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Wochenbettdepression bis Psychose: Wenn die Tage nach der Geburt zur Zerreißprobe werden

Sarah, Beatrice und Anna hatten nach der Geburt ihres Kindes mit psychischen Krankheiten zu kämpfen. Lisa-Maria Mehrkens erzählt ihre Geschichte.

Sarah wurde nach langem Kinderwunsch endlich schwanger. Doch bereits im dritten Monat wurde Schwangerschaftsdiabetes bei ihr festgestellt. Sechs Monate lang musste sie sich mehrmals täglich Insulin spritzen. Für sie eine schwere Zeit voller Überwindung, Angst, Schmerzen, Tränen, die sie für ihr Kind erträgt. Innerlich plagen sie Zweifel: „Ohne Kind keine Nadeln, dieser Gedanke war permanent in meinem Kopf. Ich versuchte, das Kind dafür nicht zu hassen. Es konnte ja auch nichts dafür! Oder?“

Die Geburt ging schnell, aber ständige Hebammenwechsel, das schmerzhafte und langwierige Nähen eines Dammrisses, Beschimpfungen durch den Arzt und ihr neugeborener Sohn, der weit weg von ihren Armen schreiend unter der Wärmelampe lag, ließen Sarah nur Überforderung fühlen. Auch mehrere Monate nach der Geburt wartete sie vergeblich, dass sich Liebesgefühle für ihr Kind einstellten. Erst nach drei Jahren suchte Sarah sich Hilfe, um die Beziehung zu ihrem Sohn zu retten – viel zu spät, wie sie selbst bekennt.

Was ist eine nachgeburtliche posttraumatische Belastungsstörung?

So wie Sarah ergeht es etwa ein bis zwei Prozent aller Frauen in Deutschland, bei denen schwierige Schwangerschaftsverläufe und traumatische Geburten zu starken psychischen Beeinträchtigungen im Wochenbett führen. Die Dunkelziffer von Frauen, die nach der Geburt unter quälenden Gedanken und Alpträumen leiden, ist weitaus höher. Experten sprechen von einer „nachgeburtlichen posttraumatischen Belastungsstörung“. Dabei ist es unwichtig, ob Schwangerschaft und Geburt nur subjektiv als besonders belastend erlebt wurden oder auch objektiv schwierig waren, etwa durch einen Kaiserschnitt oder wenig einfühlsame Geburtshelfer. Wiederkehrende negative Erinnerungen an die Geburt, Schlafstörungen, Gereiztheit und das Vermeiden aller mit der Geburt verbundenen Aktivitäten, wie Sexualität mit dem Partner oder Körperkontakt mit dem Kind, können die Folgen sein. Häufig fällt es Betroffenen schwer, sich die mangelnden Liebesgefühle zu ihrem Kind einzugestehen.

Wann wird der Baby Blues zur Krankheit?

Doch auch ohne schwierige Schwangerschaft oder eine als traumatisch erlebte Geburt können psychische Erkrankungen im Wochenbett auftreten. Sie entstehen meist durch eine Kombination aus genetischen, hormonellen, psychischen und sozialen Einflüssen, zum Beispiel Vorerkrankungen, familiäre Häufungen, die Hormonumstellung im Wochenbett, eine zu geringe Unterstützung durch das Umfeld oder auch ein zu hoher Erwartungsdruck der Mutter an sich selbst.

Etwa 50 bis 70 Prozent aller Mütter kennen den „Baby Blues“ ein paar Tage nach der Geburt: Durch Hormonumstellungen kann es zu häufigem Weinen, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung sowie Konzentrations-, Appetit- und Schlafstörungen kommen. Verschwinden diese Symptome nach spätestens zwei Wochen nicht von allein, könnte es sich um eine Erkrankung handeln, die einer Behandlung bedarf.

Depression nach der Geburt

So erging es Beatrice, die zweimal nach der Entbindung ihrer Söhne an einer mehrmonatigen Depression erkrankte. Sie musste häufig weinen, litt an Übelkeit und Erschöpfung, konnte kaum schlafen und essen. Das erschwerte auch den Aufbau von Nähe zu ihren Kindern: „Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag. Ich hatte Angst, nie eine glückliche Mutter werden zu können.“ Ihre Familie und Freunde unterstützten sie durch Gebet und praktische Hilfe. Doch erst Medikamente, ein Klinikaufenthalt und eine Psychotherapie brachten nach einigen Monaten Besserung.

An einer nachgeburtlichen Depression wie bei Beatrice leiden ungefähr 10 bis 15 Prozent aller Mütter. Symptome treten bei manchen schon während der Schwangerschaft, bei anderen erst bis zu einem Jahr nach der Geburt auf. Antriebsschwäche, Lustlosigkeit, innere Leere und Traurigkeit, Appetit- und Schlafstörungen sowie Konzentrationsschwäche sind nur einige Anzeichen. Sehr belastend erleben viele Mütter das Gefühl, ihr Kind nicht richtig zu lieben, und das damit verbundene schlechte Gewissen. Manchmal geht die Krankheit mit starken Ängsten oder Zwängen einher.

Daraus können eigene Erkrankungen entstehen, die betroffene Frauen und ihr Umfeld stark belasten und einen normalen Alltag unmöglich machen. Dadurch denken manche Mütter sogar an Selbstmord. Die seltenste und schwerste Form der nachgeburtlichen Erkrankungen ist die Psychose, die etwa ein bis zwei von 1.000 Müttern betrifft. Symptome zeigen sich meist in den ersten vier Wochen nach der Entbindung. Dazu zählen unrealistische, extreme Ängste, Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die meist auf das Kind bezogen sind und eine große Gefahr für Mutter und Kind darstellen.

Eine Psychose lähmte Anna

Anna erkrankte nach der Geburt ihrer Tochter an einer solchen Psychose. Das Wochenbett verbrachte sie ohne Kind in der Psychiatrie. Es folgten mehrere Klinikaufenthalte mit und ohne Kind sowie eine ambulante Psychotherapie. Anna durfte ihre Tochter eine Zeit lang nicht allein sehen, wurde vorübergehend für nicht geschäftsfähig erklärt, ihr Mann zu ihrem Vormund bestimmt. Sie erhielt viel Unterstützung und Kraft von ihrem Umfeld durch Gebet, Gespräche und praktische Hilfe.

Doch die notwendigen Medikamente hatten Nebenwirkungen: „Die Tage waren lang und zäh und kosteten mich unglaublich viel Kraft. Ich hatte an nichts mehr Freude oder Spaß. Ich fühlte mich wie erschlagen, ständig müde und überfordert von allem und jedem. Ich dachte, meine Tochter nicht genug zu lieben. Sie ging mir auf die Nerven und ich musste aufpassen, sie nicht zu schlagen. Ich überlegte, ob meine Familie ohne mich besser dran wäre und ob ich mir etwas antun sollte“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Ein erster Versuch, die Medikamente abzusetzen, brachte die Psychose zurück. Bis heute muss Anna Medikamente nehmen und ist nur eingeschränkt arbeitsfähig.

Erkrankung rechtzeitig erkennen

Viele Betroffene schämen sich für ihre Erkrankung oder haben Schuldgefühle und sprechen nicht darüber. Doch bei etwa 20 bis 30 Prozent der Mütter mit einer nachgeburtlichen psychischen Erkrankung werden die Mutter-Kind-Bindung und damit auch die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst. Deswegen ist es umso wichtiger, die Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und passend zu behandeln. Denn dann bestehen gute Heilungschancen.

Der Austausch mit Familie, Freunden, anderen Betroffenen oder professionellen Helfern und Helferinnen wie Hebammen, Psychotherapeuten oder Fachärzten kann hilfreich sein, um das Erlebte zu verarbeiten. Auch praktische Unterstützung im Alltag durch das Umfeld wirkt entlastend auf die Betroffenen. Ebenso können Selbsthilfevereine ein guter Anlaufpunkt sein (siehe Kasten). Bei schweren Verläufen von Depressionen und Psychosen sind schnelle medizinische und medikamentöse Behandlungen durch Ärzte und Psychotherapeuten wichtig, um die Gefahr für Mutter und Kind abzuwenden und eine langfristige Bindungsstörung zu verhindern. Dafür gibt es spezielle Fachkliniken. Diese Behandlungen können jedoch bis zu mehreren Jahren dauern.

Drei Mütter – drei Zukunftsvisionen

Sarah, Beatrice und Anna haben unterschiedliche Krankheitsverläufe erlebt. Sie wollen anderen betroffenen Frauen Hoffnung geben, dass sie nicht allein sind und es besser wird. Sarahs Sohn ist mittlerweile fast sieben Jahre alt. Noch heute kämpft sie um die emotionale Nähe zu ihm. Eine Mutter-Kind-Kur soll nun Besserung bringen. Beatrice erlebte zweimal, dass nachgeburtliche Depressionen geheilt werden können, und hat heute eine sehr gute Beziehung zu ihren beiden Söhnen. Dennoch entschied sie sich unter anderem aus Sorge, die Erkrankung erneut durchstehen zu müssen, gegen ein weiteres Kind. Obwohl Anna bis heute mit den Folgen ihrer Erkrankung zu kämpfen hat, hat sie eine gute Bindung zu ihrer zweieinhalbjährigen Tochter aufgebaut und wünscht sich ein zweites Kind. All diese Mütter verbindet die Liebe zu ihren Kindern und der Wunsch nach der besonderen Nähe zwischen Mutter und Kind. Und dafür werden sie weiterkämpfen.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Hier finden Betroffene Hilfe:

Selbsthilfevereine:
schatten-und-licht.de
postpartale-depression.ch
selbsthilfe.at
Spezialisierte Beratungsstelle:
nachdergeburt.com
Wochenbettdepressionshotline (D):
0 15 77/47 42 654
Elternnotruf (CH):
08 48/35 45 55

„Ich kämpfe um die Nähe zu meinem Baby“

Die Bindung zwischen Mutter und Kind ist ab der Schwangerschaft durch eine besondere Nähe geprägt. Manchmal wird der Aufbau dieser Nähe durch belastende äußere Umstände oder Erkrankungen erschwert. Drei Frauen haben Lisa-Maria Mehrkens ihre Erlebnisse geschildert.

Sarah wurde nach langem Kinderwunsch endlich schwanger. Doch bereits im dritten Monat wurde Schwangerschaftsdiabetes bei ihr festgestellt. Sechs Monate lang musste sie sich mehrmals täglich Insulin spritzen. Für sie eine schwere Zeit voller Überwindung, Angst, Schmerzen, Tränen, die sie für ihr Kind erträgt. Innerlich plagen sie Zweifel: „Ohne Kind keine Nadeln, dieser Gedanke war permanent in meinem Kopf. Ich versuchte, das Kind dafür nicht zu hassen. Es konnte ja auch nichts dafür! Oder?“ Die Geburt ging schnell, aber ständige Hebammenwechsel, das schmerzhafte und langwierige Nähen eines Dammrisses, Beschimpfungen durch den Arzt und ihr neugeborener Sohn, der weit weg von ihren Armen schreiend unter der Wärmelampe lag, ließen Sarah nur Überforderung fühlen. Auch mehrere Monate nach der Geburt wartete sie vergeblich, dass sich Liebesgefühle für ihr Kind einstellten. Erst nach drei Jahren suchte Sarah sich Hilfe, um die Beziehung zu ihrem Sohn zu retten – viel zu spät, wie sie selbst bekennt.

KRANK IM WOCHENBETT

So wie Sarah ergeht es etwa ein bis zwei Prozent aller Frauen in Deutschland, bei denen schwierige Schwangerschaftsverläufe und traumatische Geburten zu starken psychischen Beeinträchtigungen im Wochenbett führen. Die Dunkelziffer von Frauen, die nach der Geburt unter quälenden Gedanken und Alpträumen leiden, ist weitaus höher. Experten sprechen von einer „nachgeburtlichen posttraumatischen Belastungsstörung“. Dabei ist es unwichtig, ob Schwangerschaft und Geburt nur subjektiv als besonders belastend erlebt wurden oder auch objektiv schwierig waren, etwa durch einen Kaiserschnitt oder wenig einfühlsame Geburtshelfer. Wiederkehrende negative Erinnerungen an die Geburt, Schlafstörungen, Gereiztheit und das Vermeiden aller mit der Geburt verbundenen Aktivitäten, wie Sexualität mit dem Partner oder Körperkontakt mit dem Kind, können die Folgen sein. Häufig fällt es Betroffenen schwer, sich die mangelnden Liebesgefühle zu ihrem Kind einzugestehen.

Doch auch ohne schwierige Schwangerschaft oder eine als traumatisch erlebte Geburt können psychische Erkrankungen im Wochenbett auftreten. Sie entstehen meist durch eine Kombination aus genetischen, hormonellen, psychischen und sozialen Einflüssen, zum Beispiel Vorerkrankungen, familiäre Häufungen, die Hormonumstellung im Wochenbett, eine zu geringe Unterstützung durch das Umfeld oder auch ein zu hoher Erwartungsdruck der Mutter an sich selbst.

Etwa 50 bis 70 Prozent aller Mütter kennen den „Baby Blues“ ein paar Tage nach der Geburt: Durch Hormonumstellungen kann es zu häufigem Weinen, Ängstlichkeit, Stimmungsschwankungen, Erschöpfung sowie Konzentrations-, Appetit- und Schlafstörungen kommen. Verschwinden diese Symptome nach spätestens zwei Wochen nicht von allein, könnte es sich um eine Erkrankung handeln, die einer Behandlung bedarf.

DAS KIND NICHT RICHTIG LIEBEN

So erging es Beatrice, die zweimal nach der Entbindung ihrer Söhne an einer mehrmonatigen Depression erkrankte. Sie musste häufig weinen, litt an Übelkeit und Erschöpfung, konnte kaum schlafen und essen. Das erschwerte auch den Aufbau von Nähe zu ihren Kindern: „Ich hatte Angst vor dem nächsten Tag. Ich hatte Angst, nie eine glückliche Mutter werden zu können.“ Ihre Familie und Freunde unterstützten sie durch Gebet und praktische Hilfe. Doch erst Medikamente, ein Klinikaufenthalt und eine Psychotherapie brachten nach einigen Monaten Besserung.

An einer nachgeburtlichen Depression wie bei Beatrice leiden ungefähr 10 bis 15 Prozent aller Mütter. Symptome treten bei manchen schon während der Schwangerschaft, bei anderen erst bis zu einem Jahr nach der Geburt auf. Antriebsschwäche, Lustlosigkeit, innere Leere und Traurigkeit, Appetit- und Schlafstörungen sowie Konzentrationsschwäche sind nur einige Anzeichen. Sehr belastend erleben viele Mütter das Gefühl, ihr Kind nicht richtig zu lieben, und das damit verbundene schlechte Gewissen. Manchmal geht die Krankheit mit starken Ängsten oder Zwängen einher. Daraus können eigene Erkrankungen entstehen, die betroffene Frauen und ihr Umfeld stark belasten und einen normalen Alltag unmöglich machen. Dadurch denken manche Mütter sogar an Selbstmord. Die seltenste und schwerste Form der nachgeburtlichen Erkrankungen ist die Psychose, die etwa ein bis zwei von 1.000 Müttern betrifft. Symptome zeigen sich meist in den ersten vier Wochen nach der Entbindung. Dazu zählen unrealistische, extreme Ängste, Wahnvorstellungen und Halluzinationen, die meist auf das Kind bezogen sind und eine große Gefahr für Mutter und Kind darstellen.

VON ALLEM ÜBERFORDERT

Anna erkrankte nach der Geburt ihrer Tochter an einer solchen Psychose. Das Wochenbett verbrachte sie ohne Kind in der Psychiatrie. Es folgten mehrere Klinikaufenthalte mit und ohne Kind sowie eine ambulante Psychotherapie. Anna durfte ihre Tochter eine Zeit lang nicht allein sehen, wurde vorübergehend für nicht geschäftsfähig erklärt, ihr Mann zu ihrem Vormund bestimmt. Sie erhielt viel Unterstützung und Kraft von ihrem Umfeld durch Gebet, Gespräche und praktische Hilfe. Doch die notwendigen Medikamente hatten Nebenwirkungen: „Die Tage waren lang und zäh und kosteten mich unglaublich viel Kraft. Ich hatte an nichts mehr Freude oder Spaß. Ich fühlte mich wie erschlagen, ständig müde und überfordert von allem und jedem. Ich dachte, meine Tochter nicht genug zu lieben. Sie ging mir auf die Nerven und ich musste aufpassen, sie nicht zu schlagen. Ich überlegte, ob meine Familie ohne mich besser dran wäre und ob ich mir etwas antun sollte“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. Ein erster Versuch, die Medikamente abzusetzen, brachte die Psychose zurück. Bis heute muss Anna Medikamente nehmen und ist nur eingeschränkt arbeitsfähig.

Viele Betroffene schämen sich für ihre Erkrankung oder haben Schuldgefühle und sprechen nicht darüber. Doch bei etwa 20 bis 30 Prozent der Mütter mit einer nachgeburtlichen psychischen Erkrankung werden die Mutter-Kind-Bindung und damit auch die Entwicklung des Kindes negativ beeinflusst. Deswegen ist es umso wichtiger, die Erkrankungen rechtzeitig zu erkennen und passend zu behandeln. Denn dann bestehen gute Heilungschancen.

Der Austausch mit Familie, Freunden, anderen Betroffenen oder professionellen Helfern und Helferinnen wie Hebammen, Psychotherapeuten oder Fachärzten kann hilfreich sein, um das Erlebte zu verarbeiten. Auch praktische Unterstützung im Alltag durch das Umfeld wirkt entlastend auf die Betroffenen. Ebenso können Selbsthilfevereine ein guter Anlaufpunkt sein (siehe Kasten). Bei schweren Verläufen von Depressionen und Psychosen sind schnelle medizinische und medikamentöse Behandlungen durch Ärzte und Psychotherapeuten wichtig, um die Gefahr für Mutter und Kind abzuwenden und eine langfristige Bindungsstörung zu verhindern. Dafür gibt es spezielle Fachkliniken. Diese Behandlungen können jedoch bis zu mehreren Jahren dauern.

NÄHE UND LIEBE KÖNNEN WACHSEN

Sarah, Beatrice und Anna haben unterschiedliche Krankheitsverläufe erlebt. Sie wollen anderen betroffenen Frauen Hoffnung geben, dass sie nicht allein sind und es besser wird. Sarahs Sohn ist mittlerweile fast sieben Jahre alt. Noch heute kämpft sie um die emotionale Nähe zu ihm. Eine Mutter-Kind-Kur soll nun Besserung bringen. Beatrice erlebte zweimal, dass nachgeburtliche Depressionen geheilt werden können, und hat heute eine sehr gute Beziehung zu ihren beiden Söhnen. Dennoch entschied sie sich unter anderem aus Sorge, die Erkrankung erneut durchstehen zu müssen, gegen ein weiteres Kind. Obwohl Anna bis heute mit den Folgen ihrer Erkrankung zu kämpfen hat, hat sie eine gute Bindung zu ihrer zweieinhalbjährigen Tochter aufgebaut und wünscht sich ein zweites Kind. All diese Mütter verbindet die Liebe zu ihren Kindern und der Wunsch nach der besonderen Nähe zwischen Mutter und Kind. Und dafür werden sie weiterkämpfen.

Lisa-Maria Mehrkens ist Psychologin und freie Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Chemnitz.

Morbus Hirschsprung: Christines gerade geborener Sohn entgeht knapp dem Tod

Eigentlich wollen Christine und ihr Mann sich nur über das neue Familienglück freuen. Doch dann wird bei ihrem Sohn eine lebensgefährliche Darmkrankheit diagnostiziert.

Stuhlgang ist kein Thema, über das man gerne nachdenkt, spricht, schreibt oder liest. Es ist ein Thema, über das freche Kinder am Tisch Witze machen und Eltern sagen, es gehöre nicht dorthin. So natürlich Stuhlgang ist, so unnatürlich fühlt es sich an, darüber zu reden. Und doch beschäftigt uns seit der Geburt unseres Kindes kein Thema mehr als das. Denn unser Sohn hatte keinen Stuhlgang und wäre daran fast gestorben.

Was ist Morbus Hirschsprung?

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind mit Morbus Hirschsprung zur Welt kommt, liegt bei eins zu 5.000. Bei der Krankheit handelt es sich um eine Fehlbildung im Darm, die am Schließmuskel beginnt und sich von dort unterschiedlich weit den Dickdarm hochzieht. In dem betroffenen Teil fehlen die Nervenzellen, die verantwortlich sind, den Stuhl zu transportieren. Die Nahrung staut sich also vor dem kranken Teil des Darms und kann gar nicht oder nur zu kleinen Teilen ausgeschieden werden. In Deutschland werden jedes Jahr ungefähr 140 Kinder mit dieser Krankheit geboren, Jungen sind vier Mal so häufig betroffen wie Mädchen. Und eines davon war unser Erstgeborenes.

Anfangs scheint alles normal

Nach einer unkomplizierten Schwangerschaft und Geburt war ich überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass mit unserem Kleinen etwas nicht stimmen könnte. Als Frischlings-Mama konnte ich die Anzeichen nach der Geburt kaum deuten. Unser Sohn spuckte viel und wollte am zweiten Tag nicht mehr trinken. Das Personal in der Klinik beruhigte mich. Das sei völlig normal. Dass der erste Stuhlgang, das Kindspech, nicht kam, verwunderte sie mehr. Aber es klingelte immer noch keine Alarmglocke. Und als frischgebackene Familie sehnten wir uns danach, nach Hause zu kommen, den neuen Lebensabschnitt einzuläuten, die Ruhe zu genießen. Familie und Freunde an unserem Glück teilhaben zu lassen. Und so wurden wir entlassen.

„In der Nacht tat ich kein Auge zu“

Um zuhause den Stuhlgang anzuregen, nahmen wir das Thermometer als Hilfsmittel, drückten mit, massierten den Bauch – alles ohne Erfolg. Der Kleine spuckte immer mehr, die Farbe wechselte von weiß zu gelb. Ich legte ihn nachts ins Beistellbett neben mich und brachte ihn in die stabile Seitenlage. In der Nacht tat ich kein Auge zu. Viel zu viel Angst hatte ich, dass unser neugeborener Sohn ersticken könnte. Aus dem Spucken wurde Würgen. Das war doch nicht normal, oder?

Unsere Nachsorge-Hebamme schickte uns am nächsten Tag in die Kinderklinik. Wir gingen davon aus, dass der Kleine eine hartnäckige Verstopfung hat, die mit einer Spülung beseitigt werden könnte. Damit würden sich die anderen Probleme von selbst lösen. Eine vorwurfsvolle Kinderärztin in der Notfallambulanz wies unseren Sohn in die Klinik ein. Das war ein Schock für uns.

Quälende Ungewissheit

Auf Station bekam der Kleine erst eine Infusion, danach wurde sein Darm mehrmals gespült, bis das elende Kindspech endlich komplett draußen war. Es sei höchste Zeit gewesen, dass wir gekommen sind, gab uns der Arzt zu verstehen. Mein Mann und ich waren überfordert von den heftigen Gefühlswellen, die sich überschlugen: Der Schock, dass unser Kind hätte sterben können, wenn die Hebamme nicht gewesen wäre, die Sorge, wie es nun weitergehen würde, die Angst, der Verantwortung nicht gewachsen zu sein. Und dazwischen zerriss unser Herz, als wir das schrille Weinen unseres Sohnes während der Behandlung hörten.

Wir verabschiedeten uns abends unter Tränen von unserem Neugeborenen, fuhren aus der Klinik nach Hause, heulten dort weiter und kamen am nächsten Tag zurück. Und am Tag darauf. Und am Tag darauf. Nie wissend, was uns in der Klinik erwarten würde. Wie geht es dem Kleinen? Wissen die Ärzte mittlerweile, was ihm fehlt? Wann können wir endlich mit ihm nach Hause? Mein Mann und ich machten uns gegenseitig Mut daran festzuhalten, dass es sich um keine Krankheit handeln muss. Vielleicht war es einfach eine fiese Verstopfung.

Plötzlich spricht der Arzt von Lebenserwartung

Die Ärzte machten Tests, um herauszufinden, warum unser Sohn das Kindspech nicht ausscheiden konnte. Ihr erster Verdacht war die Stoffwechselkrankheit Mukoviszidose. Die Krankheit lässt sich über den Salzgehalt im Schweiß feststellen. Das Testergebnis unseres Sohnes lag im Graubereich, die Ärzte wollten die Krankheit weder ausschließen noch sich darauf festlegen. Unser Kleiner musste noch einmal zum Test. Und dann noch einmal. Und immer lag das Ergebnis im Graubereich.

Wir kannten die Krankheit bis zu diesem Zeitpunkt nur vom Namen her, aber als der Oberarzt uns zu sich bat und mutmachend sagte, die Lebenserwartung sei Dank neuster Medizin nicht so kurz wie früher, mussten mein Mann und ich schlucken. Wir wollten es nicht glauben und nicht hören. Wir sprachen über die Lebenserwartung unseres Sohnes, dessen Leben gerade erst so richtig begonnen hatte?

Zurück in die Krankenstation

Währenddessen kämpfte unser Kleiner weiter und nach einer Weile schaffte er es endlich, selbstständig zu trinken. Als der Stuhlgang nach dem Spülen regelmäßig kam, wurden wir entlassen – mit einem Termin für einen weiteren Test. Zuhause ging der Horror wieder von vorne los und nach vier Tagen waren wir zurück auf der Krankenstation. Trotz Spülung hat sich dieses Mal der Zustand unseres Sohnes kaum verbessert. Er wurde schwächer und schwächer. Sein Puls war viel zu hoch, die Entzündungswerte gingen fast durch die Decke.

Ein anderer Arzt kam und mit ihm eine neue Verdachtsdiagnose: Morbus Hirschsprung. Die Kinderchirurgie wurde einbezogen, wir darüber informiert, dass unser Sohn operiert werden müsse. Der Chirurg erklärte uns, was gemacht werden muss, aber er wolle eine zweite Meinung hören und bis zum nächsten Tag warten.

„Hatte das Gefühl, ihn beim schleichenden Tod zuzusehen“

Diese Nacht war die schlimmste meines Lebens. Dem Kleinen ging es immer schlechter. Er stöhnte im Schlaf und bekam mehr und mehr Schmerzmittel. Ich hatte das Gefühl, ihn beim schleichenden Tod zusehen zu müssen. Am nächsten Tag bat der Oberarzt meinen Mann und mich in das Besprechungszimmer. Unser Sohn würde jetzt operiert werden. Der Darm sei gerissen. Ein künstlicher Darmausgang müsse gelegt werden. Der Kinderchirurg kam. Die OP finde sofort statt. Es herrsche Lebensgefahr. Ich hielt die Hand meines Mannes. Tränen liefen mir ununterbrochen über das Gesicht.

Abschied an der OP-Schleuse

Seit der Geburt unseres Sohnes fühlte sich alles an wie ein Albtraum. Die Vorstellung, wie der Start ins Familienleben sein würde und was wir tatsächlich erlebten, klaffte unendlich weit auseinander. Wir brachten unseren Sohn mit dem Arzt und zwei Schwestern zur OP-Schleuse. „Verabschieden Sie sich jetzt von Ihrem Sohn“, sagte jemand. „Bis später“, flüsterte ich ihm unter Tränen zu und streichelte seinen Kopf. Hand in Hand und unter Schluchzen gingen mein Mann und ich zurück zur Station und warteten.

Eine Stunde. Ich packte meine Sachen zusammen und pumpte Milch ab. Zwei Stunden. Ich schrieb Nachrichten an Familie und Freude: „Bitte betet für uns.“ Drei Stunden. Da kam der Kinderchirurg und sagte, die OP sei gut verlaufen. Der Darm sei nicht gerissen, auch wenn es auf dem Röntgenbild so aussah. Aber die Darmwand sei so beschädigt, dass Bakterien aus dem Darm in den Bauchraum gekommen seien und eine Infektion ausgelöst hätten. Der künstliche Darmausgang funktioniere gut, jetzt müsse sich der Kleine nur noch erholen.

Ein kleiner Schatten seiner selbst

Als wir endlich zu unserem Sohn konnten, flossen die Tränen – wieder oder immer noch, ich weiß es nicht mehr. Dankbar dafür, dass er noch lebte, ängstlich und in Sorge, ob er die kommende Nacht überstehen würde. Ganz blass lag er im Brutkasten, stöhnte im Schlaf, zuckte unkontrolliert, überall waren Schläuche und Kabel. Er war ein noch kleinerer Schatten seiner selbst.

Am nächsten Tag zeigte man uns zum ersten Mal den künstlichen Darmausgang. Ich hatte noch nie einen gesehen und keine Vorstellung davon, was uns erwarten würde. Als ich das aufgeschnittene und aufgeklappte Stück Dickdarm am Bauch unseres zarten Jungen sah, wurden meine Augen weit. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich ekelte mich. Was für eine Mutter war ich, die sich vor ihrem eigenen Sohn ekeln konnte?

Der künstliche Darmausgang ist eine Herausforderung

Unser Sohn konnte eine Woche später entlassen werden, ein Termin zur Biopsie stand einen Monat später an. Aus der Klinik rauszukommen, fühlte sich gut an. Eine Brise Normalität. Doch sich zuhause um den künstlichen Darmausgang zu kümmern, überforderte uns in der ersten Zeit. Ständig löste sich die Platte, die um den Ausgang herum am Bauch klebte und an der ein Beutel befestigt war. Ständig war unser Sohn komplett mit seinen Exkrementen beschmiert. Ständig musste er unter lautem Protest auf den Wickeltisch. Sein Schreien sorgte dafür, dass der Darm arbeitete wie verrückt. Stuhl floss regelrecht aus dem Darm und mein Mann und ich versuchten verzweifelt den Bauch sauber zu machen, damit die nächste Platte besser kleben würde. Schweißgebadet waren wir die ersten Male nach etwa 20 Minuten fertig.

Eine neue OP steht an

Doch der „Luxus“, dass wir uns gemeinsam um die Pflege kümmern konnten, würde bald aufhören. Die Elternzeit meines Mannes neigte sich dem Ende zu. Unsere Kinderärztin fragte mich: „Wie wollen Sie das denn in Zukunft handhaben?“ „Ich werde die Beutel alleine wechseln“, antwortete ich. „Das können Sie nicht schaffen. Alleine geht das nicht“, sagte die Ärztin bestimmt. Falls ich eine helfende Hand bräuchte, könnte ich jederzeit in die Praxis kommen. Als wir auf dem Parkplatz standen, fing ich an zu weinen. Wie sollte ich den Alltag mit unserem Sohn bloß bewältigen?

Wir arbeiteten uns immer mehr in das Thema ein, nicht nur, was den künstlichen Darmausgang betraf. Wir wechselten in eine Spezialklinik. Die Biopsie bestätigte den Verdacht: Unser Sohn hatte die Hirschsprung-Krankheit. Ein Termin zur Operation wurde vereinbart. Der kranke Teil des Darms sollte entfernt werden, eventuell der künstliche Darmausgang schon rückverlegt. In den Wochen vor dem Klinikaufenthalt graute mir vor dem, was auf uns zukommen würde. Es hafteten noch die schlimmen Erlebnisse aus den vergangenen Wochen an mir. Unkontrolliert brach ich manchmal unter der Dusche zusammen, ließ das Wasser mein Schluchzen wegspülen.

An Schlaf ist nicht zu denken

Der Tag der Operation kam. Wieder zur OP-Schleuse, wieder den Kleinen in die Hände der Ärzte geben. Der Warteraum vor dem OP-Saal wurde zu dem Vorhof meiner persönlichen Hölle. Irgendwie hatten mein Mann und ich es geschafft, die fast sechs Stunden rumzukriegen, die unser Sohn im OP lag. Der Anruf kam: Es lief alles gut. Wir kamen aufs Zimmer. Da der Darm so kurz nach dem Eingriff noch nicht arbeiten kann, durfte der Kleine keine Milch trinken. Infusion, Wasser, Tee – all das reichte ihm nicht. „Irgendwann geben alle nach und trinken Wasser“, wollte die Krankenschwester uns beruhigen. Unser Sohn nicht. Er schrie und schrie, mal vor Hunger, mal vor Schmerzen. Nachts war an Schlaf nicht zu denken.

Eine dritte Operation steht an

Die Visite am nächsten Tag zeigte, dass etwas nicht in Ordnung war. Ein Tag sollte abgewartet werden. Wieder eine Nacht des Grauens. Und am nächsten Morgen machte der Chirurg ein ernstes Gesicht. „Ihr Sohn muss noch einmal operiert werden. Von außen können wir nicht sehen, was nicht stimmt. Im Notfall muss ihm erneut ein künstlicher Darmausgang gelegt werden“, informierte er mich. Ich schrieb meinem Mann eine Nachricht, er soll sofort kommen. Und wieder mussten wir zur OP-Schleuse. Der Eingriff zeigte, dass eine Naht sich gelöst hatte. Es wurde noch einmal genäht, der Heilungsprozess musste wieder von vorn beginnen.

40 Mal Stuhlgang am Tag

Nach zwei Wochen konnten wir die Klinik endlich verlassen. Glücklich darüber, wieder vereint zuhause sein zu können. Dass unser Sohn in den ersten Wochen täglich bis zu 30 oder 40 Mal Stuhlgang haben könnte, vermieste unsere Laune nicht. Nach all dem, was wir schon erlebt hatten, kam uns dieses Problem nicht so groß vor. Doch es wurde groß und immer größer. Nicht nur sammelten sich riesige Windelberge vor unserer Wohnung, sondern der Stuhlgang wurde nicht weniger. Nicht nach einem, nach zwei, drei, vier oder fünf Monaten. Es blieb.

Unser Sohn begann erst Brei, dann vom Tisch zu essen. Und damit begannen starke Schmerzen. Nicht nur ein dauerhaft wund-blutiger Po, sondern heftige Schmerzen beim Stuhlgang selbst. Ganz plötzlich beginnt er zu schreien, ballt seine kleinen Hände zu Fäusten und zittert am ganzen Körper. Und füllt die Windel. Wieder und immer wieder, bis zu 30 Mal am Tag.

Warum schweigt Gott?

In der Nachsorge sagte der Chirurg, dass die Phase mit dem häufigen Stuhlgang bei einem guten Verlauf schon abgeschlossen wäre. Das war keine Überraschung für uns – die „beschissene“ Phase war längst schmerzlicher Alltag geworden. Fragen brennen uns aus auf der Seele, die kein Mensch beantworten kann und zu denen Gott bisher geschwiegen hat. Wann wird es unserem Sohn endlich besser gehen? Wann fängt ein neuer Lebensabschnitt für uns drei an? Schaffen wir es, bis dahin durchzuhalten?

Zwischen den Fragen machen sich bei mir manchmal Zukunftsängste und Horrorszenarien breit. Wie steht es um die Gesundheit unseres Sohnes, wenn er in den Kindergarten kommt? Wird er sich noch in die Hose machen, wenn er zur Schule geht? Gehört er zu den wenigen Betroffenen, bei denen Morbus Hirschsprung zur Inkontinenz führt? Die Wahrscheinlichkeit ist gering, aber es gibt sie. Genauso wie die Wahrscheinlichkeit, dass wenn mein Mann und ich uns für ein zweites Kind entscheiden würden, es dieselbe Krankheit hätte.

Narben, die bleiben

Ein Jahr nach der Geburt unseres Sohnes leiden wir immer noch. Wir leiden darunter, dass unser schutzbedürftiger Junge jeden Tag körperliche Qualen erleiden muss, die wir ihm nicht abnehmen können. Wir leiden darunter, dass unser Start ins Familienleben mit kräfteraubenden Klinikaufenthalten und Operationen verbunden war. Wir leiden darunter, dass unser Sohn nie die unbeschwerte Kindheit haben wird, die andere Kinder haben können.

Aber in all dem Leid sehen wir einen Jungen, der seine Schmerzen mit dem Moment vergisst, in dem sie aufhören. Der fröhlich ist, viel lacht und erzählt, schnell krabbeln gelernt hat und mittlerweile seine ersten Schritte geht. Der Alltag für uns ist und bleibt in der kommenden Zeit ein Kampf zwischen Leid und der Hoffnung, dass es eines Tages besser wird. Ich bin sicher, dass der Kampf sich lohnt – auch wenn Narben zurückbleiben werden. Und das werden sie – wie die zwei großen Narben am Bauch unseres Sohnes, hinter denen diese ganze Geschichte steckt.

Betroffene von Morbus Hirschsprung oder ähnlichen Krankheiten finden bei SoMA e. V. Hilfe: soma-ev.de.

Mein Mann ist in ständiger Sorge

„Wir haben nach der Geburt erfahren, dass unser Sohn einen Herzfehler hat. Er musste gleich operiert werden. Ich habe es mittlerweile ganz gut verarbeitet, aber mein Mann kommt nicht darüber hinweg. Er hat ständig Angst um unseren Sohn. Er hat das Trauma nicht aufgearbeitet und ist auch nicht der Typ, der über seine Gefühle redet. Wie kann ich ihm helfen?“

Wir hören in unserem Beratungsalltag sehr häufig, dass Mütter und Väter unterschiedlich mit „schlechten Nachrichten“ oder schwer krankem Familienzuwachs umgehen. Oft haben Mütter das Bedürfnis, darüber zu reden und Erfahrungen auszutauschen, während Väter im Internet aktiv sind oder sich in ihre Rolle als Ernährer zurückziehen. Auch sich aktiv Hilfe zu holen, scheint für Männer oft schwerer zu sein als für ihre Partnerinnen.

Männer leiden anders als Frauen

Manche leiden still, aber genauso intensiv – nur eben anders. Die Paarbeziehung gerät in den Hintergrund, die Eltern „funktionieren“ in der gemeinsamen Sorge um das herzkranke Kind. Für die Geschwister bleibt oft nicht mehr so viel Kraft und Zeit, wie diese es sich wünschen. Die sorgen sich ja auch und bräuchten viel Zuwendung und Erklärungen, warum jetzt alles so anders ist, seit das herzkranke Kind in die Familie kam. Ein Dilemma, für dessen Lösung die Familien Hilfe und Unterstützung brauchen.

Falls Sie es noch nicht getan haben, rate ich Ihnen, Hilfe über Eltern-Vereine in Anspruch zu nehmen. Bei Elterncoachings beispielsweise können Sie gemeinsatrm mit professionellen Coaches Ihre drängenden Fragen und Ängste besprechen und erhalten dort einen zuversichtlichen Blick in eine Zukunft mit dem oft chronisch herzkranken Kind. Und Sie lernen andere Eltern in ähnlichen Situationen kennen, mit denen Sie sich austauschen können. Corona-bedingt tauschen sich Väter, Mütter und Coaches derzeit in Online-Seminaren aus, was den Vorteil hat, dass beide Eltern gleichzeitig anwesend sein können.

Angebote speziell für Väter

Die Eltern-Vereine verhelfen Ihnen auch zu einer Familien- orientierten Reha (FOR). In Nachsorgekliniken können sich die belasteten Familien inklusive der Geschwister vier Wochen lang neu finden und Kraft tanken für den künftigen gemeinsamen Alltag. Dort gibt es auch Angebote speziell für Väter. Die Kosten trägt entweder die Renten- oder die Krankenversicherung.

Es gibt auch „Väter-Wochenenden“, die speziell die Bedürfnisse von Vätern ansprechen. In einem geschützten Raum können sie sich fallenlassen, sich jemandem anvertrauen und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Hier können sie neue Methoden für den Umgang mit Rückschlägen erlernen und Kraft tanken.

Hermine Nock ist Geschäftsführerin beim Bundesverband Herzkranke Kinder e. V. Illustration: Sabrina Müller, sabrinamueller.com

Webtipps:

www.bvhk.de
www.kohki.de
www.herzkind.de
www.kindernetzwerk.de
www.evhk.ch
www.herznetz.ch

Facebookgruppe: „Eltern und Familien herzkranker Kinder“

„Kann so nicht weiterleben“ – Wie Model und Mutter Mirja du Mont ihre Lebenskrise überstand

Mirja du Mont wollte es im Beruf und in der Familie allen recht machen. Dann kam der Zusammenbruch. Im Interview erzählt sie, wie sie zurück ins Leben fand und was sie anderen Müttern rät.

Mirja, nach der Trennung von deinem Exmann Sky du Mont hast du dir selbst sehr viel Druck gemacht. Warum?

Ich wollte mir selbst und meinem Ex beweisen, dass ich keinen Mann brauche, um mich zu finanzieren. Ich wollte zeigen, dass ich stark bin, alle meine Jobs machen kann und zusätzlich auch die Kinder und den Haushalt unter einen Hut bekomme. Dabei stand mir mein Perfektionismus zusätzlich im Weg. Ich sah all die Perfektion in den sozialen Medien, die falschen Fassaden der anderen, und ich wollte mir und der Welt beweisen, dass ich auch alles kann. Und das nicht nur irgendwie, sondern richtig gut. Aber der Druck und die Termine lagen alle viel zu eng. Es war viel zu viel.

Wie sah das konkret aus?

Es gab den Punkt in meinem Leben, an dem ich zeitgleich drei verschiedene Fernsehshows hatte: Dance dance dance, die Reportage bei VOX „6 Mütter“ und meine eigene Show bei Channel24. Die Fernsehproduktion bei VOX begleitete mich zusätzlich jeden Tag und zu all den anderen Shows. Auch am Wochenende. Es war permanenter Stress. Zusätzlich versorgte ich die Kinder, kochte abends vor und machte mir selbst viel Druck. Ich wollte meine Arbeit wirklich gut machen, denn ich arbeite sehr gerne, bin gleichzeitig gern Mama und liebe mein Leben. Ich hatte nicht mal Hilfe im Haushalt, weil meine Mama auch immer alles alleine geschafft hat und ich es nicht mag, wenn andere für mich arbeiten müssen.

Plötzlich taub

Das kann nicht lange funktionieren. Was ist passiert?

Morgens war ich im Möbelgeschäft und hatte sehr viel eingekauft. Als ich zu Hause ankam, stellte ich fest, dass der Fahrstuhl kaputt war und ich alles alleine in den vierten Stock schleppen musste. Als ich das geschafft hatte, überkam mich plötzlich eine unendliche Müdigkeit. Ich hätte am liebsten den ganzen restlichen Tag verschlafen. Aber meine Freundinnen hatten abends für uns einen Tisch reserviert und ich hatte mich auf sie gefreut. Also fuhr ich hin. Doch schon während des Termins spürte ich, dass es mir eigentlich zu viel ist und ich lieber schlafen würde.

Als ich nach Hause fuhr, passierte es plötzlich: Mein Ohr ging zu, als würde man an einem Regler drehen und es ausschalten. Ich erschrak, aber hatte die Hoffnung, dass es am nächsten Morgen schon weitergehen würde.

Aber am nächsten Morgen war nicht alles gut?

Ich wachte auf und es durchzuckte mich. Ich lag auf meinem gesunden Ohr, daher hörte ich gar nichts. Nicht mal den Baustellenlärm vor meinem Fenster. Ich dachte, ich sei taub geworden. Als ich ein paar Sekunden später begriff, dass es doch nur das eine Ohr war, beruhigte mich das nicht viel weniger.

Ich fuhr ins Krankenhaus. Dort stellte man fest, dass ich einen Riss im Innenohr hatte und Hörflüssigkeit ausgelaufen war. Ich hatte dadurch Schwindelstörungen und als Folge dessen Sehstörungen. Und das ein ganzes Jahr lang. Ich konnte nicht mehr raus gehen, nicht einkaufen gehen. Nichts. Meine ganze Welt drehte sich einmal um 180 Grad. Dazu kam eine große Angst. Was, wenn das nie mehr aufhört? Was, wenn irgendwann mein anderes Ohr auch betroffen sein könnte?

Das klingt nach einer schrecklichen Phase …

Als ich meine Eltern besuchte, erlebte ich einen Knackpunkt. „Ich kann so nicht weiterleben“, sagte ich gegenüber meinem Papa. Ich war absolut körperlich und psychisch am Ende. Meine Eltern trösteten und hielten mich. Ich wusste in dem Moment: Ich bin geborgen. Diese Liebe hat mir viel Kraft gegeben.

Ich bekam kurz danach Psychopharmaka aufgrund der großen Angststörung, die ich entwickelt hatte. Ich hatte Angst, essen zu kochen, Angst, vor die Tür zu gehen und einiges mehr. Diese Medikamente vertrug ich allerdings so schlecht, dass ich in eine Klinik kam.

Kein Iron Man

Wie bist du wieder gesund geworden? Wo hast du Hilfe gefunden?

Meine Familie ist sehr eng, hier helfen wir uns alle gegenseitig. Meine Kinder waren mir auch eine große Hilfe, weil sie so viel Verständnis zeigten. Ich dachte in dem Moment, dass es vielleicht auch etwas Gutes ist, dass sie sehen, dass Mama nicht nur Iron Man ist mit 80 Armen und 50 Beinen und alles immer kann. Dass Mama auch mal schwach sein darf und Hilfe braucht.

In der Zeit meiner Krankheit starb meine sehr liebe Freundin. Sie war mir ein leuchtendes Vorbild, denn sogar am Ende ihres Lebens, als sie kaum noch konnte, sagte sie immer wieder zu mir: „Das Leben ist wunderschön“. Ihr gegenüber empfand ich es als unfair, dass ich hier die Leidende war. Ich starb ja nicht an meiner Krankheit. Dadurch habe ich mich zusammengerissen.

Wie fühlte sich das für dich an, dass andere dir geholfen haben?

Ich wusste, dass ich es alleine nicht schaffen werde und war dankbar für all die Hilfe. Auf der anderen Seite empfand ich viel Scham. Ich wollte nicht, dass jemand weiß, wie es mir tatsächlich geht. Später schrieb ich aus diesem Grund mein Buch. Ich wollte lieber selbst meine Geschichte erzählen, damit Betroffene sehen können, dass man wieder gesund werden kann.

In ihrem Buch erzählt Mirja du Mont ihre Geschichte ausführlich. Cover: adeo

In ihrem Buch erzählt Mirja du Mont ihre Geschichte ausführlich. Cover: adeo

„Jetzt mache ich auch mal zwei Wochen gar nichts“

Was hat sich durch diese Lebenskrise in die verändert? Was machst du jetzt anders als vorher?

Ich habe gelernt, Nein zu sagen und meine Grenzen zu ziehen. Das konnte ich früher überhaupt nicht. Ich entschuldige mich sogar immer noch, wenn ich mal etwas absagen muss. Da habe ich noch etwas Lernstoff vor mir. Ich mache keine Jobs mehr gleichzeitig, sondern nur noch nacheinander. Und das Wichtigste: Jetzt mache ich auch mal zwei Wochen gar nichts. Früher war ich sogar im Urlaub auf Achse.

Was hat dir Kraft gegeben?

Ich glaube, dass es eine höhere Kraft gibt. Ich kann es nicht betiteln und weiß auch nicht, was es ist, aber ich habe das Gefühl, dass meine verstorbene Oma und meine geliebte Freundin auf mich aufpassen. Das und natürlich meine Familie und Freunde.

