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Der kleine Justus kämpft gegen die Leukämie – Warum die Eltern die Hoffnung nicht aufgeben

Wie ein Kometeneinschlag trifft Familie Müller die Krebs-Diagnose ihres damals fünfjährigen Sohnes. Über Leid, Hoffnung und grenzenlosen Optimismus.

„Papa!“, jubelt Jussi und springt Andy in die Arme, als er an diesem Abend nach Hause kommt. Eine Minute später ist er schon wieder unterwegs, turnt über einen Sessel, robbt unter einem Stuhl durch, kippt seine Legokiste aus – krawumm! Der Siebenjährige ist schnell, laut, lebhaft. Mit seinen dunkelblauen Augen und den blonden Haaren sieht Justus, wie er richtig heißt, aus wie ein Lausebengel. Eine Ahnung davon, dass sein Kopf voller Streiche steckt, bekommt man, wenn man Jussi nur ein paar Minuten dabei beobachtet, wie er durch das gemütliche, großzügige Haus von Familie Müller tobt. Stillsitzen ist nicht Jussis Ding.

Im Frühjahr 2019 sieht das ganz anders aus: Jussi hat die Grippe und fühlt sich danach schlapp. Er ist sehr anhänglich, will lieber kuscheln statt spielen. Sein Schwimmkurs strengt ihn über die Maßen an, und zu Hause friert er noch so sehr, dass Mama Esther ihn in eine Decke wickelt. Nachwirkungen der Grippe, denkt sie. Das denkt auch der Kinderarzt, den die Familie erneut aufsucht, als Jussi zwei Wochen später immer noch merkwürdig blass aussieht und antriebslos ist.

„Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist“

Als der damals Fünfjährige nach weiteren zwei Wochen noch schlapp wirkt und über Druck an einem Auge klagt, sucht Esther wieder den Kinderarzt auf. Ein großes Blutbild wird gemacht. Weil die Arztpraxis einer Klinik angeschlossen ist, kommen die Laborwerte noch am selben Tag. „Ich wusste, dass irgendetwas im Busch ist, weil ich allein zur Ärztin reingehen und die Sprechstundenhilfe bei Jussi bleiben sollte“, erzählt Esther. Die Kinderärztin fängt an, von weißen Blutkörperchen zu sprechen. „Ich habe gleich gesagt: ‚Leukämie, oder?‘“, erinnert sich Esther. Ja, der Verdacht steht im Raum. Esther soll mit Jussi sofort in die Klinik.

Andy ist zu der Zeit dienstlich unterwegs. Er arbeitet als Jugendevangelist und ist auf einem Ferien-Festival, um jungen Menschen von Gott zu erzählen. Dass seine Schwester sich an diesem Tag für einen Besuch bei seiner Frau und den Kindern angekündigt hat, ist ein Segen, denn so kann sie Jussis drei Jahre älteren Bruder Noah von der Schule abholen, während Esther und Jussi in der Klinik sind.

Diagnose Leukämie

Es ist ein Freitagmittag, als Esther erstmals die Kinderonkologie im Kasseler Klinikum betritt. Es ist ruhig auf der Station. Weil Jussi als Notfall eingeliefert wird, kümmert sich sofort ein Onkologe um ihn. Sein Hämoglobin-Wert liegt bei 4,9 – lebensbedrohlich. Normal für Kinder seines Alters ist ein Hb-Wert zwischen 12 und 15. Dass Jussi viel zu wenige rote Blutkörperchen im Blut hat, erklärt auch seinen Augendruck. Nach einer weiteren Blutuntersuchung, Ultraschall, Herz-Screening und EKG bestätigt sich der Verdacht: Jussi hat Leukämie.

Die Diagnose trifft die Familie wie ein Kometeneinschlag. „Wenn du so etwas erfährst, funktionierst du einfach“, sagt Esther. „Du stehst so unter Adrenalin, da denkst du gar nicht viel.“ Sie klingt abgeklärt, wenn sie darüber spricht. Daran, dass ihr Kind sterben könnte, denkt sie keinen Augenblick, sagt Esther. Sie ist eine Pragmatikerin und Optimistin, genauso wie ihr Mann Andy. Als dieser von der Krankheit seines Jüngsten erfährt, befindet er sich inmitten von frohen Menschen in Ferienstimmung. In wenigen Minuten soll er ein Seminar geben und dabei Jesus verkündigen. Das Seminar findet wie geplant statt, die private Sorge merkt ihm niemand an. Danach zieht Andy sich zurück und kann die Tränen nicht unterdrücken. Für ihn ist es ein Segen, dass ein guter Bekannter, der damalige Vorsitzende des Gnadauer Verbandes, vor Ort ist, dem er sein Herz ausschütten kann. Danach fährt Andy heim zu seiner Familie.

