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Auf eigenen Füßen – Großfamilie im Konflikt

Elternfrage: „Mich belastet im Umgang mit den Schwiegereltern unseres Sohnes (22) das Gefühl, immer zurückstecken zu müssen. Zum Beispiel, wenn es darum geht, wo mein Sohn und seine Frau die Feiertage verbringen. Was kann mir dabei helfen?“

Diese Frage führt uns in eine Großfamilie, die noch nicht lange in dieser Konstellation besteht: Zwei junge Menschen haben geheiratet und damit treffen zwei Familienkulturen der Herkunftsfamilien aufeinander. Das betrifft aber nicht nur das Paar, sondern auch alle Angehörigen. Unsere Familienkultur prägt unseren Umgang mit Ritualen und Festen, aber auch mit den grundsätzlichen Themen wie Kommunikation und Erwartungen. Da gibt es ein Ehepaar, das gern an den Feiertagen ihren Sohn und seine Frau bei sich haben möchte. Und es gibt ein anderes Ehepaar, das gern zur gleichen Zeit ihre Tochter und deren Ehemann bei sich haben möchte. Um besser verstehen zu können, was in diesem Gesamtsystem „Großfamilie“ vor sich geht und wie sich dafür Lösungen finden lassen, kann man die vier Schritte der Gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg nutzen.

Gewaltfreie Kommunikation

Schritt 1: Was ist passiert? Versuchen Sie, so objektiv wie möglich zu beschreiben, was vorgefallen ist. Als ob Sie einen Film drehen würden, der vor dem inneren Auge abläuft. Wer hat was getan oder nicht getan und in welcher Reihenfolge?

Schritt 2: Welche Gefühle hat das Geschehen bei Ihnen ausgelöst? Es lohnt sich, darüber etwas länger nachzudenken.

Schritt 3: Welche Bedürfnisse stehen hinter den Gefühlen, die Sie entdeckt haben? Man könnte sich selbst auch fragen: Was will ich „eigentlich“? Was treibt mich denn so um, dass ich mich benachteiligt, ärgerlich, verletzt, hilflos oder ähnliches fühle? Wenn Sie bemerken, dass es emotional erstaunlich heftig in Ihnen zugeht, könnte es sein, dass sehr wichtige Dinge wie eine Sehnsucht, eine Überzeugung, ein Grundwert oder Ideal (zum Beispiel von Familie) berührt wurden.

Schritt 4: Formulieren Sie eine Bitte an sich selbst oder an eine andere Person, in der freundlich in Worte gefasst wird, was Sie sich wünschen.

Diese Abfolge von Fragen kann dazu dienen, dass Sie sich besser verstehen und sortieren.

Verständnis füreinander

Eine weitere Übung ist es, diesen 4-Schritte-Ablauf für jede beteiligte Person des Systems einmal zu durchdenken. Natürlich ist da etwas Spekulation dabei, aber sicherlich werden einige Fragen auch leicht zu beantworten sein. Was hat Ihr Ehepartner erlebt? Was hat denn das junge Paar dabei erlebt? Was haben die Eltern der Schwiegertochter erlebt? Gibt es überraschende Erkenntnisse bei dieser Betrachtung?

Der nächste Schritt wäre nun, diese Kommunikation nicht nur im Denken, sondern in der Realität zu führen. Ein „Sag mal, wie geht es dir eigentlich damit, wie wir die Feiertage als Familie verbringen?“ könnte Ihnen vielleicht leichter gegenüber Ihrem Sohn über die Lippen kommen, weil Sie sich vorher über Ihre Gefühle und Bedürfnisse klar geworden sind. Vielleicht kommen auch überraschende Erkenntnisse zutage, wer was gesagt oder nicht gesagt hat; wer welche Gefühle mit sich herumträgt und wer was gern hätte oder erwartet. Dabei können große Unterschiede oder Übereinstimmungen entdeckt werden. Im Idealfall kann sich ein größeres Verständnis für die anderen Beteiligten einstellen. Und vielleicht gelingt es anschließend, eine neue gemeinsame Großfamilienkultur zu leben.

Ursula Hauer leitet den Seelsorge- und Beratungsdienst Feuerbach und lebt mit ihrer Familie in Stuttgart.

Die wahren Gründe hinter dem Streit

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Therapeut verrät: Darum streiten wir wirklich

Wo Menschen zusammenleben, kommt es zu Streit, oft über Kleinigkeiten. Dahinter verbergen sich häufig tiefliegende emotionale Bedürfnisse. Psychotherapeut Jörg Berger erklärt, wie wir ihnen auf die Spur kommen.

Können Sie bei Ihrer Spülmaschine die Tellerhalter einklappen? Dann entsteht Platz, zum Beispiel für große Tassen oder Schüsseln. Vielleicht entsteht auch ein Streit. Meine Frau hat nämlich neulich die Tassen und Schüsseln umgeräumt, die Tellerhalter wieder ausgeklappt und befüllt. Das ist nicht in Ordnung, oder? Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Meine Frau hält dagegen, dass sie gerade öfter die Spülmaschine einräumt. Warum soll sie es dann nicht auf ihre Weise machen, statt sich meinen Vorstellungen anzupassen?

Ich stelle klar: Sie soll sich ja gar nicht meinen Vorstellungen anpassen. Aber wenn ich auf diese Weise anfange, warum kann sie meinen Plan nicht fortführen? Dann wird es grundsätzlicher. Meine Frau empfindet es so, dass ich meine Vorstellungen für wichtiger und besser halte. Ich dagegen empfinde meine Frau einfach als unachtsam, was meine Freiheit und meine Grenzen angeht. Meine Frau wiederum glaubt, dass ich so misstrauisch über meine Freiheit und Grenzen wache, dass es im Alltag unmöglich sei, auf alles so Rücksicht zu nehmen, wie ich es brauche.

Streit um Zahnpasta, Socken und Co.

Lohnt sich ein Streit über Kleinigkeiten? Eigentlich nicht. Aber wir würden uns nicht streiten über die offene Zahnpastatube, die Socken im Bad oder was man Kindern durchgehen lässt, stünden nicht wichtige Themen dahinter. Sobald man die entdeckt, lohnt es sich. Man kann über sie sprechen und liebevolle Kompromisse finden. Das ist leichter, als man ahnt. Dann werden strittige Kleinigkeiten zur Chance, Liebe zu zeigen und zu beweisen, dass man den anderen versteht. Doch wenn das so ist, warum drehen sich manche Konflikte im Kreis? Man streitet schon Jahre und kommt nicht weiter. Das geschieht, weil wir uns mit unseren Schutzmechanismen beschäftigen, statt zu den wunden Punkten vorzudringen, um die es eigentlich geht.

Wenn ich mich schütze, dann werde ich überkritisch. Ohne es zu wollen, unterstelle ich meiner Frau charakterliche und andere Mängel. Meine Frau wiederum wird unnachgiebig. Damit unterstellt sie mir tyrannische Eigenschaften, was sie auch nicht beabsichtigt. Darüber zu streiten ist müßig. Denn uns beiden ist klar: Weder eine übertrieben kritische Haltung noch die Unnachgiebigkeit sind gut. Und auch die Unterstellungen sind nicht berechtigt. Damit muss man sich nicht aufhalten. Ein Eingeständnis, eine Entschuldigung, und es kann weitergehen zu dem, was wirklich spannend ist.

Auf der Suche nach dem wunden Punkt

In vielen Fragen des Alltags sind wir gelassen und großzügig. Wo Dinge jedoch einen wunden Punkt berühren, wird es emotional und vielleicht auch bedrohlich. Meine Lebenswunde besteht darin, dass jemand zwischenmenschliche Spielregeln außer Kraft setzt. Dann bleibt nichts mehr, was mich schützt, was verlässlich ist oder worauf ich mich berufen könnte. Diese Erfahrung bildet einen emotionalen Hintergrund, auf dem ich meinen Alltag erlebe. Regelverletzungen nehme ich rasch wahr und spüre sie auch intensiv. Auch unsere Spülmaschinengeschichte kann man als Regelverletzung wahrnehmen: Wenn einer etwas anfängt, darf es der andere nicht einfach umstoßen. Über wichtige Dinge sprechen wir, Kleinigkeiten darf jeder auf seine Weise machen. Ob hier schon der Ernstfall eingetreten ist, den mein Gehirn ausruft, darüber kann man reden.

Eine Lebenswunde meiner Frau besteht in der Erfahrung, in den eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen und Bedürfnissen unterdrückt zu werden, weil die Vorstellungen des anderen nicht verhandelbar sind. Dann bleiben nur Unterwerfung oder Rebellion und letztere fühlt sich besser an. Auf diesem Hintergrund liegt der Tellerhalter da wie ein Gesetz, das Gehorsam fordert. Wenn man zum wunden Punkt durchgedrungen ist, werden Kleinigkeiten zu Kleinigkeiten, Wichtiges aber kann wichtig genommen werden. Für uns beide ist es nicht wichtig, wie die Spülmaschine eingeräumt wird. Mir ist es sogar egal, solange ich das Gefühl habe, dass in unserer Beziehung verlässliche Spielregeln gelten. Umgekehrt geht meine Frau gern auf mich ein, wenn sie sich dazu nicht gezwungen fühlt.

Der Weg zum Punkt, um den es geht

Am Anfang steht die Neugier: „Bestimmt geht es nicht um eine Kleinigkeit. Es geht um etwas Wichtiges, das dahinterliegt. Hättest du Lust, das mit mir herauszufinden?“ Der nächste Schritt erfordert eine Härte gegen uns selbst, die der gleicht, wenn wir ein verklebtes Pflaster mit einem Ruck abziehen. Alles wehrt sich dagegen. Es schmerzt. Wir opfern ein paar Härchen, doch der Rest des Körpers überlebt. Ähnlich erleben wir es, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit sanfter Gewalt von der Verletzung oder Kränkung wegreißen, die uns der Streit um Kleines zugefügt hat. Genauer gesagt waren es die Schutzmechanismen unseres Partners: Zurückweisung, Kritik, Vorwürfe, Gemeinheiten, Drohungen, Erpressung, Rückzug, Austricksen, Druck machen, Abwertung oder empörend unwahre Behauptungen – das ganze Gruselkabinett von Reaktionen, mit denen wir uns wehren wollen und doch alles schlimmer machen.

Wenn Paare zu mir in die Praxis kommen, wollen sie so gern darin verstanden werden: dass das Verhalten des Partners nicht in Ordnung ist und wie schlimm es ist, das zu erleben. Das halte ich so kurz wie möglich. Denn hier geht es nicht weiter. Das geschieht erst in einem weiteren Schritt.

Worum geht es mir eigentlich in diesem Streit? Was steht hier auf dem Spiel, das mir wichtig ist? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden wach, die ich hinter mir lassen möchte? Welcher Wert ist bedroht, der für mein Leben und meine Liebe unverzichtbar ist? Und vielleicht sogar: Worauf habe ich beim Kennenlernen geachtet, und nun kommt es mir vor, als ob sich ausgerechnet das in unserer Beziehung nicht verwirklichen lässt?

Was wir nie mehr erleben wollen

Diese Fragen führen zu einem wunden Punkt, auf den man im Alltag stößt. Bei anderen Paaren geht es oft um folgende Erfahrungen: „Als Kind war ich oft zu viel mit meinen Bedürfnissen. Ich brauche ein Mindestmaß an Raum bei dir für meine Gedanken, Gefühle und Wünsche. Und ich muss spüren, dass ich dir damit nicht zu viel bin.“ „Ich muss spüren, dass ich dir im Zweifelsfall wichtiger bin als Dinge wie Pünktlichkeit, Ordnung, Projekte schaffen und Geld verdienen. Davon habe ich genug. Meinen Eltern war das oft wichtiger als die Frage, wie es mir geht.“

„Ich bin früher so brutal überfordert worden. In einer Liebesbeziehung muss es okay sein, wenn ich einmal sage: ‚Ich kann nicht mehr.‘ Oder: ‚Das schaffe ich leider nicht.‘“
„Ich kann es nicht mehr ertragen, wenn Liebe an Bedingungen geknüpft ist. Wenn ich Dinge schaffe und so bin, wie es der andere braucht, werde ich geliebt. Ansonsten sehe ich die kalte Schulter oder werde zurückgewiesen.“

„Meine Eltern haben nicht immer zu mir gehalten, gerade wenn es darauf ankam. Ich brauche es heute, dass du zu mir stehst und mir nicht in den Rücken fällst, wenn ich mal einen Konflikt mit deiner Mutter, mit Freunden oder unseren Kindern austrage. Es ist okay für mich, wenn du die Dinge anders siehst als ich, aber nicht, wenn du dann zu den anderen hältst.“ „Ich brauche es unbedingt, dass Menschen heute meine Grenzen achten: wenn ich mich mit etwas nicht wohlfühle oder etwas nicht will. Wer mich dann trotzdem nötigt oder über meine Grenzen hinweggeht, mit dem bin ich fertig. Wenn du das bist, habe ich ein Problem.“

„Ich möchte nie mehr nach starren Normen leben: wie ‚man‘ das macht, wie andere das sehen, was ‚normal‘ ist. Lass mich einfach sein, wie ich bin. Ich liebe dich und ich werde auf meine Weise auf das eingehen, was du brauchst.“

Liebevolle Zeichen setzen

Ein abschließender Schritt führt zu einem lohnenden Ziel. Wenn man Erfahrungen, wie in den Beispielen beschrieben, aussprechen darf und darin verstanden wird, fühlt sich ein Konflikt nicht mehr an wie ein Streit. Im Gegenteil: Er tut unglaublich gut. Dann zeichnen sich auch Möglichkeiten ab, dem anderen ein wenig entgegenzukommen. Ein liebevoller Kompromiss berücksichtigt die wunden Punkte beider und stellt eine Situation her, mit der beide leben können.

Die Spülmaschine ist für uns gerade ein Anlass für Liebe im Alltag. Ich achte darauf, meiner Frau das Gefühl zu geben, dass ihre Herangehensweise genauso zählt. Eine Spülmaschinenphilosophie beantwortet viele Fragen: Was wird vorgespült? Wie sorgfältig puzzelt man, um viel hineinzubekommen? Darf sich in den Mulden der Tassenböden Wasser sammeln oder verhindert man dies mithilfe der schrägen Stellflächen? In alledem vergewissert mich meine Frau, dass unsere Regel „Freiheit in Kleinigkeiten“ weiterhin gilt. Von außen betrachtet könnte das banal wirken. Oder merkwürdig, warum wir an so etwas überhaupt Aufmerksamkeit verschwenden. Doch weil der Alltag hier unsere wunden Punkte berührt, wird er zu einem Ort, an dem wir uns verstehen, unterstützen und Liebe zeigen können – in einer Intensität, die nur versteht, wer unser Geheimnis kennt.

Jörg Berger ist Psychotherapeut und Paartherapeut in Heidelberg. psychotherapie-berger.de/family

Viel Drama um nichts: Wenn Gegensätze sich (nicht nur) anziehen

Wenn Partner sehr unterschiedlich ticken, kann das zu schrägen Streitigkeiten führen. Paarberaterin Ira Schneider sieht darin aber auch Chancen für die Beziehung.

Ich knalle die Autotür ordentlich hinter mir zu und höre mich pampig „Dann fahr doch alleine!“ sagen. Ich verweile noch auf dem Parkplatz. David war nun also losgefahren.

Die Wasserkaraffe

Inhaltlich hatte alles ganz harmlos mit einer von mir ausgeliehenen Wasserkaraffe begonnen. Nun ging es nur darum, wer unsere ausgeliehene Wasserkaraffe zum Auto bringt. Doch dahinter versteckten sich unsere Unterschiedlichkeiten: Meine manchmal zu ausschweifende Gelassenheit, wenn es darum geht, etwas zurückzugeben, und Davids Gewissenhaftigkeit. Ich hatte die Wasserkaraffe versehentlich vor einigen Wochen aus unserer Kirche mitgenommen. Für mich war völlig klar: In unserer Kirche stehen genug Karaffen rum und wahrscheinlich wird sie niemand vermissen, auch wenn sie erst in ein paar Wochen – oder Monaten – wieder auftaucht. Im Ergebnis prallten nicht nur Davids Gewissenhaftigkeit, sondern auch sein Bedürfnis nach Ordnung – und dass die Dinge nicht ewig bei uns rumstehen – und meine Gelassenheit aufeinander.

Ein kleiner Machtkampf

Nun gut. Gerade hatten wir noch diskutiert und versucht, auszuhandeln, wer nun diese große, schwere und wirklich unzumutbare Aufgabe übernimmt, die Wasserkaraffe ganz alleine die 50 langen Meter bis zum Auto zu tragen. Doch wie sind wir eigentlich bei der zuknallenden Autotür gelandet? Das Ganze hatte sich dann nämlich ordentlich hochgeschaukelt. Ich wollte die Karaffe inzwischen gar nicht erst mitnehmen und habe in den Dickkopfmodus gewechselt. David wiederum wollte sie nun umso dringender unbedingt an jenem Sonntag zurückgeben. Wir beide sahen die Aufgabe, sie zum Auto zu tragen, definitiv bei der anderen Person. Ich sah die Verantwortung bei ihm, schließlich wollte er sie ja wegbringen. Er sah sie bei mir, weil ich sie ausgeliehen hatte. Eins stand fest: Keiner war bereit, nachzugeben und sich zu opfern und sie in einem Akt tiefgreifender Selbstaufgabe bis hin zum Auto zu tragen. David erweckte den Anschein, nahm sie in die Hand, schmuggelte sie unterwegs aber vorsichtig und flink in meine Tasche. In meinem grenzenlosen Scharfsinn bemerkte ich dies, ließ die Tasche einfach stehen und ging weiter. Hinter diesem Hin und Her verbarg sich ein kleiner Machtkampf ums Gewinnen und ums Rechthaben. Eigentlich ja ein Konfliktklassiker. Einer, den wir doch längst begraben glaubten. Einer, der uns nicht mehr passieren würde. Unsere Ehe ist doch erwachsen und reif. Wir? Nein. Wir zanken doch nicht unnütz! Wir hängen uns auch nicht an überflüssigen Themen auf. Scheinbar doch!

Und plötzlich haben wir einen Lachanfall

Nun stehe ich da und warte. Ein nicht allzu kleines Fünkchen in mir hofft und wiegt sich in dem Glauben, dass es nur wenige Sekunden dauern wird, bis wir uns wiedersehen. Er fährt sicherlich nur eine Runde um den Block und kommt dann wieder. Er fährt ja nicht wirklich los, denke ich mir. Tatsächlich drehe ich mich zur Seite und er kommt angefahren. Ich steige ins Auto ein und muss schon währenddessen irgendwie schmunzeln, aber ich verkneife mir mein Grinsen noch einen Moment.

Ich will noch einen Blick in sein Gesicht erhaschen und stelle fest, dass er ebenfalls krampfhaft versucht, nicht draufloszulachen. Da sitzen wir beide also und haben einen Lachanfall.

Nur ein wenig Drama

So einen intensiven Konflikt hatten wir lange nicht mehr, dachte ich mir. Aber irgendwas sagt mir, dass der Konflikt gar nicht so tragisch war. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass er künstlich aufgeblasen war; einfach ein wenig Drama. Schon mitten im Konflikt hatte ich den Eindruck, als würde ich uns, wie in einem Kino, von außen zuschauen. Ich fand uns amüsant, lächerlich und sogar etwas kindisch. Als wir einige Tage später nochmal darüber sprachen, berichtete David, dass er das ganz ähnlich wahrgenommen hatte – wie anders der Konflikt war –, verglichen mit einer ernsthaften Streitigkeit. Ich genieße dieses verbindende Gefühl, wenn wir in unserer Ehe eine gleiche Feststellung machen.

Viel geschafft, aber noch nicht fertig

Etwas in uns hatte sich verändert. Vielleicht hat uns der Konflikt sogar ein Stück weit Spaß gemacht. Uns zu zanken, uns zu necken, uns aneinander zu reiben und abzuarbeiten, den anderen als starkes Gegenüber zu erleben und herauszufordern, kann guttun. Konflikte sind immer auch eine Suche nach Verbindung. Wir leben die feste Überzeugung, dass eine Streitkultur gesund, wichtig und notwendig ist. Gutes Streiten ist eine Kompetenz. Es heißt ja nicht umsonst KonfliktFÄHIGKEIT. Eins war mir zumindest klar: Wir hatten dazugelernt. Wir verheddern uns weniger lang im Streit und verlieren die Außenperspektive nicht. Wir können mitten im Streit lachen, weil wir ein gemeinsames Grundverständnis gefunden haben und wissen, dass der Streit nicht die Oberhand behält, sondern dass wir ihn im Griff haben. Wir können uns selbst sogar ein bisschen zuschauen und uns über uns kompetente Zankexperten amüsieren.

Über sich selbst zu lachen und vor allem miteinander zu lachen, ist Gold wert. In dem Moment, in dem das Lachen ausbricht, haben wir nicht nur das beste Rettungsmanöver im Gepäck, sondern können einander feiern und schätzen! Denn wenn ich ehrlich bin, bin ich über Davids Gewissenhaftigkeit und Ordnung an den meisten Tagen überaus froh. Ohne unseren Putzplan, den er erstellt hat, würden wir im Chaos versinken. Ja, unser Anderssein beißt sich manchmal, aber darin liegt gleichzeitig eine riesige Chance. Wir können uns ergänzen, denn wir sind beide genau richtig und gut so, wie wir sind.

Auch wir als Paarberater sehen in Konflikten immer wieder eine Chance, uns langfristig besser zu verstehen. Wir lernen einander ebenfalls immer weiter kennen und auch, unsere Unterschiede zu zelebrieren.

Ira Schneider arbeitet als psychologische Beraterin in einer Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle. Gemeinsam mit ihrem Mann bietet sie Paarberatungen an.

Schwierige (Schwieger-)Eltern: Manchmal ist Abgrenzung nötig!

Die Beziehung zu den (Schwieger-)Eltern ist oft kompliziert, weil unbewusst Macht ausgeübt wird. Paartherapeut Jörg Berger erklärt, wie solche Konflikte entstehen und wie die schwierige Beziehung gelingen kann.

Als ich ein kleiner Junge war, habe ich mir ein Abendgebet ausgedacht, vermutlich nach dem Vorbild von Gebeten, die ich im Kindergottesdienst gehört habe: „Danke für meine guten Eltern und meine Schwester.“ Erst spät ist mir bewusst geworden, dass ich mir auch deshalb gute Eltern bewahrt habe, weil ich mich sehr an sie angepasst habe. Ich war ein braver Junge. Ich habe meine Gefühle für mich behalten und sie stellenweise ganz betäubt. Meine Bedürfnisse habe ich nur dort gezeigt, wo sich meine Eltern nicht von mir gereizt gefühlt haben. Jeden Schritt über diese unsichtbare Grenze hinaus habe ich mit Schlägen, bedrohlichem Schimpfen und Beschämung bezahlt. Gleichzeitig haben meine Eltern Liebe gezeigt, wo sie es konnten. Sie haben ihr Bestes gegeben. Sie haben mir sogar mehr gegeben, als sie selbst als Kinder von ihren Eltern empfangen haben.

Wer Ähnliches erlebt hat, kennt die Last, die Kinder schwieriger Eltern tragen: Wir fühlen uns unendlich schuldig, wenn wir aussprechen, dass wir schlecht behandelt worden sind. Wir zweifeln lieber an uns selbst. Wir suchen verzweifelt nach dem Trick, der uns in die Kinder verwandelt, mit denen die Eltern ganz zufrieden sind und denen sie ihre besten Seiten zeigen können. Es fällt uns heute noch schwer, uns gegen eine schlechte Behandlung zu wehren. Stattdessen gleichen wir lieber aus und verhindern angestrengt ein Scheitern. Bei mir ist es gut ausgegangen. Meine Braver-Junge-Masche hat mir wohlwollende Erzieherinnen und Lehrer, gute Noten, aufgeschlossene Mitmenschen und schließlich eine liebe Frau eingebracht. Mein frühes Interesse für Psychologie – warum wohl? – hat mich in einen Beruf geführt, der mir viel Freude macht. Mit meinen Eltern habe ich einen versöhnlichen Weg gefunden, auch wenn das Kraft gekostet hat und heute vieles nicht möglich ist, was schön wäre. In meiner Praxis begleite ich Menschen, die einen ähnlichen Weg gegangen sind. Eine umfassend schöne Beziehung zu den Eltern ist für viele Menschen nicht möglich. Doch Konflikte befrieden kann man fast immer.

Was Eltern heute noch Macht gibt

Es gibt Eltern, die zu viel Macht ausüben. Um sie soll es im ersten Teil dieser Serie gehen. Dabei spreche ich von „Eltern“ so, als ob beide Grenzen überschreiten, abwerten oder bestrafen würden. Manchmal ist das auch der Fall. Aber häufiger übt nur ein Elternteil Macht aus und das andere ignoriert dies, verharmlost oder unterstützt es sogar. Denn würde das andere Elternteil korrigierend dazwischengehen, gäbe es das Problem für die Kinder so nicht. (Stattdessen gäbe es wohl ein gefährliches Problem in der Ehe der Eltern.) Wenn Sie das mitdenken, kann ich vereinfachend von „Eltern“ sprechen.

Eltern, die Grenzen überschreiten. Manche Eltern können auch ihren erwachsenen Kindern keine Freiheit lassen. Sie haben unverrückbare Vorstellungen: wie Besuche ablaufen, wie man die Welt sieht und wie man lebt. Mit Leidenschaft regieren sie in das Leben ihrer Kinder und Schwiegerkinder hinein. Wenn sich Kinder wehren, werden sie in zähe Diskussionen verwickelt. Deborah (alle Namen wurden geändert und Umstände verfremdet) zum Beispiel könnte die Hilfe ihrer Eltern so gut gebrauchen, seit das dritte Kind da ist. Aber statt Aufgaben so zu erledigen, wie Deborah es braucht, bestehen die Eltern darauf, die Dinge nach ihren eigenen Vorlieben zu erledigen. Statt einer entspannten Zeit auf dem Spielplatz bestehen die Eltern auf Wanderungen, von denen die beiden Großen kaputt und quengelig zurückkommen. Deborah ist nach einem Besuch am Ende. Hat sich das wirklich gelohnt? Es sind zwar viele Aufgaben erledigt, aber Deborahs Nerven liegen blank.

