen authentische Beziehungen zu anderen Gotteskindern leben und dürfen sich mit zunehmendem Alter für die Gemeindestrukturen entscheiden, die zu ihnen passen. Wie mit allem in unserem Gemeindeleben sind wir auch hier Suchende und Fragende. 4. Netzwerk Seit etwa vier Jahren sind wir Teil eines Netzwerkes, in dem wir uns über missionales Leben und alternative Gemeindeformen austauschen. Zwei- bis dreimal im Jahr treffen wir uns, um diese Themen zu vertiefen und voneinander zu lernen. Das Netzwerk hilft uns sehr, um mit all unseren Fragen nicht allein dazustehen. Es ermutigt uns zu erleben, dass andere Christen ähnliche Fragen haben und sich nach neuen Formen des Lebens mit Jesus sehnen.

BEZIEHUNGEN LEBEN
Gemeinde bedeutet für uns authentisch gelebte Beziehungen unter Gläubigen. Und ganz gleich, wie die einzelnen Gemeinden aussehen – wir sind überzeugt, dass jede Form ihre Berechtigung hat und gebraucht wird: ob mit traditionellen Strukturen im Gemeindehaus oder ganz hip im Stadtcafé; ob klein und persönlich, in der MegaChurch mit Eventcharakter oder irgendwo dazwischen. Mein Mann und ich leben Gemeinde seit gut zehn Jahren nach dem Beziehungsprinzip. Und vielleicht werden wir irgendwann auch wieder in einer „herkömmlichen“ Gemeinde zu Hause sein. Momentan träumen wir von kleinen Gemeinde-Zellen und wünschen uns Beziehungen mit anderen Gläubigen, die wir vor Ort leben können. Damit wir füreinander und gemeinsam den Menschen um uns herum Nachbarn und Nächste sein können. Wir sind mit Gott auf einem Weg, auf dem wir nicht alle Antworten kennen und auf seine Leitung angewiesen sind. Letztes Jahr zogen wir zurück in die alte Heimat und sind nun gespannt, was Gott hier mit uns vorhat.

 

 

Jessica Schlepphege hat Englische Fachdidaktik und Erziehungswissenschaften studiert. Sie ist Botschafterin der Anti-Sklaverei- Bewegung www.ijm-deutschland.de, arbeitet als freie Autorin und lebt mit ihrem Mann und den drei Kindern in der Nähe von Karlsruhe.

Einfach da

Ein Gastbeitrag von Annette Fabinski

 

Da saß er.

Ganz links am Fenster. Neben ihm drei Stühle frei.

Sein schlanker Körper mit dem feinen Profil erinnerte an einen ägyptischen Prinzen.

In seinen Händen das Gesangbuch. Konzentriert blickte er mit leicht gesenktem Kopf hinein, seine Lippen bewegten sich zur Klaviermusik, die von einer alten Dame bedächtig gespielt wurde. Die Musik durchzog den Raum, sanft und warm. Durch das Milchglasfenster fielen Sonnenstrahlen gebrochen herein.

Und da saß er.

Er, der Schulschwänzer, er, der immer unterwegs war. Nie wusste seine Mutter, wo sie ihn finden konnte. Heimatlos – ja, das Wort passte auf ihn.

Vor unserer Tür stand er oft. Manchmal kam er einfach hereinspaziert, aß mit uns, spielte mit uns und blieb und blieb. Dann verschwand er und tauchte tagelang nicht auf.

An einem Wochenende schlief er bei uns.

Das Haus war von Lachen durchzogen, Fußgetrappel auf der Treppe. Es wurde gespielt, gemeinsam gegessen, geredet und irgendwann auch, später und später, erschöpft geschlafen. Dann kam der Sonntag. Unser Sonntag mit unserem Gang zum Gottesdienst.

Vorsichtig fragte ich ihn, ob er mitkommen wolle.

Er wollte.

Er tauchte ein in eine für ihn vollkommen fremde Welt. Noch nie zuvor hatte er einen Gottesdienst besucht. Noch nie zuvor hatten ihn Menschen auf eine solch freundlich zugewandte Art begrüßt. Wie im Traum lauschte er der Predigt, sang er zum ersten Mal ein Kirchenlied, betete er. Danach gab es Wasser, Saft und Kuchen. Alle standen fröhlich zusammen und er mitten unter ihnen. Er strahlte, aß ein zweites Stück Kuchen, redete, lachte, war einfach da, mitten unter ihnen.

Dann kam die Woche.

Es regnete.

Er schwänzte die Schule.

War unterwegs.

Blieb irgendwo.

Alltag.

Am nächsten Wochenende schlief er nicht bei uns.

War zu Hause, weit draußen auf dem Land.

Es war kalt und wir waren müde. Etwas zu spät setzten wir uns während des Eingangsliedes auf Plätze nahe der Tür.

Griffen das Gesangbuch.

Die Musik wärmte.

Langsam wurde ich wacher.

Mein Blick wanderte nach links.

Ich traute meinen Augen nicht.

Da saß er.

Neben ihm unsere drei freien Plätze.

Und war einfach da.

 

Große Erwartungen

Ich arbeite gerade am Dossier-Thema der nächsten Family: „Unser Platz in der Kirchengemeinde“. Es geht um die Beziehung von Kirche und Familien, um Kriterien für die Gemeindesuche, um die Frage, wie viel Engagement gut und notwendig sind. Ein riesengroßes Thema. Was mir auffällt: Unsere Erwartungen an Kirchen und Gemeinden sind hoch. Sie sollen etwas leisten für die Gesellschaft, für Familien, Singles, Senioren, Jugendliche, Kinder, Männer, Frauen … Nicht zu vergessen die notleidenden Menschen in der Welt, die Menschen auf der Suche nach einem Sinn, die Menschen, die am Rande stehen …

Und dann müssen ja auch die Gottesdienste ansprechend sein. Sie müssen langjährigen Christen ebenso etwas bieten wie Menschen, die zufällig vorbeikommen. Sie müssen Alte und Junge ansprechen. Und Kirchkaffee muss es auch geben …

Große Erwartungen. Wie kann eine Gemeinde ihnen gerecht werden? Da berührt mich der Satz einer Autorin: „Christen sollten weniger von ihrer Gemeinde, dafür mehr von Gott erwarten.“

Das stimmt! Gemeinde ist immer nur bruchstückhaft, fehlerhaft. So wie wir Menschen, die wir uns in dieser Gemeinde sammeln. Wir können mithelfen, dass unsere Gemeinde ein guter, segensreicher Ort ist. Aber auch mit Gelassenheit ertragen, was nicht perfekt ist.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin