Einzelfallhilfe für ein autistisches Kind: Eine Mutter nimmt es selbst in die Hand
Um einen Kitaplatz für ihre autistische Tochter zu bekommen, braucht Anja eine Einzelfallhilfe. Als die Suche scheitert, hängt Anja ihren Job an den Nagel und begleitet ihr Kind selbst. Und sie stellt fest: Das ist eine wirklich erfüllende Aufgabe.
Es ist Sommer. Der Wasserspielplatz ist voll mit planschenden Kindern. Ruby liebt Wasser. Immer wieder geht sie zu ihrer Mutter Anja (Namen geändert). Sie soll ihre Hände zu einer Schale formen. In diese gießt Ruby dann Wasser und juchzt vor Freude. Stundenlang könnte sie das so machen. Ruby ist sechs Jahre alt. Mit vier Jahren wurde bei ihr frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Das ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei Ruby dafür sorgt, dass sie bisher nicht spricht und im Alltag viel Unterstützung und eine Einzelfallhilfe braucht.
„Ruby braucht Hilfe beim An- und Ausziehen oder wenn sie zur Toilette geht“, sagt ihre Mutter. Der soziale Kontakt mit anderen fällt ihr schwer, sie kann ihre Grenzen nicht einschätzen. Zum Beispiel zieht sie fremden Menschen an ihrer Kleidung oder fasst sie an. Besonders schwer fällt es ihr, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Ist es ihr zum Beispiel zu laut oder zu turbulent, zieht sie sich vollständig in sich zurück oder schreit laut. Sie braucht deshalb eine überschaubare Anzahl fester Bezugspersonen und tägliche Routinen, um sich im Alltag zu orientieren.
Nicht erwünscht in der Regel-Kita
Anja ist freie Journalistin, nach der Geburt wollte sie bald wieder arbeiten. Mit neun Monaten kam Ruby zu einer Tagesmutter. Je älter und agiler sie wurde, desto schwieriger wurde es für die Tagesmutter, sie zu betreuen. Wollte sie mit den Kindern beispielsweise malen oder basteln, landeten die Bastelmaterialien regelmäßig auf dem Boden, wurden zerrissen oder in den Mund gesteckt. Es stellte sich heraus: Ruby war entwicklungsverzögert.
Mit vier Jahren sollte Ruby in eine Regel-Kita wechseln. Als die Kita aber von ihrer Diagnose erfuhr, war sie nicht mehr willkommen. „Sie sagten nicht direkt, dass Ruby nicht kommen darf“, berichtet Anja. „Aber sie rieten dringend davon ab. Bei ihnen wäre Ruby nicht gut aufgehoben.“ So erging es Anja und ihrem Mann auch bei der weiteren Suche nach einer Kita für Ruby – überall bekamen sie Absagen. Oft wurden sie auf die örtliche Inklusions-Kita verwiesen. Doch die war keine Option: Mit 34 Kindern waren die Gruppen für Ruby viel zu groß, dort würde sie untergehen. Außerdem stimmte der Gesamteindruck für Anja nicht: „Es wurde hier mehr beaufsichtigt als gefördert. Die Kita wirkte für mich wie ein Auffangbecken für alle Kinder, die aus irgendwelchen Gründen durch das Raster fallen.“
Suche nach einer Einzelfallhilfe
Nach langem Suchen fanden sie endlich eine Kita mit kleinen Gruppen, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Die Erzieherinnen hatten zwar kaum Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung, die Leiterin wollte es aber gerne probieren. Anja und ihr Mann waren über diese guten Nachrichten erleichtert. Jetzt brauchten sie nur noch eine Einzelfallhilfe, da Ruby mittlerweile Pflegegrad 4 hatte und ohne Unterstützung nicht in die Kita gehen durfte. Sie suchten also nach einer Person, die Ruby mit dem Auto in die Kita fährt, wieder nach Hause bringt und vor allem in der Kita begleitet. Um zum Beispiel aus der Gruppe mit ihr zu gehen, wenn es ihr zu trubelig wird. Oder um sie auf die Toilette zu begleiten und aufpassen, dass sie nichts durcheinanderbringt.