Eltern, die abwerten. Julian hat sich ein dickes Fell wachsen lassen. Sein Vater schätzt Julians Beruf nicht besonders. Er findet wohl seinen Verdienst zu gering und weist ihn immer wieder auf Karrieremöglichkeiten hin. Und dass sein Vater Annika so offen ablehnt, das trifft Julian zutiefst. Der Vater reagiert bei Tisch einfach nicht, wenn seine Schwiegertochter etwas sagt. Nur wenn er ihre Meinung ganz daneben findet, holt er zu einer langen Belehrung aus. Abwertende Eltern stellen sich auf einen Sockel der Überlegenheit. Von dort aus beurteilen sie das Leben der Kinder. Was hinter ihren Maßstäben zurückbleibt, kommentieren sie mit niederschmetternden Worten. Dabei meinen sie es gut. Sie wollen doch nur, dass ihre Kinder und Schwiegerkinder ein gutes Leben haben.

Eltern, die bestrafen. Muss Strafe sein? Das ist schon bei der Kindererziehung fraglich. Doch manchen Eltern liegt es so im Blut, dass sie auch noch ihre erwachsenen Kinder strafen. Sie ziehen sich zurück, wenn sie sich nicht gut behandelt fühlen, und werfen bei ihren Kindern die Frage auf, was sie verbrochen haben. Strafende Eltern binden ihre Zuneigung, ihre Großzügigkeit und Hilfe an das Wohlverhalten der Kinder und entziehen diese, wenn sie einen Grund dafür sehen. Erwachsene Kinder fühlen sich dann durch Liebesentzug und den Entzug von Unterstützung bestraft. Auch stinkige Reaktionen, die demonstrative Bevorzugung von Geschwistern und gezielt verletzende Bemerkungen eignen sich zur Bestrafung. Kein Wunder, dass Kinder ihre Eltern dann wie rohe Eier behandeln und noch heute in der Furcht leben, etwas falsch zu machen.

Eltern und Schwiegereltern liebevoll entmachten

Eltern erwachsener Kinder haben nur die Macht, die ihnen ihre Kinder heute noch geben. Erwachsene Kinder sollten Liebe nicht mit Liebsein verwechseln. Es gibt auch eine starke Liebe, die sich vor Schwächen der Eltern schützen kann. Sie führt erwachsene Kinder auf einen Weg, der sich zunächst verboten, dann aber sehr befreiend anfühlt.

Freiheit vom schlechten Gewissen. Niemals würden sich erwachsene Kinder von anderen bieten lassen, was sie manchmal bei Eltern und Schwiegereltern ertragen. Das liegt an ihrem Gewissen. Eltern zu ehren ist uns tief eingeprägt, auch ohne kirchliche Prägung. Außerdem ist es für schwierige Eltern charakteristisch, dass sie die Schuld bei den Kindern sehen. Deborahs Eltern halten ihre Tochter für undankbar und kompliziert. Und so fühlt sich Deborah auch nach den Besuchen: undankbar und kompliziert. Erwachsene Kinder dürfen sich von solchen Schuldgefühlen frei machen. Sie sind ihren Eltern Wertschätzung schuldig: für die Würde, die im Elternsein liegt, und für das, was sie den Kindern geschenkt haben. Doch erwachsene Kinder schulden Eltern und Schwiegereltern nicht, dass sie unfaires Verhalten ertragen.

Die Angst vor dem „Scheitern“ verlieren. Der Umgang mit den Schwächen anderer wird leichter, wo man sich an folgende Selbstverständlichkeit hält: Wo mich einer fair und liebevoll behandelt, darf er mir nahekommen. Wer das nicht kann oder will, muss damit leben, dass ich einen Sicherheitsabstand wahre. Mit einem gesunden Abstand kann man viele menschliche Schwächen ertragen. Doch in der Beziehung zu Eltern oder Schwiegereltern bedeutet ein Abstand auch ein Scheitern. Denn es ist schön, sich Eltern zu öffnen, ihren Rat zu suchen, längere Besuche zu machen oder sogar Urlaubstage mit ihnen zu verbringen. Es ist verbindend, wenn sich Eltern und Schwiegereltern tatkräftig und finanziell in das Leben ihrer Kinder einbringen, besonders in fordernden Lebensphasen. Wo erwachsene Kinder das nicht mehr zulassen, ist das ein Scheitern. Es schmerzt und macht traurig, selbst wenn klar ist, dass der Preis für die Nähe viel zu hoch ist. Wenn erwachsene Kinder den Mut zum Scheitern aufbringen, gewinnen sie eine Freiheit, die Chancen mit sich bringt.

Die Tür zu einer guten Zukunft offen halten. Erwachsene Kinder, die in ihrem Gewissen frei geworden sind, können Eltern und Schwiegereltern vor die Wahl stellen. Falls diese an unfairem Verhalten und einer ungesunden Beziehung festhalten wollen, geht manches nicht. Doch die Tür zu einer guten Beziehung steht immer offen. Julian hat das etwa so gemacht: „Papa, ich habe ja schon angesprochen, dass du oft nicht reagierst, wenn Annika beim Essen etwas sagt, außer du willst ihr irgendetwas erklären. Du hast vielleicht deine Gründe dafür. Aber Annika fühlt sich damit nicht wohl. Und ich kann das verstehen. Mir tut es auch weh, wenn ich das Gefühl habe, sie wird von dir ignoriert und nicht geschätzt. Ich finde, es ist kein großes Ding, wenn du ab und zu auf sie eingehst. Du könntest nachfragen oder etwas aufgreifen, was sie sagt. Das gehört doch auch zur Gastfreundschaft. Vielleicht siehst du das anders. Dann werde ich aber manchmal allein kommen und auch nicht mehr so oft.“

Erwachsene Kinder wie Julian erobern sich so eine angemessene Macht zurück. In aller Regel geht das gut aus. Plötzlich bewegt sich etwas in der Beziehung. Oft wird es dann sogar für beide Seiten schöner. Manchmal halten Eltern aber an unfairen Ansichten und Verhaltensweisen fest, als ginge es um ihr Überleben. Dann geht manches eben nicht. Vorerst.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut und Paartherapeut in eigener Praxis in Heidelberg (epaartherapie.de). Mehr zum Thema in den nächsten Ausgaben und in seinem Buch „Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Frieden schließen und versöhnt leben“ (Francke).

Streit im Kindergarten

„Meine Tochter (4) streitet sich ständig mit einem Mädchen in ihrem Kindergarten. Laut der Erzieherin handelt es sich dabei um Lappalien, etwa, dass beide zur gleichen Zeit dasselbe Spielzeug haben oder in dieselbe Rolle schlüpfen wollen. Nun setzt es ihr so zu, dass sie manchmal gar nicht in den Kindergarten gehen will. Wie kann ich ihr helfen?“

Zunächst finde ich es wichtig, dass die Gefühle Ihrer Tochter ernst genommen werden. Es mag sein, dass ein Streit um dasselbe Spielzeug oder die Frage danach, wer welche Rolle im gemeinsamen Spiel haben darf, für Erwachsene nach einer Lappalie klingt. Für Kinder in diesem Alter sind solche Fragen aber sehr wichtig. Miteinander spielen und interagieren ist ja die Hauptaufgabe unserer Kinder im Kindergarten. Außerdem verbringen sie dort einen großen Teil ihres Tages. Wenn es immer wieder zu Konflikten mit demselben Kind kommt, dann ist es normal, dass ihre Tochter wenig Lust hat, sich dieser Situation auszusetzen.

UNTERLEGEN ODER STÄRKER?

Sie können noch einmal das Gespräch mit den Erzieherinnen suchen und etwas mehr über die Streitereien zwischen den Mädchen in Erfahrung bringen: Interessant wäre zu wissen, wie diese ablaufen. Finden die beiden gemeinsam Kompromisse oder gibt es ein Ungleichgewicht bei der Frage, wer zurückstecken muss? Welche Rolle nehmen die Erzieherinnen in diesen Konflikten ein? Wie wird zwischen den beiden Mädchen vermittelt? Welche anderen Spieloptionen hat Ihre Tochter im Kindergarten, wenn das Zusammensein mit diesem Mädchen so schwierig für sie ist? Es kann zum Beispiel sein, dass es Ihrer Tochter schwerer fällt, ihren Standpunkt zu vertreten, weil das andere Mädchen besser in der Lage ist, zu argumentieren. Die Spanne der sprachlichen Fähigkeiten geht in diesem Alter weit auseinander. Gerade deshalb werden Konflikte oft auch noch körperlich ausgetragen, was entweder dazu führt, dass Ihre Tochter sich häufig unterlegen fühlt oder aber, dass sie die Stärkere ist und deswegen mit ihr häufiger geschimpft oder sie bestraft wird. In diesem Fall wäre gar nicht der Streit mit dem anderen Mädchen das eigentliche Problem, sondern die Reaktionen der Erwachsenen.