Immer noch Tinnitus

Hat die Krankheit noch Nachwirkungen?

Ich lebe inzwischen mit Dauertinnitus. Viele Menschen haben das in Deutschland und viele nehmen Schlaftabletten. Wenn man das Geräusch und die Krankheit nicht akzeptiert, dreht man durch. Der Tinnitus ist dein Kumpel, er ist immer da. Es gibt schlimmere Sachen im Leben. Wenn man den Tinnitus akzeptiert, kann man damit leben.

Wie kann man sich Tinnitus vorstellen? 

Der Tinnitus ist ein Piepen und ein Rauschen, wie ein Radio ohne Frequenz. Und er ist so laut, als würde man direkt neben dem Radio sitzen. Früher konnte ich damit nicht einschlafen, man hört immer, dass man krank ist und das ist sehr schwer.

Wie lebst du damit?

Mein Papa sagte mal zu mir: „Es ist nur ein Ohr, Mausi. Was machen Menschen, die nicht sehen können?“ Das veränderte mein Denken. Am Anfang brauchte ich jemanden, der mich bemitleidet, und dann jemanden, der mir in den Arsch tritt.

Zu guter Letzt: Wie lebst du Familie, was ist dir wichtig?

Empathie und Respekt anderen Menschen gegenüber sind wichtige Werte für mich. Schon in den kleinen Alltagsdingen. Dass man alten Menschen im Bus seinen Platz anbietet zum Beispiel. Mir ist es auch wichtig, dass unsere Kinder sich nicht beleidigen. Ich liebe Menschen und das Leben, daher wünsche ich mir weniger Hass und mehr Liebe.

Die Fragen stellte Priska Lachmann.

Der kleine Justus kämpft gegen die Leukämie – Warum die Eltern die Hoffnung nicht aufgeben

Wie ein Kometeneinschlag trifft Familie Müller die Krebs-Diagnose ihres damals fünfjährigen Sohnes. Über Leid, Hoffnung und grenzenlosen Optimismus.

„Papa!“, jubelt Jussi und springt Andy in die Arme, als er an diesem Abend nach Hause kommt. Eine Minute später ist er schon wieder unterwegs, turnt über einen Sessel, robbt unter einem Stuhl durch, kippt seine Legokiste aus – krawumm! Der Siebenjährige ist schnell, laut, lebhaft. Mit seinen dunkelblauen Augen und den blonden Haaren sieht Justus, wie er richtig heißt, aus wie ein Lausebengel. Eine Ahnung davon, dass sein Kopf voller Streiche steckt, bekommt man, wenn man Jussi nur ein paar Minuten dabei beobachtet, wie er durch das gemütliche, großzügige Haus von Familie Müller tobt. Stillsitzen ist nicht Jussis Ding.

Im Frühjahr 2019 sieht das ganz anders aus: Jussi hat die Grippe und fühlt sich danach schlapp. Er ist sehr anhänglich, will lieber kuscheln statt spielen. Sein Schwimmkurs strengt ihn über die Maßen an, und zu Hause friert er noch so sehr, dass Mama Esther ihn in eine Decke wickelt. Nachwirkungen der Grippe, denkt sie. Das denkt auch der Kinderarzt, den die Familie erneut aufsucht, als Jussi zwei Wochen später immer noch merkwürdig blass aussieht und antriebslos ist.

„Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist“

Als der damals Fünfjährige nach weiteren zwei Wochen noch schlapp wirkt und über Druck an einem Auge klagt, sucht Esther wieder den Kinderarzt auf. Ein großes Blutbild wird gemacht. Weil die Arztpraxis einer Klinik angeschlossen ist, kommen die Laborwerte noch am selben Tag. „Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist, weil ich allein zur Ärztin reingehen und die Sprechstundenhilfe bei Jussi bleiben sollte“, erzählt Esther. Die Kinderärztin fängt an, von weißen Blutkörperchen zu sprechen. „Ich habe gleich gesagt: ‚Leukämie, oder?‘“, erinnert sich Esther. Ja, der Verdacht steht im Raum. Esther soll mit Jussi sofort in die Klinik.

Andy ist zu der Zeit dienstlich unterwegs. Er arbeitet als Jugendevangelist und ist auf einem Ferien-Festival, um jungen Menschen von Gott zu erzählen. Dass seine Schwester sich an diesem Tag für einen Besuch bei seiner Frau und den Kindern angekündigt hat, ist ein Segen, denn so kann sie Jussis drei Jahre älteren Bruder Noah von der Schule abholen, während Esther und Jussi in der Klinik sind.

Diagnose Leukämie

Es ist ein Freitagmittag, als Esther erstmals die Kinderonkologie im Kasseler Klinikum betritt. Es ist ruhig auf der Station. Weil Jussi als Notfall eingeliefert wird, kümmert sich sofort ein Onkologe um ihn. Sein Hämoglobin-Wert liegt bei 4,9 – lebensbedrohlich. Normal für Kinder seines Alters ist ein Hb-Wert zwischen 12 und 15. Dass Jussi viel zu wenige rote Blutkörperchen im Blut hat, erklärt auch seinen Augendruck. Nach einer weiteren Blutuntersuchung, Ultraschall, Herz-Screening und EKG bestätigt sich der Verdacht: Jussi hat Leukämie.

Die Diagnose trifft die Familie wie ein Kometeneinschlag. „Wenn du so etwas erfährst, funktionierst du einfach“, sagt Esther. „Du stehst so unter Adrenalin, da denkst du gar nicht viel.“ Sie klingt abgeklärt, wenn sie darüber spricht. Daran, dass ihr Kind sterben könnte, denkt sie keinen Augenblick, sagt Esther. Sie ist eine Pragmatikerin und Optimistin, genauso wie ihr Mann Andy. Als dieser von der Krankheit seines Jüngsten erfährt, befindet er sich inmitten von frohen Menschen in Ferienstimmung. In wenigen Minuten soll er ein Seminar geben und dabei Jesus verkündigen. Das Seminar findet wie geplant statt, die private Sorge merkt ihm niemand an. Danach zieht Andy sich zurück und kann die Tränen nicht unterdrücken. Für ihn ist es ein Segen, dass ein guter Bekannter, der damalige Vorsitzende des Gnadauer Verbandes, vor Ort ist, dem er sein Herz ausschütten kann. Danach fährt Andy heim zu seiner Familie.

90 Prozent Hoffnung

Die Ärztin erklärt Andy und Esther, dass Jussi unter einer Form von Leukämie leidet, die sehr gut erforscht sei und bei der Betroffene mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent wieder gesund werden. Das beruhigt die Eltern. Esther ist keine, die die Möglichkeit der schlechten zehn Prozent in den Fokus rückt. Sie sagt sich: 90 Prozent ist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass alles wieder gut wird. Nie wollen sie und ihr Mann Andy fragen: „Warum wir?“, sondern immer: „Wie gehen wir damit um?“

An der Form von Leukämie, die bei Jussi diagnostiziert wird, erkranken in Deutschland jedes Jahr rund 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren. 90 Prozent von ihnen leben nach fünf Jahren krankheitsfrei. Erkrankt ein Kind zum zweiten Mal, sinkt die Überlebensrate drastisch auf nicht einmal 40 Prozent.

Ein fast normales Leben

Die Krankheit wird mit Chemotherapie behandelt. Dabei bekommt das Kind Medikamente, die das Zellwachstum hemmen und die Krebszellen abtöten sollen. Jussis Therapie wird in drei Abschnitte eingeteilt. Er ist bei unserem Treffen kurz davor, die zweite Therapiephase abzuschließen, bei der er zu Hause wohnen und weitgehend normal leben und zur Schule gehen kann. Alle zwei Wochen steht ein Termin im Klinikum an. Danach werden seine Blutwerte regelmäßig kontrolliert, bis er 18 Jahre alt ist.

Jussi ist an diesem Winterabend besonders gut drauf, denn sein Stoffhund hat heute eine neue rote Mütze bekommen. „Dreimal darfst du raten, wie der heißt“, sagt er und hält das schwarzbraune Fellknäuel hoch. „Bello“ heißt er, aber eben nicht nur. Bello ist Akademiker: Doktor Bello bitte! Doktor Bello war von Anfang an in der Klinik dabei, ebenso wie Krankenschwester Hasi und der Papagei Bobo, Krankenwagenfahrer.

„Doktor Bello hat den Ärzten immer erklärt, was sie machen sollen“, erinnert sich Papa Andy. Einmal soll Doktor Bello draußen warten. Als Jussi aus dem Behandlungszimmer kommt, findet er Bello liebevoll auf eine Decke drapiert. Vor ihm steht ein Fressnapf mit einer echten kleinen Leberwurst in Folienverpackung, neben ihm liegt ein bisschen Hundespielzeug.

Dauerhaft auf der Kinderkrebsstation

Es sind kleine Episoden wie diese, die Müllers von der Zeit im Krankenhaus erzählen. Ein halbes Jahr lang ist Jussi nur mit kleinen Unterbrechungen dauerhaft auf der Kinderkrebsstation. „Das Personal wird zu deiner zweiten Familie“, sagt Andy. Sie hätten gute Gespräche geführt und auch viel gelacht. Natürlich habe es auch diese andere Seite gegeben, erzählt Esther, und schildert, wie sie einmal das Bild eines kleinen Mädchens auf einem Altar im Gang sieht. Oder wie ein krebskranker Junge kurz vor einer Operation erfährt, dass er möglicherweise einen zweiten Tumor hat. „In dem Fall können wir nichts mehr für ihn tun“, lassen die Ärzte die Eltern des Jungen wissen.

Auch für Esther und Andy ist die Zeit nicht nur wegen der Diagnose an sich eine Belastungsprobe: Jeden zweiten Tag wechseln sie sich ab, wer im Krankenhaus bleibt und wer sich zu Hause um Jussis Bruder kümmert. Die Nächte sind kurz, weil das Elternteil in der Klinik jede Stunde aufstehen muss, um dem Kind zu helfen, damit die Medikamentengabe reibungslos laufen kann. „Besonders am Wochenende langweilst du dich, weil nichts passiert“, sagt Andy. Er habe es gefeiert, als er den Infusionswagen dazu gebracht habe, nicht länger nervtötend zu quietschen.

Klinikclowns helfen gegen die Monotonie

Während der ersten Behandlungsphase muss die Umgebung keimfrei sein, weil das Immunsystem des kleinen Patienten komplett heruntergefahren ist. Daher sind die Spielmöglichkeiten begrenzt. „Du kannst nicht ununterbrochen vorlesen“, sagt Esther. Umso dankbarer ist sie für Abwechslungen im Klinikalltag wie den Klinikclown, das Sandmännchen, das die Kinder abends besucht, und den Erzieher, der auf der Station für alle Kinder da ist.

„Das Personal war cool“, sagt Andy. Gut informiert über das, was passiert, fühlen sich Müllers immer. Das ist wichtig, denn so sind sie auch auf das, was mit dem Kind passiert, vorbereitet: Es gibt Wochen, in denen die Medikamente für extreme Stimmungsschwankungen beim Kind sorgen. Andere Medikamente lösen Heißhungerattacken aus. Jussi verliert seine Haare.