Gleichzeitig sollte Ruby aber auch bewusst mit anderen Kindern in Kontakt gebracht und individuell gefördert werden. Zum Beispiel sollte sie üben, sich selbstständiger an- und auszuziehen. „Wir waren damals noch sehr naiv“, erzählt Anja, „Wir dachten: Wenn wir eine Einzelfallhilfe haben, dann ist das Problem gelöst. Dann haben wir diese eine Person, die Ruby bei allem unterstützt, das sie braucht.“
Nur noch Stress
Doch so einfach war es nicht: Nach neun Monaten mussten sie die Zusammenarbeit mit der ersten Einzelfallhilfe beenden. Sie weigerte sich zum Beispiel plötzlich, die Fahrten zur Kita und nach Hause zu übernehmen – obwohl das genauso abgesprochen war. Danach blieb Ruby drei Monate zu Hause. Die zweite Einzelfallhilfe bekam nach ein paar Wochen völlig überraschend von der Kita Hausverbot, weil sie nicht ins Team passe. Wieder musste Ruby zu Hause bleiben. Einige Wochen später fanden sie eine Tagesmutter mit älteren Kindern, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Sie war sogar Autismus-Expertin. „Das war ein Sechser im Lotto“, sagt Anja. Ruby wechselte mit der alten Einzelfallhelferin zur Tagesmutter und gewöhnte sich dort ein. Die Gruppe verbrachte viel Zeit im Wald, die Ruhe und die Reizarmut dort taten Ruby sehr gut.
Bald kam die nächste Enttäuschung: Die zweite Einzelfallhelferin ließ sich wochenlang krankschreiben, auch mit ihr mussten sie die Zusammenarbeit beenden. Eine weitere Einzelfallhelferin wollte an ihrem Probetag Ruby nicht auf die Toilette begleiten, weil ihr das zu unangenehm war. „Die meisten Einzelfallhelferinnen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, hatten keine Ausbildung und waren vorher lange arbeitslos gewesen“, erzählt Anja. Es gäbe in diesem Job viele unqualifizierte Quereinsteiger und vielleicht wären ihre Erwartungen an sie auch zu hoch gewesen.
„Die vielen Zeiten, in denen Ruby zu Hause war, haben uns emotional total fertig gemacht“, erzählt Anja. Immer wenn es mit einer Einzelfallhelferin schwierig wurde, konnte sie Nächte lang nicht richtig schlafen und machte sich viele Gedanken. Beide ihre Jobs waren davon abhängig, dass die Betreuung von Ruby funktioniert. Mal blieb ihr Mann zu Hause und ließ sich krankschreiben, damit Anja arbeiten konnte. Doch oft blieb auch Anja zu Hause und versuchte ihre Aufträge nach hinten zu schieben oder am Abend abzuarbeiten. Denn Ruby musste rund um die Uhr beaufsichtigt werden. Außerdem ist sie kein Einzelkind: Im Haushalt leben noch ihre drei Jahre jüngere Schwester und ihr älterer Bruder, mittlerweile ein Teenager. Dass diese angespannte Situation nicht lange gut gehen konnte, war allen klar. „Irgendwann waren wir so erschöpft und haben gemerkt: Alles leidet darunter. Wir haben nur noch Stress.“
Entspannteste Zeit seit langem
War es denn wirklich ein so schwieriger und undankbarer Job, ihre Tochter in die Kita zu begleiten? Das hatte sich Anja in den letzten Monaten oft gefragt. Eigentlich musste es doch Spaß machen, gemeinsam mit den anderen Kindern in den Wald zu gehen. Immer wenn sie Ruby brachte, fühlte sie sich bei der Tagesmutter und den Kindern sehr wohl. „Irgendwann hat es dann bei mir Klick gemacht“, erzählt Anja. „Mir kam der Gedanke: Warum werde ich nicht einfach selbst Einzelfallhelferin?“ Sie schlug diese Idee der Tagesmutter, dem Sozialamt und dem Träger für Einzelfallhilfe vor – rechnete aber fest mit einer Absage. Denn all ihre bisherigen Lösungsvorschläge wurden immer abgelehnt. Doch zu ihrer Überraschung stimmten alle Beteiligten zu. So wurde Anja im März 2024 die Einzelfallhelferin ihrer Tochter. Leicht fiel ihr es nicht, ihren Job vorübergehend aufzugeben: „Meine Arbeit war mir immer sehr wichtig. Das war ein Riesenschritt für mich.“