ZU HAUSE ÜBEN

Daneben können Sie Ihre Tochter aber auch zu Hause im Alltag unterstützen: Bei Konflikten zwischen Kindern in diesem Alter geht es ja immer auch um das Erlernen von Verhandeln und von Kompromissbereitschaft. Beides können Sie gut mit Ihrer Tochter üben. Wenn Sie beide unterschiedlicher Meinung über Dinge im Familienalltag sind, ermutigen Sie Ihre Tochter ruhig einmal, ihren Standpunkt auszudrücken und schenken Sie ihr Gehör. Gerade bei Dingen, die Ihnen nicht ganz so wichtig sind, lassen Sie sie auch einmal die Erfahrung machen, dass ihre Worte etwas bewirken können.

Ebenso können Sie Situationen, die im Kindergarten mit dem anderen Mädchen auftreten, zu Hause nachbesprechen. Und Sie können mit Ihrer Tochter zusammen überlegen, welche Kompromisse Ihnen zu den jeweiligen Themen einfallen. So bekommt sie Lösungsideen, auf die sie im Kindergarten zurückgreifen kann.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern– und Familienberaterin (familienberatung-albert.de). Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Kaufungen. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Stolperfalle Harmonie

Harmonie ist grundsätzlich etwas Gutes. Wenn Konflikte aber unter den Teppich gekehrt werden, kommen Menschen ins Stolpern. Von Sandra Geissler

Vor einiger Zeit telefonierte ich mit einer Mutter aus der Schule, um eine Verabredung abzusprechen. Zum Abschied rief sie fröhlich ins Telefon: „Aber immer doch, wir sehen diesen Schatz so gern bei uns! Das ist das einzige Kind, mit dem es wirklich nie Streit gibt. Man merkt gar nicht, dass Besuch da ist!“

Ich legte auf mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unbehagen. Eigentlich ist so ein pflegeleichtes Kind ja wunderbar. Ein Kind, dass sich überall so problemlos einfügt, dass man es gern zu Gast hat. Andererseits wurde mir schlagartig mulmig im Bauch. Ich kenne mein Kind und weiß, dass es sehr wohl potenzielle Konflikt- und Streitsituationen an solchen Spielnachmittagen gibt. Sie fallen nur nicht weiter auf, denn das Kind gibt stets nach und scheut den Konflikt. Sein Bedürfnis nach Harmonie wiegt nahezu immer stärker als der Anlass eines Streites. Mir ist dieses Verhalten wohlvertraut, denn ich bin selbst ein äußerst harmoniebedürftiger Mensch und lasse kaum eine Gelegenheit aus, einen ordentlichen Streit zu vermeiden. Ich freue mich nur sehr bedingt, dass ich diese Eigenschaft offensichtlich mit meinem Kind teile.

EINE EINZIGE STOLPERFALLE

Das Bedürfnis nach Harmonie ist erst mal nur das Bedürfnis nach Einklang, Einvernehmen, nach Eintracht und friedlichem Miteinander. Genau das sind die Bedeutungen des griechischen Wortes „harmonia“. Warum also jubelt mein Mutterherz nicht umgehend, wenn das eigene Kind dieses Bedürfnis in ausgeprägtem Maße hat? Hauptsächlich liegt es wohl daran, dass das Harmoniebedürfnis dazu neigt, sich schlechten Umgang zu suchen. Dann spaziert es mit seinen Freunden Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugnung durch die Lande, und gemeinsam kehren sie emsig alles unter die Teppiche des Lebens, was ihnen an Auseinandersetzungen und Ärgernissen begegnet. Das kann lange gutgehen, und das Leben wirkt hübsch aufgeräumt.

Doch zum einen sind all die Ärgernisse und Auseinandersetzungen nicht einfach verschwunden. Sie schwären leise vor sich hin, nur eben unter dem Teppich. Zum anderen werden die Falten der Teppiche immer höher und steiler von all dem Kehricht, der darunter versteckt wurde. Dann ist das Leben irgendwann eine einzige Stolperfalle. Es sind diese Stolperfallen, die Beziehungen aller Art in ernsthafte Schwierigkeiten und im schlimmsten Fall tatsächlich zu Fall bringen können.

ZUM KLINGEN KOMMEN

Sollte man sich und allen anderen das Bedürfnis nach Harmonie also schnellstmöglich abgewöhnen? Die Bibel gibt mir in solchen Lebensfragen hilfreiche Orientierung. Sie ruft immer wieder zu Eintracht, Vergebung und Sanftmut auf – das finde ich in den Psalmen von David und in den Gleichnissen von Jesus. Auch Paulus schrieb sich in seinen Briefen die Finger wund, um die frühen Gemeinden zu einem harmonischen Zusammenleben zu ermutigen. Die wörtliche Übersetzung von „harmonia“ aus dem Altgriechischen bezeichnet die Vereinigung von Entgegengesetztem zu einem Ganzen. Der Zusammenklang der Verschiedenheiten ergibt im günstigen Fall ein harmonisches Ganzes, bei dem sich alle Beteiligten ernst genommen und wohl fühlen. In diesem Sinn bedeutet Harmonie gerade nicht, dass sich einer oder mehrere ganz zurücknehmen, ihre Bedürfnisse hintanstellen und Streit und Konfliktthemen ausgeblendet werden. Vielmehr geht es darum, einen guten gemeinsamen Weg zu finden, bei dem alle zum Klingen kommen dürfen. Das wäre ein echtes harmonisches Zusammenleben, und danach will ich mich gern sehnen. Diese Sehnsucht macht das gemeinsame Auseinandersetzen mit allen Verschiedenheiten sogar notwendig, damit dem Ganzen am Ende nicht ein wichtiges Teil fehlt. Wenn uns die Bibel zu einem harmonischen Umgang miteinander aufruft, dann macht sie das in dem Wissen, das aus all ihren Teilen spricht: das Wissen um menschliche Begrenztheit und Eitelkeiten, um Schwächen und Eigenheiten. Auf dem Weg zur Einheit muss man sich nicht an die Gurgel gehen, den rechten Glauben absprechen oder gleich die ganz harten Geschütze auffahren. Oder wie meine Mutter meinte, die immer gern den alten Goethe zitierte: „Kinder, liebet einander. Und wenn das nicht geht, dann lasset wenigstens einander gelten.“

DAS RECHTE GLEICHGEWICHT

Auseinandersetzung auf dem Weg zur Einheit braucht Respekt, Barmherzigkeit und jede Menge Gnade. Sie erkennt an, dass das Gegenüber anders denkt, anders tickt, anders fühlt. Es ist kein Kampf um Sieg oder Niederlage, sondern ein wechselseitiges Entgegenkommen, ein Abwägen und gemeinsames Suchen um das rechte Gleichgewicht. Das ein oder andere Mal kann ich nachgeben, weil es mir nicht wirklich viel bedeutet, bei anderen Fragen will ich gehört werden.

Die harmoniebedürftige Mutter eines harmoniebedürftigen Kindes braucht kein mulmiges Gefühl zu haben. Harmonie ist etwas Großartiges, sie gibt der Verschiedenheit Raum und sucht Wege, wie wir alle gut zusammenklingen können. Darum werde ich nicht müde, mein Kind und mich selbst immer wieder zu ermutigen, zu den eigenen Bedürfnissen und Herzensanliegen zu stehen und für sie einzutreten. Das Erlernen von Streitkultur ist nicht nur eine Aufgabe für die konfliktbereiten Krakeeler, sondern gerade auch für die harmoniebedürftigen Stillen. Weil das aber viel Überwindung kostet, üben wir in kleinen Schritten. Weiß ich von einem Konfliktthema oder andauernden Ärgernis, überlegen wir zusammen, wie das Anliegen in gute Worte gefasst und zu Gehör gebracht werden kann. Wir wachsen an kleinen Erfolgen, denn überraschenderweise ziehen sich die wenigsten Menschen beleidigt zurück oder kündigen gar die Freundschaft, bloß weil das Gegenüber eine eigene Meinung vertritt. Nur vom schlechten Umgang müssen wir uns immer wieder bewusst verabschieden. Die Kumpels Konfliktscheu, Drückeberger und Selbstverleugner sind keine Freunde echter Harmonie, denn sie kehren mit den Konflikten auch die Gegensätze unter den Teppich. Und die braucht es doch für das gemeinsame Ganze.