„Die Krankheit ist eine Riesen-Scheiße“, sagt Andy, doch er und Esther suchen immer auch gute Momente. Weil Andys Mutter ebenfalls an Krebs erkrankt ist, hat auch sie keine Haare. Als Jussi seine verliert, solidarisieren sich die beiden Glatzköpfigen und die Oma setzt dem Enkel ihre Perücke auf. Andy lacht herzlich, als er sich an die Situation erinnert. Dass Esther und er sich diese positive Sicht aufs Leben erhalten können, empfinden sie als Geschenk. Dass auch Jussi ein geborener Optimist ist, hilft ungemein. Als Andys Mutter im Mai 2019 stirbt, sagt Bruder Noah: „Oma ist ja jetzt an Krebs gestorben, und Jussi hat ja auch Krebs …“ Jussi fällt ihm ins Wort: „Ja, aber ich habe doch einen ganz anderen Krebs!“

Wie ein kompletter Lockdown

Dass Jussi mit der eigenen Situation so optimistisch umgeht und dass er ein sehr unkomplizierter Patient ist, macht es auch den Eltern leichter. „Jussi hat das alles auch als Abenteuer erlebt“, meint Andy: „Er hat im Schwesternzimmer vor den Monitoren gesessen und war ganz in seinem Element, wenn er Sachen gesagt hat wie: ‚Auf der 3 ist der Puls zu hoch!‘“ Einmal sagt Jussi, der den Fußballern vom BVB die Daumen drückt, zu einer Ärztin: „Ich rede heute nicht mit dir!“ – „Wieso? Was habe ich gemacht?“ – „Du bist Bayern-Fan!“

Neben der Tatsache, dass Jussi gut kooperiert, nehmen Esther und Andy ihr christliches Umfeld als sehr hilfreich wahr. Beide haben christliche Arbeitgeber, die sie mit großer Selbstverständlichkeit unkompliziert von heute auf morgen freistellen. Ihr Hauskreis, eine Kleingruppe in ihrer Kirchengemeinde, leistet praktische Hilfe. „Gold wert“ sei das gewesen, sagt Esther. Als Jussi nach vier Wochen erstmals für ein paar Tage nach Hause darf, hat der Hauskreis das komplette Haus geputzt, damit alles möglichst keimfrei ist. „Das hätten wir unmöglich allein geschafft“, sagt Esther, zumal ja immer nur ein Elternteil zu Hause sein kann. Dass der Freundeskreis die ganze Zeit den Kontakt hält und nicht nur fürs Kind, sondern auch für die Eltern betet, schätzen Andy und Esther ungemein. „Du kannst ja nirgendwo mehr hin, es ist wie ein kompletter Lockdown für dich selbst, nur, dass draußen das Leben weitergeht“, sagt Esther.

Eine kleine Gebetserhörung

Eine Freundin aus dem Hauskreis arbeitet zufälligerweise auf der Station in der Kinderklinik, auf die Jussi kommt. Auch das hilft. Zusammen mit den Freunden, Bekannten und ihren Familien beten Andy und Esther viel. Einmal bekommt Jussi Fieber. Das ist schlecht, weil es die Therapie zurückwirft. „Ich habe gebetet, und das Fieber ging zurück“, sagt Andy. Dabei stellt er klar, dass natürlich nicht jedes Gebet erhört wird und es nicht unbedingt eine Beziehung zwischen „richtig“ oder „genug“ gebetet und dem Ausgang einer Situation gibt. „Aber das haben wir als Geschenk genommen“, sagt er.

Der hoffnungsvolle und optimistische Umgang von Müllers mit ihrer Situation bleibt nicht unbemerkt. An einem Abend kommt eine Schwester zu ihm: „Du, Andreas, du bist doch handwerklich so’n bisschen begabt. Im Nebenzimmer tropft die Dusche.“ Sie zögert. Und dann: „Das Kind hat eine Krankheit, die ihr gut kennt. Es täte denen gut, wenn ihr mal mit denen redet.“

Die Familie geht auf dem Zahnfleisch

An einem Samstag im November schwingt Jussi mit aller Kraft einen schweren Schlägel über den blanken Kopf und haut damit auf einen großen Gong. So feiern alle Patienten der Kinderkrebsstation, die die erste Therapiephase erfolgreich hinter sich gebracht haben: „Hoch die Hände, Chemoende“, steht auf einem Schild neben der runden Metallplatte.

Ein halbes Jahr später ist eine vierwöchige Familien-Reha angedacht. „Erst da haben wir gemerkt, wie sehr wir auf dem Zahnfleisch laufen“, sagt Esther. Die Diagnose selbst, die Trennungszeiten, der Schlafmangel, kein normales Familienleben: „Du kannst nicht allen gerecht werden. Ständig sitzt du zwischen den Stühlen und merkst erst später, wie sehr das alles geschlaucht hat.“ Die Familie muss die Reha, die im darauffolgenden März beginnt, nach zwei Wochen wegen Corona abbrechen. Sie soll wiederholt werden. Darauf freuen sich alle vier. Ihr größter Wunsch ist es, endlich wieder einen normalen Alltag zu führen.

An dem Abend, an dem Doktor Bello seine rote Mütze bekommt, sitzen die vier am Abendbrottisch. Jussi hampelt auf seinem Stuhl herum und stört sich gar nicht an den Ermahnungen seiner Eltern, erst zu beginnen, wenn alle sitzen, und sich nicht den ganzen Teller voller Gurkenscheiben zu laden. Er wippt hin und her, tritt heimlich unterm Tisch und verdreht die Augen dazu: ein ganz normaler Junge eben.

Stefanie Ramsperger arbeitet als freie Journalistin und Lektorin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit des Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC). Zuvor hat sie als Redaktionsleiterin und Redakteurin verschiedener Magazine gearbeitet. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Trauma nach Operation des Kindes: Hier bekommen Väter Hilfe

Mutter fragt sich nach OP verzweifelt: Wie kann ihr Mann mit der Angst um das Kind umgehen? Das rät ihr Expertin Hermine Nock.

„Wir haben nach der Geburt erfahren, dass unser Sohn einen Herzfehler hat. Er musste gleich operiert werden. Ich habe es mittlerweile ganz gut verarbeitet, aber mein Mann kommt nicht darüber hinweg. Er hat ständig Angst um unseren Sohn. Er hat das Trauma nicht aufgearbeitet und ist auch nicht der Typ, der über seine Gefühle redet. Wie kann ich ihm helfen?“

Wir hören in unserem Beratungsalltag sehr häufig, dass Mütter und Väter unterschiedlich mit „schlechten Nachrichten“ oder schwer krankem Familienzuwachs umgehen. Oft haben Mütter das Bedürfnis, darüber zu reden und Erfahrungen auszutauschen, während Väter im Internet aktiv sind oder sich in ihre Rolle als Ernährer zurückziehen. Auch sich aktiv Hilfe zu holen, scheint für Männer oft schwerer zu sein als für ihre Partnerinnen.

Männer leiden anders als Frauen

Manche leiden still, aber genauso intensiv – nur eben anders. Die Paarbeziehung gerät in den Hintergrund, die Eltern „funktionieren“ in der gemeinsamen Sorge um das herzkranke Kind. Für die Geschwister bleibt oft nicht mehr so viel Kraft und Zeit, wie diese es sich wünschen. Die sorgen sich ja auch und bräuchten viel Zuwendung und Erklärungen, warum jetzt alles so anders ist, seit das herzkranke Kind in die Familie kam. Ein Dilemma, für dessen Lösung die Familien Hilfe und Unterstützung brauchen.

Falls Sie es noch nicht getan haben, rate ich Ihnen, Hilfe über Eltern-Vereine in Anspruch zu nehmen. Bei Elterncoachings beispielsweise können Sie gemeinsam mit professionellen Coaches Ihre drängenden Fragen und Ängste besprechen und erhalten dort einen zuversichtlichen Blick in eine Zukunft mit dem oft chronisch herzkranken Kind. Und Sie lernen andere Eltern in ähnlichen Situationen kennen, mit denen Sie sich austauschen können. Coronabedingt tauschen sich Väter, Mütter und Coaches derzeit in Online-Seminaren aus, was den Vorteil hat, dass beide Eltern gleichzeitig anwesend sein können.

Angebote speziell für Väter

Die Eltern-Vereine verhelfen Ihnen auch zu einer Familienorientierten Reha (FOR). In Nachsorgekliniken können sich die belasteten Familien inklusive der Geschwister vier Wochen lang neu finden und Kraft tanken für den künftigen gemeinsamen Alltag. Dort gibt es auch Angebote speziell für Väter. Die Kosten trägt entweder die Renten- oder die Krankenversicherung.

Es gibt auch „Väter-Wochenenden“, die speziell die Bedürfnisse von Vätern ansprechen. In einem geschützten Raum können sie sich fallenlassen, sich jemandem anvertrauen und sich mit anderen Betroffenen austauschen. Hier können sie neue Methoden für den Umgang mit Rückschlägen erlernen und Kraft tanken.

Hermine Nock ist Geschäftsführerin beim Bundesverband Herzkranke Kinder e. V. 

Webtipps:

bvhk.de
kohki.de
herzkind.de
kindernetzwerk.de
evhk.ch
herznetz.ch

Facebookgruppe: „Eltern und Familien herzkranker Kinder“

Von Liedern und Tränen: Das erlebt eine Psychologische Beraterin auf der Isolierstation

Corona hat das Leben von Christina Ott grundlegend verändert. Als Beraterin steht sie Ärzten und Patienten zur Verfügung. Und hält auch mal die Hand zum Abschied.

Und wieder trete ich in voller Schutzmontur ans Bett einer schwer erkrankten Patientin. Eben wurde ihre Zimmernachbarin häppchenweise von mir gefüttert. Nun kann ich mich Frau W. zuwenden. Wir kennen uns schon. Heute wirkt die kleine Frau besonders zerbrechlich. Sie liegt schwach in ihren Kissen und schaut mich aufmerksam an. Die Sauerstoffmaske hat ihren Nasenrücken wundgescheuert. Ich greife behutsam ihre Hand. Unser Gespräch bringt uns zum Lied „Der Mond ist aufgegangen“. Frau W. freut sich, dass ich es auch kenne.

Erst beginne ich die Melodie zu summen. Dann fange ich einfach zu singen an. Frau W. stimmt mit kurzatmigen Textfetzen ein. Ich verlangsame mein Tempo, bis wir ein Gleichmaß gefunden haben. Als ich mich im Text verhasple, sagt Frau W. geduldig: „Das macht nichts“. Mitten in der vorletzten Strophe – der Strophe vom Sterben – weiß ich nicht mehr weiter. Beim Singen für meine Kinder hatte ich sie immer übersprungen. Die letzte Strophe kommt dann wieder flüssig: „… verschon‘ uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch.“

Irgendetwas tun im Corona-Chaos

Eigentlich hatte ich den Beruf der Krankenschwester vor einem Jahr an den Nagel gehängt. Nach zahlreichen psychologischen Ausbildungen wollte ich einer anderen Leidenschaft folgen. Deshalb ging ich im April 2020 in die Selbständigkeit als Psychologische Beraterin, Referentin und Autorin. Doch Corona machte mir einen Strich durch die Rechnung. Der Start verlief eher holprig. Viele Aufträge mussten abgesagt werden. Im Herbst schnellte die Zahl der registrierten Coronafälle in unserem Landkreis Schmalkalden-Meinigen dann nach oben. Die Thüringer Landesregierung startete einen Aufruf, mit dem medizinisches Personal reaktiviert werden sollte. Das ließ mich etwas in die Tat umsetzen, was schon länger in meinem Hinterkopf präsent war.

Anfang Januar bot ich dem Elisabeth-Klinikum Schmalkalden meine Mitarbeit als Krankenschwester an. Ich wollte wenigstens irgendetwas tun können in dieser akuten Notlage. Damit kam der Stein ins Rollen: Mein psychologisches Know-how stach der Pflegedienstleiterin ins Auge, der zuständige Chefarzt setzte sich für eine Anstellung ein und der Verwaltungsleiter machte es möglich. So fand ich mich innerhalb weniger Tage auf der Isolierstation wieder. Als Krankenschwester mit spezieller Aufgabenstellung.