Doch schon die ersten Tage genoss sie, es war richtig entschleunigend, berichtet Anja. Sonst saß sie tagsüber am Schreibtisch, schrieb Texte und produzierte Ergebnisse. Jetzt saß sie die meiste Zeit im Wald und war einfach nur da. Ohne dass sie etwas auf einer To-Do-Liste abhaken musste. Im Vergleich zu ihrem sonstigen Familienalltag mit Ruby war der Tagesablauf sehr entspannt. Die Tagesmutter kümmerte sich um Tagesprogramm und -struktur, Anja konnte sich auf Ruby konzentrieren. So wurde auch ihre Beziehung zu Ruby gestärkt: Zeit mit Ruby allein kam im Familien-Alltag mit den anderen Kindern sonst oft zu kurz. Es berührte Anja, wenn sie sah, wie Ruby in die Gruppe integriert wurde. Da Ruby nicht spricht, sollte sie lernen, über Bildkärtchen zu kommunizieren. Beim gemeinsamen Liedersingen suchte sie sich zum Beispiel eine Liederkarte aus, die Kinder sangen dann das Lied für sie.
Ihre Zeit als Einzelfallhelferin brachte Anja eine wichtige Erkenntnis: „Ich konnte nicht verstehen, warum es so schwierig sein soll, mit Ruby regelmäßig zur Tagesmutter zur gehen. Jetzt weiß ich: Es ist ein wirklich schöner Job.“ Ihr sei schon klar, dass sie als Mutter eine spezielle Perspektive hätte, weil sie mit Ruby sehr vertraut sei. Aber trotzdem seien die Rahmenbedingungen nicht schlecht, auch im Vergleich zu ihrer sonstigen Arbeit: „Aufgrund meines Hochschulabschlusses bekam ich 21 € pro Stunde. Vorbereitungsstunden, die ich zu Hause machte, konnte ich mir aufschreiben.“ Zudem sei es ein sehr sinnstiftender Job: Als Einzelfallhilfe könne man einen einzelnen Menschen unterstützen und intensiv kennen lernen.
Endlich willkommen
Seit September 2024 ist Anja wieder in ihren alten Job zurückgekehrt. Ruby besucht nun eine Förderschule, an der Kinder mit Behinderung willkommen geheißen und gezielt gefördert werden. Drei ausgebildete Fachkräfte betreuen sie hier in einer Gruppe mit sechs weiteren Kindern. Zusätzlich hat sie noch eine Einzelfallhelferin, die sie sich mit einem anderen Kind teilt. Ruby fühlt sich hier sehr wohl. Jeden Morgen freut sie sich auf die Schule, erzählt Anja. „Als ich sie morgens hingebracht habe, ist sie jauchzend ins Klassenzimmer gelaufen.“ Und auch wenn Ruby nachmittags gegen vier Uhr wieder zurückkommt, sei sie nach dem langen Schultag erstaunlich ausgeglichen.
Die Förderschule ist eine christliche Schule. Sie selbst sei keine Christin, sagt Anja. Doch schon oft habe sie positive Erfahrungen mit christlichen Einrichtungen gemacht, wenn es um ihre Tochter ginge. Auch die engagierte Tagesmutter, bei der Ruby zuletzt war, ist Christin. „Oft sind das Personen, die jeden Menschen einfach so nehmen wie er ist und ihn willkommen heißen“, stellt Anja fest. Das gehe ihr mit Ruby nicht immer so.
Für die nächste Zeit wünscht Anja sich, dass Ruby weiterhin gerne in die Schule geht und die Einzelfallhilfe bleibt. Denn wenn sie irgendwann mal länger ausfallen sollte, sagt die Lehrerin, müsse Ruby zuhause bleiben. Doch sie versucht gelassen zu bleiben, meint Anja: „Wir haben sehr engagierte Lehrerinnen, die sich für Ruby verantwortlich fühlen und gut mit uns kommunizieren.“ Ruby sei gerade gut versorgt.
Sarah Kröger ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Berlin.