Sandra Geissler ist katholische Diplom-Theologin und zurzeit Familienfrau. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Nierstein am Rhein und bloggt unter 7geisslein.com.

Streit muss sein

Wenn Kinder miteinander streiten, belastet das nicht nur die Nerven der Eltern, sondern oft auch ihre Vorstellung von Familie. Wie mit Streit umgehen? Anregungen von Judith Oesterle

In der Werbung sitzen Familien oft glücklich gemeinsam am Esstisch. Sie unterhalten sich fröhlich und strahlen Harmonie aus. Mit der Sehnsucht nach diesem Idealbild bin ich Mutter geworden. Es war mir nicht wirklich bewusst. Aber es war da. Ich sehnte mich nach einer glücklichen Familie. Nach Harmonie am Esstisch. Nach fröhlichen Gesprächen. Nach Kindern, die gern miteinander spielen. Und in meinem Kopf setzte sich unbewusst der Gedanke fest, dass sich daran zeigt, ob ich eine gute Mutter bin.

Dann wurde ich Mutter. Ich bekam wundervolle Kinder mit viel Energie, großen Gefühlen und einem starken Willen. Meine Kinder waren nicht immer glücklich. Bei uns war es oft alles andere als harmonisch. Die Kinder weinten und schrien und stritten. Und ich wachte aus meinem Traum auf und fühlte mich als Versagerin.

Wenn Kinder rebellieren, sind sie gekränkt oder überfordert

Heute weiß ich, dass ich einem falschen Ideal gefolgt bin. Die Idee, dass ich nur dann eine gute Mutter bin, wenn immer Harmonie herrscht, darf ich zur Seite legen. Und mir anschauen, wie Familie auch ist. Für mich war es wichtig zu lernen, dass Kinder Teamplayer sind. Sie wollen mit uns kooperieren. Und sie wollen untereinander kooperieren. Wenn sie das nicht tun, hat das in der Regel zwei Gründe: Sie fühlen sich gekränkt. Oder sie sind überfordert.

Diese Überforderung kann aus der Situation heraus entstehen. Weil das Geschwisterkind etwas weggenommen hat, was man selbst möchte. Weil das Geschwisterkind etwas gesagt hat, was man nicht versteht. Diese Überforderung kann aber auch ohne Zusammenhang mit der Situation sein. Weil das Kind einen anstrengenden Schul- oder Kindergartenvormittag hatte. Weil es müde ist. Weil es Hunger oder Durst hat. Weil es zur Toilette muss.

„Bevor du einen Streit beginnst, überlege dir, ob du müde bist, Hunger oder Durst hast oder zur Toilette musst.“ In diesem Satz liegt so viel Wahrheit. Wenn diese körperlichen Bedürfnisse gestillt sind, können wir besser mit herausfordernden Situationen umgehen. Das gilt sowohl für uns als auch für unsere Kinder.

Drei Wahrheiten über Geschwisterstreit

1. Es ist normal, dass Geschwister streiten.
Forscher haben herausgefunden, dass es unter Geschwistern bis zu sechs Auseinandersetzungen in der Stunde gibt. Klingt nach viel. Ist aber normal. Wenn deine Kinder so häufig streiten, sagt das also nichts darüber aus, ob Sie eine gute Mutter oder ein guter Vater sind.

2. Es ist wichtig, dass Geschwister streiten.
Geschwisterstreit ist Training fürs Leben. Beim Streiten lernen die Kinder, wie man sich auf Regeln einigt, wie man verschiedene Interessen unter einen Hut bringt, wie man Kompromisse eingeht, wie man Verhandlungen führt und wie man in schwierigen Situationen gute Lösungen findet. Streit ist ein wichtiger Teil der Moralentwicklung, da es beim Streit oft um Fairness, Teilen und Gerechtigkeit geht. Häufig streiten Kinder um eine Sache: Wer darf mit dem einen bestimmten Playmobil-Männchen spielen? Wer bekommt den letzten Keks? Wer darf auf den Eckplatz beim Sofa? Egal, worum es geht: Wenn wir den Streit gut begleiten, bietet er eine enorme Chance!

3. Ein Streit muss nicht schnellstmöglich beendet werden.
Unsere Aufgabe als Eltern ist es nicht, den Streit so schnell wie möglich zu beenden, sondern ihn zu begleiten und die Kinder in ihrem Lernprozess zu unterstützen. Wie machen wir das am besten?

Sechs Tipps: So können Eltern mit Streit umgehen

  • Ruhig bleiben und die Kinder beruhigen: Einen Streit kann ich nur dann gut begleiten, wenn ich selbst ruhig bin. Deshalb mein Überlebenstipp: Bevor Sie zu Ihren streitenden Kindern gehen, atmen Sie tief durch, sammeln Sie sich und sagen Sie sich: „Alles ist gut. Es ist normal und wichtig, dass Kinder streiten.“ Dann gehen Sie hin und beruhigen Sie Ihre Kinder. Nehmen Sie sie in den Arm. Trocknen Sie die Tränen.
  • Allen Parteien zuhören: Hören Sie Ihren Kindern zu. Und das möglichst wertfrei. Es passiert uns so leicht, dass wir eine Situation vorschnell bewerten und die Kinder in Täter und Opfer einteilen, bevor wir überhaupt wissen, was passiert ist. Deshalb: Hören Sie zu! Fragen Sie, was passiert ist! Nehmen Sie sich Zeit!
  • Beschreiben, was passiert ist: Nach dem Zuhören hilft es, wenn wir in Worte fassen, was passiert ist: „Ach so. Du wolltest einen Polizeieinsatz spielen und brauchst dafür ganz viele Männchen. Und du wolltest, dass die Männchen einen Ausflug zum Zoo machen. Stimmt das?“ Wenn unsere Beschreibung richtig ist, kommt oft ein erleichtertes „Ja!“. Wenn sie falsch ist, melden uns das unsere Kinder sofort zurück. Und wir dürfen noch einmal eine Runde zuhören.
  • Regeln und Werte ansprechen: Wenn sie sich gehört fühlen, sind die Kinder oft bereit, zu hören, welche Regeln uns wichtig sind. Zum Beispiel, dass wir nicht möchten, dass ein Kind dem anderen wehtut.

Lösungen erarbeiten

  • Lösungen erarbeiten: Fühlen sich die Kinder gesehen und gehört, kommen sie oft auf wunderbare Lösungen. Wenn sie es allein nicht schaffen, können wir ihnen mit Fragen helfen: „Wie könntet ihr das denn am besten machen, dass beim Polizeieinsatz genügend Männchen dabei sind und der Zoo trotzdem viele Besucher hat?“ Vielleicht fällt den Kindern ein, dass in einer Kiste noch mehr Männchen sind. Vielleicht können sie einen Kompromiss eingehen und jeder bekommt nur ein paar Männchen. Oder vielleicht tun sie sich zusammen und spielen zuerst gemeinsam den Polizeieinsatz und danach den Zoobesuch. Das Wunderbare ist: Fühlen sich Kinder in ihrer Not gesehen, sind sie wieder in der Lage, miteinander zu kooperieren.
  • Lösungen umsetzen: In der Regel können wir uns an diesem Punkt zurückziehen. Und die Kinder können ihre Lösung selbst umsetzen.

Ist es jetzt also absolut falsch, wenn ich mich nach der Familie aus der Werbung sehne? Nein. Dieses Ideal darf sein. Und wir dürfen solche Harmonie-Momente genießen. Wir dürfen aber genauso wissen, dass es in jeder Familie auch diese anderen Situationen gibt. Und das ist gut so.

Judith Oesterle lebt mit ihrer Familie in Baden-Württemberg. Sie ist Sonderschul-Lehrerin, Coach für Mütter und bloggt unter judithoesterle.de und auf Facebook: JudithOesterle.inVerbindung

Alles falsch gemacht?

Wenn das Verhalten eines Kindes Fragen aufwirft, stellen sich Eltern schnell die Frage, ob es ihre Schuld ist. Stefanie Böhmann ist überzeugt, dass diese Frage nicht weiterhilft.

Unser Sohn kam in die erste Klasse. Nach einigen Wochen war er nachmittags nach Schule und Hort so empfindlich, dass er ganz schnell die Beherrschung verlor. Es ging so weit, dass er teilweise wie ein Löwe brüllte und mit seinem Kopf gegen die Wand donnerte. Schnell kam in mir die Frage auf: Was habe ich falsch gemacht? Ist es richtig, dass ich wieder angefangen habe zu arbeiten? Was hat unseren Sohn so verunsichert, dass er nur noch die Möglichkeit sieht, mit dem Kopf wortwörtlich durch die Wand zu rennen? Hilft es, sich die Frage zu stellen, ob man etwas falsch gemacht hat? Eins ist klar: Die Symptome sind ein Schrei des Kindes, dass es ihm nicht gut geht und es Hilfe braucht.