Im Schutzanzug ist Naseputzen unmöglich

Durch diese neue Arbeit hat sich mein  Leben verändert. Angesichts der harten Realität, in die ich nun mit eingebunden bin, ist ein Stück meiner Leichtigkeit verflogen. Dafür kam mehr Tiefgang dazu. Das erlebe ich als Bereicherung. Natürlich ist persönliches Erleben immer ganz anders als Vermutungen aus sicherem Abstand. Schon am ersten Tag hatte ich Grundlegendes zu lernen: Schutzanzug anziehen? Ja sicher. Und dabei nichts verkehrt machen. Es geht schließlich auch um meine Gesundheit. Also konzentrieren und jedes Detail beachten. Wer erst einmal im Isolierbereich ist, sollte für längere Zeit dortbleiben. Naseputzen? Ist nicht möglich. Ich frage eine routinierte Kollegin, wie sie das Problem löst. Sie zuckt die Schultern und antwortet pragmatisch: „Hochziehen“. Was die gute Kinderstube verboten hat, bleibt hier als einzige Option. Genauso wenig ist es im Isoliertrakt möglich, einen Schluck Wasser zu trinken oder zur Toilette zu gehen.

Persönlichen Bedürfnisse werden automatisch zurückgestellt, um Covid-19-Patienten zu versorgen. Die Schwestern der Station machen das seit Monaten. Obwohl ihre Erschöpfung spürbar ist, tun sie tagtäglich diese schwere Arbeit: Pflege unter widrigsten Umständen. Keine Schwester hat das während ihrer Ausbildung in dieser Form gelernt. Das Gleiche gilt für Ärzte. Auf ihnen lastet enorme Verantwortung. Und eine wirkliche Entlastung ist nicht in Sicht. Das Telefon klingelt und holt meine abschweifenden Gedanken abrupt wieder ins Stationsgeschehen.

Patienten müssen mit Folie abgedeckt werden

Eine neue Patientin wird angekündigt für das eben freigewordene Bett. Zwei Schwestern ziehen los. Beim ersten Mal erschütterte der Vorgang mich noch: Der infektiöse Patient muss mit Folie im Bett oder Rollstuhl abgedeckt werden. Für sein Gesicht bekommt er behelfsmäßig ein Loch eingerissen. Auf diese Weise von vermummten Schwestern abgeholt werden, bedeutet seelischen Stress für die Menschen. Sie kommen über die Notaufnahme, von anderen Stationen oder werden im ambulanten Bereich „rausgefischt“. Wenn sich dann die Tür der Isolierstation hinter dem Patienten schließt, ticken die Uhren anders. Das Personal lässt sich nur noch über die Stimme oder über die Art der Bewegung wiedererkennen. Den schnellen Sprung ins Zimmer, um nach dem Rechten zu sehen, etwas nachzufragen oder auf die Klingel zu reagieren, gibt es auf der Isolierstation nicht.

Seltsame Behauptungen von Mitbürgern

Ärzte und Schwestern können nur ratlos den Kopf schütteln, wenn Mitbürger behaupten, es wäre alles nicht so arg und es gäbe keine Übersterblichkeit. Dabei wäre es doch ein Leichtes, Ärzte und Schwestern zu befragen, die tagtäglich mit dieser Thematik zu tun haben. Doch offensichtlich benutzen manche Menschen lieber andere Quellen. Solche Behauptungen reichen bis auf die Isolierstation. Schwestern erzählten mir, dass sie da schon krasse Episoden erlebt hätten. Es gab tatsächlich Patienten, die sich lächerlich machten über die notwendigen Schutzmaßnahmen. Das stelle man sich vor: Ausgerechnet die Menschen bekommen das an den Kopf geworfen, die sich selbst in Gefahr begeben, um die Ignoranten vor den schlimmsten Folgen zu schützen.

Corona ist fies

Meine eigene Sicht auf das Virus ist im letzten Jahr mitgewachsen. Ende März 2020 hatte ich mein druckfertiges Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ um ein aktuelles Kapitel ergänzt. Darin geht es um Mut in unsicheren Zeiten und es gibt erste Coronabezüge. Schon damals flößte mir das Virus Respekt ein. Gleichzeitig waren Zuversicht und Gottvertrauen immer meine Begleiter. Auf der Isolierstation steht mir nun deutlich vor Augen, was ich vorher eher mit dem Kopf verstanden hatte: wie tückisch und unberechenbar dieses Virus ist. Und wie massiv es unseren Anspruch auf ein Leben nach eigenen Vorstellungen hinterfragt. Ich erlebe nun ganz existenziell, was ich damals aus der psychologischen Perspektive so beschrieb: „Kaum etwas hilft uns mehr aus emotionaler Bedrückung, als etwas Sinnvolles tun zu können. Für uns und für andere.“

Als bunt zusammengewürfeltes Team funktionieren

Es fühlt sich einfach richtig an, hier zu sein als Ansprechpartnerin für medizinisches Personal. Die Ärzte nutzen dies im Rahmen von regelmäßigen Teamsupervisionen. Mit Schwestern ergeben sich die besten Gespräche beim gemeinsamen Arbeiten. Immer schwingen dabei persönliche Belastungen mit. Die eine hat Trouble in der Familie. Der andere macht sich Gedanken darum, wie sein Zwölftklässler demnächst das Abitur bewältigen wird. Leiharbeitskräfte sind weit weg von Zuhause und wissen nicht, wie sie die Freizeit in unserer derzeit „schlafenden“ Kleinstadt nutzen können. Unser Team auf der Isolierstation ist bunt zusammengewürfelt aus Pflegerinnen und Pflegern, die bereit gewesen sind, sich dort einsetzen zu lassen. Es stellt die Beteiligten täglich vor Herausforderungen, Hand in Hand zu arbeiten, ohne als echtes Team zusammengewachsen zu sein.

Ein Brief muss reichen

Ich komme mit einer unserer neuen Patienten, Frau Sch., ins Gespräch. Sie erzählt mir, dass ihr Mann ebenfalls im Haus liegt und noch gar nicht weiß, dass sie nun auch eingeliefert wurde. Nun will sie ihn besuchen – unmöglich. Ein weißes A4-Blatt hilft weiter. Die Patientin diktiert, ich schreibe. Gemeinsam suchen wir passende Worte, um den herzkranken Mann gleichzeitig informieren und beruhigen zu können. Der letzte Satz sprudelt aus Frau Sch. heraus: „Wir drücken uns gegenseitig die Daumen, dass wir noch viele schöne Stunden mit unseren Enkeln erleben können. Deine J.“ Anschließend bringe ich den Brief auf die andere Station. Ich darf ins Zimmer des Patienten. Er liegt zusammengerollt in seinem Bett. Die Langeweile lässt er gern unterbrechen. Nachdem ich den Brief vorgelesen habe, reiche ich ihn Herrn Sch. Er steckt das gefaltete Blatt mit einer raschen Bewegung unter sein Kopfkissen. In seinen Augen schimmern Tränen.

Ich möchte es den Menschen leichter machen

Natürlich gibt es Situationen, in denen auch ich nicht weiß, was ich sagen oder tun soll. Dann gebe ich trotzdem, was ich habe: ein offenes Ohr, ein weites Herz und den einen oder anderen weiterführenden Gedanken. Ich mag den Leitspruch der Pastorin Monika Deitenbeck-Goseberg, die kurz vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland verstarb. Sie sagte immer wieder: „Wir sind dazu auf der Welt, um es anderen leichter zu machen zu leben, zu lieben, zu leiden und zu glauben.“ Wie weise. So zeigt sich Christsein von der besten Seite. Deshalb bin ich gern dabei. Ich möchte es Menschen leichter machen – Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzten, Schwestern und den Verantwortlichen des Hauses. In unserer Menschlichkeit sind wir alle gleich bedürftig nach Zuspruch, Wertschätzung und Unterstützung. Als der Verwaltungsleiter unter seine Mail den kurzen Satz schrieb: „Schön, dass Sie bei uns sind“, war das eine echte Bestätigung für mich.

Abschied von Frau W.

Als ich Frau W. beim nächsten Dienst wieder aufsuche, liegt sie im Sterben. Leise singe ich ihr noch einmal das Lied vor – „Der Mond ist aufgegangen.“ Ich habe den Text inzwischen aufgefrischt. Frau W. öffnet die Augen und wendet mir ihr Gesicht zu. Später will sie nur noch, dass ich still bei ihr bleibe und ihr die Hand halte. Zwischendurch sagt sie ein paar Mal: „Du bist ein liebes Mädchen!“ Gerührt antworte ich ihr: „Und Sie sind eine freundliche Frau.“ Ihre Hand hält mich fest, sobald ich eine kleine Bewegung mache, um mich leise zu entfernen. Ich schmunzle und bleibe noch länger sitzen. Später frage ich sie: „Darf ich Ihnen noch einmal die Lippen anfeuchten?“ „Gerne.“ Ihre Hand löst sich. Mit einem Stielschwämmchen wische ich Frau W. vorsichtig über die Lippen. Dann streichle ich sie zart und verlasse mit einem Segensgebet im Herzen leise das Zimmer.

Christina Ott ist Psychologische Beraterin. 2020 hat sie ihr Buch „Unvollkommen glücklich – Vom Mut, ich selbst zu sein“ (Francke) veröffentlicht.

Demenz: „Wo ist Thomas?“ – Immer wieder fragt er Sybille nach seinem verstorbenen Sohn

Sybille Funk* begleitet ihren dementen Schwiegervater beim Sterben. Und muss ihm dabei immer wieder die Nachricht überbringen, dass sein Sohn tot ist.

„Wo bleibt Thomas? Warum kommt er nicht?“ – Die Worte klingen in mir nach, als ich das Pflegezimmer kurz verlasse und eine nie gekannte Schwere bleibt zurück.

Thomas, nach dem mein sterbender, demenzkranker Schwiegervater fragt, ist sein Sohn – mein Mann. Doch Thomas ist schon viele Jahre tot. Wieder und wieder werde ich ihm dies neu erklären müssen.

Die Enkel erkennt er bis zuletzt

Die Demenzerkrankung hat meinen Schwiegervater verändert. Was sich erst schleichend abgezeichnet hat, wurde nach und nach zu Gewissheit, bis die Betreuung in einem Pflegeheim unausweichlich war.

In den Jahren im Pflegeheim erkannte er mich immer, ebenso seine Enkelkinder. Obwohl mein Sohn im Ausland lebt und nur einmal im Jahr in Präsenz bei ihm vorbeischauen konnte, hielten wir die Erinnerung an ihn mit kurzen Videogrüßen wach. Die Freude war jedes Mal groß und zugleich war es herzbewegend, wenn mein Schwiegervater ihm lächelnd zuwinkte.

Fotoalben als Erinnerung

Mit der Erinnerung an kürzliche Besuche von Bekannten war es manchmal schwieriger. Doch spielerisch konnten wir es mit einer Fragerunde eingrenzen und freuten uns gemeinsam, wenn wir die Personen herausgefunden hatten. Meine Tochter besuchte ihren Opa gern, wenn sie vom Studienort zu Besuch war, blätterte mit ihm manchmal in Fotoalben und erinnerte sich mit ihm an schöne Ereignisse. Seit dem frühen Tod ihres Papas hatte sie eine besondere Beziehung zu ihrem Opa.

Immer wieder Trauer

Als ich nach der wochenlagen ersten Corona-Lockdown-Phase mit Maske bei ihm ins Zimmer trat, ging ein Lächeln über sein Gesicht und er begrüßte mich mit Namen. Die nächste Frage katapultierte mich schmerzhaft in die Vergangenheit zurück: „Wann kommt Thomas?“ Mit Tränen in den Augen versuchte ich, ihm behutsam zu vermitteln, dass sein Sohn bereits vor vielen Jahren gestorben ist. Es tat so weh, seinen erneuten Schmerz zu erleben und mich mit ihm noch einmal auf diesen Trauerweg zu begeben.

Der letzte Wunsch bleibt unerfüllt

Und nun stehe ich hier vor dem Pflegezimmer und kann dem Sterbenden diesen einen letzten Wunsch nicht erfüllen. „Wo bleibt Thomas?“ Diese Frage stellt er immer wieder. Aus seiner Sicht kann ich ihn so gut verstehen – können wir doch selbst seinen Enkel per Facetime zum Verabschieden ins Zimmer holen, weil ein Heimflug in Corona-Zeiten nicht möglich ist. Wieso also nicht seinen eigenen Sohn?

Ein tiefer Schmerz begleitet meine Tochter und mich in den nächsten Tagen am Bett des Opas und Schwiegervaters. Wieder und wieder gehen wir mit ihm erneut in die Anfangsphase der Trauer um den früh verstorbenen Sohn. Wir trauern noch einmal neu gemeinsam um den geliebten Menschen – bis zum Ende. Als mein Schwiegervater nach vier Tagen für immer ein einschläft, hoffe ich, dass er seinen Frieden bei Gott gefunden hat und seinen Sohn wiedersehen darf.

Ich würde es wieder tun

Manche fragten mich, warum wir nicht einfach gesagt hätten, Thomas würde noch kommen. Doch das wäre nach meiner Einschätzung nicht fair gewesen. Auch ein dementer Mensch hat das Recht, dass wir ehrlich zu ihm sind. Wichtig ist, ihn nicht allein zu lassen, sondern ihm immer wieder zu vermitteln, dass wir das gemeinsam bewältigen, dass wir für ihn da sind.

Ob ich es noch einmal so machen würde? Ja!

*Der Name wurde von der Redaktion geändert. Die Autorin ist der Redaktion bekannt.

Als beim knapp 18-jährigen Marius Skoliose diagnostiziert wird, ist seine Mutter zum Nichtstun verdammt

Marius ist fast volljährig, als bei ihm eine Krümmung der Wirbelsäule festgestellt wird. Die Entscheidung für oder gegen eine OP muss er eigenständig treffen. Für seine Mutter heißt das: loslassen.

Tag 1 nach der Operation meines 20-jährigen Sohnes: Ich stehe in der Intensivstation und sehe den erst wenige Stunden aus der Narkose zurückgeholten Marius. Es ist der Moment, den ich seit Monaten gefürchtet und doch auch herbeigewünscht habe, um die Anspannung des Ungewissen hinter mir lassen zu können. Marius’ Gesicht und Extremitäten sind geschwollen von Medikamenten. Er hat Schmerzen und hängt an Schläuchen und Geräten. Doch die mehr als siebenstündige OP ist der Beginn eines neuen Lebensabschnittes unseres Sohnes: ein harter, schmerzhafter Einschnitt, für den er sich selbst entscheiden musste.

Was ist Skoliose?

Gut zweieinhalb Jahre zuvor war bei Marius eine deutliche Skoliose festgestellt worden. Dabei handelt es sich um eine Wachstumsstörung, bei der sich die Wirbelsäule krümmt. Je nach Ausmaß dieser Fehlbildung können die inneren Organe in Mitleidenschaft gezogen werden. Zudem hat die Fehlhaltung Auswirkungen auf die gesamte Körperhaltung mit diversen Folgeproblemen. Marius stand bei Diagnosestellung kurz vor seinem achtzehnten Geburtstag und seinem Abitur. Fachärzte rieten zur Operation.

Er muss sich selbst entscheiden

Ein Schock für uns als Eltern: Hätten wir nicht früher aufmerksam werden müssen auf diese Fehlentwicklung? Und natürlich erst recht ein Schock für unseren Sohn: Er hatte sich bisher „normal“ gefühlt und galt plötzlich als behandlungsbedürftig. Seine Wirbelsäule sollte in einer OP aufgerichtet und mit Titanstäben in dieser Form gehalten werden. Im Verlauf eines Jahres würden die Wirbel über die aufgerichtete Strecke hin verknöchern, also unbeweglich werden. Zu einer Entscheidung für die Operation konnte Marius sich zunächst nicht durchringen. Als Eltern drängten wir anfangs, verstanden aber mit der Zeit: Er muss sich entscheiden, er muss mit den Folgen leben, auch mit einem – im schlimmsten Fall – misslungenen Eingriff.

Gerade noch minderjährig, jetzt Patient

Die Situation war für uns alle neu: Marius war volljährig. Das hieß einerseits: Als Eltern haben wir weder das Recht noch die Pflicht, eine Entscheidung zu forcieren, geschweige denn sie zu treffen. Andererseits war Marius überfordert mit der Situation: Gerade noch war er ein minderjähriger Schüler. Jetzt war er zum Patienten geworden, der Entscheidungen über Arztbesuche treffen und lange Fragebögen zu seiner Gesundheit ausfüllen musste. Ich konnte diese für uns alle neue Situation im Lauf der Zeit auch als Entlastung sehen: Ich bin nicht verantwortlich für die Konsequenzen jener Entschlüsse, die er trifft. Ich kann und will meinem Sohn aber auf seinem Weg mit der Skoliose zur Seite stehen. Und ich kann um Weisheit und Beistand für uns Eltern und für unseren Sohn beten.

Ein Mensch mit Fehlern und Schwächen

Mein anfängliches Drängen auf eine OP hatte etwas damit zu tun, dass ich alles wieder richten wollte: mein Versagen, die Fehlbildung schon früher zu erkennen. Und den Schmerz, dass mein gesund geborenes und sich zunächst normal entwickelndes Kind scheinbar plötzlich unter einer gravierenden Fehlbildung litt.

Nach und nach versuchte ich, diese Entwicklung zu akzeptieren. Ja, bei anderen Jugendlichen wird eine Skoliose früher entdeckt, und sie haben so die Chance, sie durch Tragen einer Orthese zu therapieren. Ja, auch ein gesund geborenes Kind kann Behinderungen und Krankheiten entwickeln. Ich trage als Mutter einen Teil der Verantwortung für die Entwicklung. Ich bin aber auch „nur“ ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Mich in Schuldgefühlen zu vergraben, würde weder Marius noch mir helfen. Entscheidend war, was in der konkreten Situation zu tun war. Das hieß für mich und für meinen Mann: sich informieren, Marius beraten, Arzttermine ausmachen, zu den Terminen begleiten und den Ärzten Fragen stellen, die Marius nicht in den Sinn kamen.

Die Situation verschlimmert sich

Anfangs musste ich mich zur Gelassenheit zwingen, später konnte ich sie zu einem gewissen Grad finden. Ich sprach das Thema der OP nur gelegentlich an. Ich nahm Kontakt zu einer Skoliose-Selbsthilfegruppe auf. Meine dort gewonnenen Informationen wollte Marius für sich aber nicht annehmen. Erschreckend für uns war, dass sich innerhalb der zwei Jahre seit der ersten Röntgenaufnahme der Zustand seines Rückens noch einmal massiv verschlechtert hatte. Bei schlechterer Ausgangslage sind auch die Korrekturmöglichkeiten weniger optimal. Allerdings hatte Marius nun auch öfter Rückenschmerzen und war dadurch mehr motiviert, die OP in Angriff zu nehmen. Wieder kamen bei mir Schuldgefühle auf: Hätte ich, hätten wir ihn doch mehr drängen sollen?

Marius hat uns Eltern nie dafür verantwortlich gemacht, dass seine Skoliose erst so spät erkannt wurde. Er ist ein Pragmatiker, der seine Lebensaufgaben möglichst ressourcensparend angeht. Über Gefühle spricht er kaum, Schmerzen werden erst im Nachhinein erwähnt. So erfuhren wir zum Teil erst nach der Operation, wie eingeschränkt er zuvor war.

Mit Kummer in der Kirche

Im Sommer 2019 fiel schließlich der Entschluss zur OP. Im November sollte der Termin sein. Erneut war ich emotional sehr mitgenommen. Meine Gebete wurden sehr intensiv. Oft betrat ich im Vorbeigehen eine der Kirchen unserer Stadt, um meine Sorgen und Ängste vor Jesus zu bringen. Ich rang dabei um die rechte Haltung: Ich wollte und durfte Gott meinen Kummer, meine Ängste und Sehnsüchte vor die Füße legen. Zugleich aber wollte ich Gott nicht beschwören: „Du musst doch, wenn ich so bitte!“ – Nein, musste er nicht!

In den Händen des OP-Teams

Die Zeit bis zum Eingriff schien sich ewig hinzuziehen. Ich war nervös, schlief schlecht und wollte doch meinem Sohn eine Stütze sein. Dieser brauchte Hilfe, war deswegen aber auch genervt. Er, der doch seinen Kram sonst allein macht und kein Kind mehr ist, wird nun wieder mit allerlei Ratschlägen belästigt.

Schließlich mussten wir unseren Sohn in die Hände eines OP-Teams übergeben, wohl wissend, dass er letztlich in Gottes Hand liegt. Marius’ fast acht Stunden dauernder OP schloss sich eine Nacht in Narkose an. Die diensthabende Ärztin der Intensivstation sprach am späten Abend sehr empathisch zu uns: „Er ist noch in Narkose, es geht ihm gut, versuchen sie zu schlafen.“ Ich fand es sehr einfühlsam von ihr, uns damit die „Erlaubnis“ zum Schlafen zu geben: Wir konnten im Moment nichts für ihn tun, würden unsere Kräfte noch brauchen.

Schwere Tage

Marius verbrachte drei Tage auf der Intensivstation und eine Woche auf der Normalstation. Es war schwer für mich zu sehen, dass er Schmerzen hatte. Und es war schwer, das endgültige Ergebnis der OP wegen des langen Heilungsprozesses noch nicht wissen zu können.

Aber Marius hatte – mit Gottes Hilfe – diesen großen Eingriff hinter sich gebracht und wir mit ihm. Und nachdem wir uns erst nicht vorstellen konnten, wie er zu Hause zurechtkommen sollte, so eingeschränkt wie er war, erlebten wir es wie ein Wunder, als alle Drainagen und Infusionen und Katheter nach einigen Tagen entfernt worden waren, wie er – zwar mühevoll – allein zur Toilette ging und ein paar Schritte den Flur auf und ab gehen konnte. Am Tag der Entlassung schließlich brauchte er im Bad, beim Anziehen und Essen keine Hilfe mehr.

Corona wird zum Glücksfall

Zu Hause ging es langsam, aber stetig aufwärts. Marius schaffte es pragmatisch – wie es seine Art ist –, nach und nach von den schweren Schmerzmitteln loszukommen und den Alltag zu bewältigen. Die Nachuntersuchung nach drei Monaten verlief zufriedenstellend. Marius klinkte sich im Sommersemester wieder in das für ein Semester unterbrochene Studium der Verfahrenstechnik ein. Er gehörte zu den „Corona-Gewinnern“: Die Veranstaltungen fanden online statt, Marius konnte sie vom bequemen Stuhl am heimischen Schreibtisch aus verfolgen.

Ich bin dabei zu lernen, die Behinderung meines erwachsenen Sohnes endgültig in seine Verantwortung zu übergeben. Und zu respektieren, dass er mit Erfahrungen anders umgeht als ich. Wo ich reflektiere, schreibe, Lehren zu ziehen versuche, sagt er, auf möglicherweise gewonnene Erfahrungsschätze aus dem Krankenhausaufenthalt angesprochen: „Das war ’ne Scheißzeit, was soll ich da viel drüber nachdenken.“

Keine „Skoliose-Mutter“

Und so erlebe ich nach wie vor die Unsicherheit darüber, was dieser Sohn von mir braucht. Wahrscheinlich bräuchte er so manches, aber ich bin oft nicht (mehr) die, die es ihm geben kann. Er ist erwachsen und muss auch hier seinen Weg gehen und gegebenenfalls Wegbegleiter finden. Nach der Corona-Zeit will ich die Skoliose-Selbsthilfegruppe noch einmal besuchen, um von unseren OP-Erfahrungen zu berichten. Das werde ich gern tun, mich dann aber dort verabschieden. Mein Sohn ist erwachsen, er braucht keine „Skoliose-Mutter“, die seine Gesundheit zu ihrem Problem macht. Aber eine Mutter, die für ihn betet und ihm – wo nötig – zuhört, möchte ich ihm noch lange sein.

Die Autorin möchte anonym bleiben.