JEDER MACHT FEHLER

Als Lehrerin erlebe ich in der Schule oft, dass Kinder, wenn sie Auffälligkeiten zeigen, noch mehr Stress zu Hause bekommen, weil sich die Eltern mit der Lage überfordert fühlen. Statt Liebe entsteht Abneigung. Dabei braucht es ein Aufeinanderzugehen und ein neues Miteinander, das nach Lösungen ringt. Cathy und Daniel Zindel fassen das in ihrem Buch „Man erzieht nur mit dem Herzen gut“ so zusammen: „Jeder von uns macht Fehler, und wir brauchen Korrektur und Ergänzung. In einer Familie geht es nicht primär um Erziehung, sondern um Beziehung.“ Suche ich selbst die ganze Zeit danach, was ich falsch gemacht habe, bin ich gefangen in einem Gedankenkarussell, das mich in die Isolation und nicht in die Beziehung führt. Ich darf und muss mir als Mutter und Vater bewusst sein, dass ich Fehler mache und gemacht habe. Aber wenn ich sie zur Sprache bringe und um Vergebung bitte, führt dieser Prozess in die Freiheit und in den Austausch. Und: Meine Kinder lernen von mir, wie man mit Fehlern umgehen kann.

INS GESPRÄCH KOMMEN

Als Eltern sind wir Vorbilder für unsere Kinder. Sie lernen und schauen von uns ab. Und das passiert bei jedem Kind mit seiner eigenen Wahrnehmung. Unser Sohn rülpste neulich ziemlich laut, und ich ermahnte ihn. Da grinste er: „Mama, das machst du auch. Und in der Öffentlichkeit weiß ich, wie man sich verhält.“ Im Vertrauen darauf habe ich mich geschlagen gegeben. Er hatte Recht. Wie gut, dass wir gesprochen haben. So lernen auch unsere Kinder, dass sie Fehler machen dürfen und es wichtig ist, darüber zu sprechen. Das nimmt viel Druck aus Beziehungen und bringt uns ins Gespräch. Ich freue mich immer wieder über unsere sechzehnjährige Tochter. Wenn sie sich nicht sicher ist, ob sie richtig gehandelt hat, fragt sie nach. Im Gespräch konnten wir schon manchen für sie gefühlten Elefanten als kleines Mäuschen entlarven und dem schlechten Gewissen den Wind aus den Segeln nehmen.

VERANTWORTUNG ÜBERNEHMEN

Kinder sollen in Verantwortung mit hineingenommen werden und das Gefühl bekommen, dass sie gehört werden und wichtig sind. Natürlich tragen Vater und Mutter die Hauptverantwortung, aber uns ist es wichtig, dass auch unsere Kinder – zum Beispiel durch Dienste im Haus – Verantwortung mittragen. Und dass sie lernen, mit Konsequenzen umzugehen, wenn sie der Verantwortung nicht gerecht werden. Natürlich nur solche Konsequenzen, die vorher gemeinsam festgelegt wurden. Der sonntägliche Familienrat gibt uns eine gute Plattform, um uns gegenseitige Rückmeldung zu geben, wie wir mit der jeweiligen Verantwortung umgegangen sind. Und wenn unsere Tochter dann bei der Anerkennungsrunde feststellt, dass sie nicht weiß, was sie mit einem Elternteil überhaupt Besonderes in der Woche erlebt hat, bringt mich das auch zum Nachdenken. Dann überlege ich, wie ich meiner Rolle als Mutter wieder mehr Gewicht geben kann, um meiner Verantwortung gerecht zu werden.

EINE PLATTFORM ZUM AUSTAUSCH

Die Wahrnehmung unserer Kinder ist unterschiedlich. Das hängt aber auch von den unterschiedlichen Entwicklungsphasen ab, in denen sie sich befinden. Im Alter von vier und fünf Jahren dreht sich beispielsweise alles darum, wahrgenommen und bewundert zu werden. Die Kinder sehnen sich nach Strukturen, die ihnen Halt und Sicherheit geben. Dagegen merken Jugendliche ab 13 oder 14, dass andere Menschen Schwachpunkte haben. Und sie fangen an, Rituale in Frage zu stellen, die bis dahin Gültigkeit hatten. Aber in jeder Altersgruppe brauchen sie eine Plattform zum Austausch innerhalb der Familie. Um auf das Beispiel vom Anfang zurückzukommen: Unserem Sohn fehlten damals Halt, Strukturen und Sicherheit. Er war den ganzen Tag in der Schule angespannt, weil er Mitschüler hatte, die ihn ärgerten, sodass er nachmittags ein Ventil brauchte, um all die Anspannung rauszulassen. Er bat darum, vom Hort abgemeldet zu werden, weil es ihm zu viel wurde. Als wir das in die Tat umsetzten, wendete sich das Blatt schlagartig. Er wurde ausgeglichener und ruhiger. Heute als vierzehnjähriger Teenager freut er sich über jede Möglichkeit, mit Gleichaltrigen unterwegs sein zu können und nicht mehr zu Hause sitzen zu müssen.

DIALOG AUF AUGENHÖHE

Und nicht nur von den Entwicklungsphasen ist das Erleben und Verhalten eines Kindes abhängig, sondern auch davon, wie unsere Kinder ein Geschehen beurteilen. Das haben wir als Eltern nicht in der Hand. Sie beurteilen mit ihrer momentanen Gefühlslage, mit ihrem Gewordensein und ihrem Blick auf sich selbst. Um herauszufinden, was sie zu einem bestimmten Verhalten bewegt, hilft es nicht weiter, sich die Schuld zu geben, sondern den Dialog auf Augenhöhe zu suchen. Wir Eltern sind keine Superhelden, sondern Begleiter, Gesprächspartner und Ermutiger. Mit unseren Fehlern, Stärken und Schwächen können wir unserem Kind auf seinem Weg helfen, den eigenen Platz im Leben zu finden, Interesse an anderen zu entwickeln und einen eigenen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft zu leisten. Dafür brauche ich als Elternteil lediglich die Überzeugung, dass in jedem Kind etwas Gutes und Potenzial steckt, das es zu entfalten gilt. Dann kann es richtig laufen.

Stefanie Böhmann ist Pädagogin und individual-psychologische Beraterin. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Raus aus dem Teufelskreis: So beenden Sie die Machtkämpfe mit Ihrem Kind

Schwierige Phasen kennen wohl alle Mütter und Väter. Aber manche Kinder fordern ihre Eltern dauerhaft heraus. Pädagogin Sonja Brocksieper kennt diese Situation.

In deinem Buch „Mit Liebe bewaffnet“ geht es um herausfordernde Kinder – so heißt es im Untertitel. Was verstehst du darunter?
Das ist eine Umschreibung für das klassische „schwierige Kind“. Wir reden ja im Alltag schnell davon, dass unsere Kinder schwierig sind. Dann bekommen Kinder einen Stempel, dass sie nicht okay oder falsch sind. Mit dem Begriff„herausfordernde Kinder“ versuche ich, diesen Umstand etwas anders zu beschreiben. Es geht um Kinder, die nicht der Norm entsprechen, die ein bisschen anders ticken als andere und dabei aber nicht schlechter oder besser, sondern einfach anders sind. Sie bringen ihre Eltern an ihre Grenzen und fordern sie heraus, weil sie nicht in ein Schema passen.

Welche Art von Herausforderungen würdest du darunter fassen?
Das kann ganz vielschichtig sein. Es fängt an bei kleineren Dingen, zum Beispiel, dass die Persönlichkeit des Kindes anders ist als meine. Das ist ja herausfordernd, wenn mein Kind zum Beispiel sehr extravertiert ist, und ich selbst eher introvertiert bin. Die Kommunikation fällt schwerer, ich kann mich nicht so gut in mein Kind hineinversetzen und verstehe nicht so gut, wie es die Welt wahrnimmt. Es geht aber auch um Kinder, die eine Diagnose, Beeinträchtigung oder Behinderung haben oder die vielleicht eine Vorgeschichte mitbringen, weil sie Pflegekinder sind.

„Wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie“

Man hört immer wieder Stimmen, die Kinder heute seien so schwierig, weil die Eltern sie zu sehr verwöhnen und keine Grenzen setzen. Siehst du das auch so?
Das trifft vielleicht auf manche Eltern zu. Wenn Eltern ihre Kinder zu sehr in Watte packen, ihnen alle Herausforderungen aus dem Weg räumen und Kinder völlig grenzenlos aufwachsen, kann das zu unreifen Verhaltensweisen der Kinder führen. Diese Eltern meinen es gut, wenn sie den Kindern alles ermöglichen. Aber das Bedürfnis des Kindes ist ja auch, selbstwirksam zu sein und herausgefordert zu werden. Einen verwöhnenden Erziehungsstil halte ich durchaus für problematisch, wenn sich das Kind in der Folge als das Zentrum der Welt empfindet. Aber ich würde es nicht darauf reduzieren, dass Kinder nur aus diesem Grund auffällige Reaktionen zeigen.

Ich glaube vielmehr, dass ein großer Teil der Schwierigkeiten in der Eltern-Kind-Beziehung darin liegt, dass die Liebe der Eltern nicht ankommt. Die meisten Eltern würden sagen: Ich liebe mein Kind. Aber aus unterschiedlichen Gründen fühlt ein Kind diese Liebe nicht. Und wenn der Liebestank der Kinder leer ist, rebellieren sie. In der Folge gibt es immer mehr Machtkämpfe und Reglementierungen der Eltern. Und dann sind nicht fehlende, sondern zu viele Grenzen das Problem. Es gibt also beide Seiten.

Viele Eltern kennen ja Zeiten, in denen sie ihr Kind als sehr anstrengend und herausfordernd erleben. Aber wie lang kann so eine Phase sein? Und wie merke ich, dass es ein eher grundsätzliches Problem ist?
Es ist völlig normal, dass es mal hakt oder man hier und da keinen Zugang zum Kind bekommt. Problematisch wird es, wenn das über mehrere Wochen geht und sich überhaupt nichts verändert. Wenn die Familienatmosphäre nur noch von Kampf und Streit belastet ist und man keine schönen Momente mehr haben kann. Wenn der Alltag davon dominiert wird, dass man von einem Machtkampf in den nächsten rutscht und nicht in der Lage ist, eine schöne Kuschelzeit zu haben oder einen schönen Tagesausflug zu genießen, weil es immer in Konflikte ausartet – dann gibt es einen dringenden Handlungsbedarf.

Machtkämpfe sind ein Teufelskreis

Du schreibst im Buch von einem Teufelskreis. Was meinst du damit?
Das ist eine Spirale, die sich immer mehr abwärts dreht. Da ist das Kind, das ein bisschen anders reagiert, als man sich das wünscht. Darauf reagiert man als Eltern und setzt eine Grenze. Meistens sind damit auch unangenehme Gefühle verbunden, die wir als Eltern haben. Dann reagiert das Kind darauf und protestiert, denn kein Kind bekommt gern Grenzen gesetzt. Auf diese Reaktion des Kindes reagiere ich wieder als Mutter oder Vater und bin genervt. Daraus entwickelt sich ein Machtkampf. Wenn das immer weiter läuft und wir keinen Ausstieg finden, werden die Emotionen auf beiden Seiten immer stärker. Und das Kind hat das Gefühl: Ich kann es meinen Eltern nie recht machen.

So habe ich das mit meinem Sohn auch erlebt. Wenn ich schwierige Momente mit ihm hatte, dachte ich: Wenn ich jetzt eine klare Grenze setze und ihm sage, wo es langgeht, dann wird er das schon verstehen. Aber es hat dazu geführt, dass er sich noch unverstandener gefühlt hat. Denn wenn die Grenzen zu eng werden, bekommt man keine Luft mehr. Und dann signalisieren die Kinder: Ich bin unzufrieden, ich fühle mich nicht gesehen, ich fühle mich nicht angenommen, ich darf nicht so sein, wie ich bin. Und dann reagieren sie mit Rückzug oder Rebellion.

Konflikte und Liebe schließen sich nicht aus

Welche Schritte sind nötig, um aus dieser Spirale rauszukommen?
Der entscheidende Punkt ist, dass Eltern die Verantwortung übernehmen und ihr Kind so annehmen, wie es ist. Mein Kind darf so sein mit seinen Besonderheiten und Charaktereigenschaften, die herausfordern. Ich selbst konnte diese Spirale durchbrechen, indem ich die bewusste Entscheidung getroffen habe, dass meine Liebe nicht von dem Verhalten meines Sohnes abhängig sein sollte. Wenn es Konflikte gegeben hat, habe ich trotzdem auch Grenzen gesetzt, wenn es nötig war, aber weniger in diesem Machtkampf-Modus.

Und es gab einige Momente, wo ich nach Konflikten zu ihm gesagt habe: „Auch wenn wir jetzt verschiedene Meinungen hatten, bist du trotzdem mein Kind. Ich hab dich trotzdem lieb und stehe zu dir. Und wir finden einen Weg.“ Mir war wichtig, dass er sicher sein kann, dass ich ihn lieb habe, auch wenn wir gerade Ärger haben. Das hat langfristig etwas verändert. Wir haben es dadurch geschafft, wieder auf eine warmherzige Beziehungsebene zu kommen.

Liebe ist eine Entscheidung

Aber wenn es mir schwerfällt, mein Kind zu lieben, weil es mich nervt oder wütend macht – was kann ich dann tun? Gefühle kann ich ja nicht „machen“.
Es ist richtig, dass man Gefühle nicht „machen“ kann, aber Liebe ist zunächst eine Entscheidung. Und wenn das am Anfang schwerfällt, würde ich empfehlen, dass man mit jemandem darüber redet, der einen unterstützt und vielleicht auch seelsorgerlich begleitet. Ich bin überzeugt, die Gefühle werden hinterherkommen. Das ist ein Prozess. Und wenn sich dann etwas verändert, kommen auch die Momente, in denen man wieder Liebe empfinden kann. Wenn das nicht funktioniert, muss man ein bisschen tiefer hingucken. Ich habe in meinem Buch ein paar Blockaden oder Hindernisse beschrieben.

Wenn man gar keinen Zugang zu seinen Gefühlen bekommt, kann das vielleicht an Erfahrungen aus der eigenen Kindheit liegen. Wenn man selbst als Kind eine unsichere Bindung hatte, dann wird es schwer, eine sichere Bindung zum eigenen Kind aufzubauen. Genauso können negative Glaubenssätze eine gesunde Eltern-Kind-Beziehung verhindern. Wenn man trotz der Entscheidung, sein Kind anzunehmen, überhaupt nicht weiterkommt, ist es wichtig, mithilfe von Seelsorge oder Beratung den Ursachen auf die Spur zu kommen.

Du hast gerade beschrieben, dass du deinem Sohn einerseits Grenzen gesetzt, ihm aber auch vermittelt hast, dass du ihn liebst. Ich glaube, das ist für viele Eltern ein schwieriger Spagat zwischen schimpfen und kuscheln.
Ich finde, man kann auch mal schimpfen. Man kann auch mal sauer sein. Die Kinder können durchaus mitkriegen, dass man sich ärgert. Aber es muss aufgelöst werden, man darf in diesem Ärger nicht drinbleiben. Das hat etwas mit Vertrauen zu tun und dass ich dem Kind vermittele: Ich meine es gut mit dir, vertrau mir. Du wirst nicht immer alles verstehen, was ich mache, aber du bist mir wichtig.

Was hat dir geholfen?

Gab es in der Beziehung zu deinem Sohn eine Sache, die dir so richtig geholfen hat?
Ja, es gab einen Schlüsselmoment bei einem Seminar der Beratungsorganisation Team.F, wo ich vor vielen Jahren als Teilnehmerin war. Da erzählte eine Mitarbeiterin von ihrer angespannten Mutter-Tochter-Beziehung. Diese Mitarbeiterin hat beschrieben, wie sie in eine gute Beziehung kommen konnte. Das hat mein Herz tief berührt und ich habe die wichtige Entscheidung getroffen: Ich nehme mein Kind so an, wie es ist. Als Christin hat mir in den Jahren danach außerdem ein Bild immer wieder geholfen: Nämlich, dass mich Gott bedingungslos liebt, obwohl ich Fehler mache und manchmal Wege wähle, die ihm vielleicht nicht gefallen. Ich glaube, dass Gottes Herz trotzdem für mich immer offensteht und auch seine Arme weit offen sind. Dieses Bild hat mich immer wieder motiviert. So wie Gott uns Menschen liebt, möchte ich auch als Mama meinem Kind begegnen. Das ist für mich das perfekte Vorbild für Elternschaft.

Das Interview führte Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT.

Sonja Brocksieper ist Diplom-Pädagogin. Sie lebt mit ihrer Familie in Remscheid, bietet Vorträge und Seminare zu Erziehung und Familie an und ist Mitarbeiterin bei Team.F sowie Dozentin an der TEAM.F-Akademie. Gerade ist ihr Buch erschienen: „Mit Liebe bewaffnet. Wie wir unsere herausfordernden Kinder annehmen“ (SCM Hänssler). sonja-brocksieper.de