90 Prozent Hoffnung

Die Ärztin erklärt Andy und Esther, dass Jussi unter einer Form von Leukämie leidet, die sehr gut erforscht sei und bei der Betroffene mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent wieder gesund werden. Das beruhigt die Eltern. Esther ist keine, die die Möglichkeit der schlechten zehn Prozent in den Fokus rückt. Sie sagt sich: 90 Prozent ist eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass alles wieder gut wird. Nie wollen sie und ihr Mann Andy fragen: „Warum wir?“, sondern immer: „Wie gehen wir damit um?“

An der Form von Leukämie, die bei Jussi diagnostiziert wird, erkranken in Deutschland jedes Jahr rund 500 Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren. 90 Prozent von ihnen leben nach fünf Jahren krankheitsfrei. Erkrankt ein Kind zum zweiten Mal, sinkt die Überlebensrate drastisch auf nicht einmal 40 Prozent.

Ein fast normales Leben

Die Krankheit wird mit Chemotherapie behandelt. Dabei bekommt das Kind Medikamente, die das Zellwachstum hemmen und die Krebszellen abtöten sollen. Jussis Therapie wird in drei Abschnitte eingeteilt. Er ist bei unserem Treffen kurz davor, die zweite Therapiephase abzuschließen, bei der er zu Hause wohnen und weitgehend normal leben und zur Schule gehen kann. Alle zwei Wochen steht ein Termin im Klinikum an. Danach werden seine Blutwerte regelmäßig kontrolliert, bis er 18 Jahre alt ist.

Jussi ist an diesem Winterabend besonders gut drauf, denn sein Stoffhund hat heute eine neue rote Mütze bekommen. „Dreimal darfst du raten, wie der heißt“, sagt er und hält das schwarzbraune Fellknäuel hoch. „Bello“ heißt er, aber eben nicht nur. Bello ist Akademiker: Doktor Bello bitte! Doktor Bello war von Anfang an in der Klinik dabei, ebenso wie Krankenschwester Hasi und der Papagei Bobo, Krankenwagenfahrer.

„Doktor Bello hat den Ärzten immer erklärt, was sie machen sollen“, erinnert sich Papa Andy. Einmal soll Doktor Bello draußen warten. Als Jussi aus dem Behandlungszimmer kommt, findet er Bello liebevoll auf eine Decke drapiert. Vor ihm steht ein Fressnapf mit einer echten kleinen Leberwurst in Folienverpackung, neben ihm liegt ein bisschen Hundespielzeug.

Dauerhaft auf der Kinderkrebsstation

Es sind kleine Episoden wie diese, die Müllers von der Zeit im Krankenhaus erzählen. Ein halbes Jahr lang ist Jussi nur mit kleinen Unterbrechungen dauerhaft auf der Kinderkrebsstation. „Das Personal wird zu deiner zweiten Familie“, sagt Andy. Sie hätten gute Gespräche geführt und auch viel gelacht. Natürlich habe es auch diese andere Seite gegeben, erzählt Esther, und schildert, wie sie einmal das Bild eines kleinen Mädchens auf einem Altar im Gang sieht. Oder wie ein krebskranker Junge kurz vor einer Operation erfährt, dass er möglicherweise einen zweiten Tumor hat. „In dem Fall können wir nichts mehr für ihn tun“, lassen die Ärzte die Eltern des Jungen wissen.

Auch für Esther und Andy ist die Zeit nicht nur wegen der Diagnose an sich eine Belastungsprobe: Jeden zweiten Tag wechseln sie sich ab, wer im Krankenhaus bleibt und wer sich zu Hause um Jussis Bruder kümmert. Die Nächte sind kurz, weil das Elternteil in der Klinik jede Stunde aufstehen muss, um dem Kind zu helfen, damit die Medikamentengabe reibungslos laufen kann. „Besonders am Wochenende langweilst du dich, weil nichts passiert“, sagt Andy. Er habe es gefeiert, als er den Infusionswagen dazu gebracht habe, nicht länger nervtötend zu quietschen.

Klinikclowns helfen gegen die Monotonie

Während der ersten Behandlungsphase muss die Umgebung keimfrei sein, weil das Immunsystem des kleinen Patienten komplett heruntergefahren ist. Daher sind die Spielmöglichkeiten begrenzt. „Du kannst nicht ununterbrochen vorlesen“, sagt Esther. Umso dankbarer ist sie für Abwechslungen im Klinikalltag wie den Klinikclown, das Sandmännchen, das die Kinder abends besucht, und den Erzieher, der auf der Station für alle Kinder da ist.

„Das Personal war cool“, sagt Andy. Gut informiert über das, was passiert, fühlen sich Müllers immer. Das ist wichtig, denn so sind sie auch auf das, was mit dem Kind passiert, vorbereitet: Es gibt Wochen, in denen die Medikamente für extreme Stimmungsschwankungen beim Kind sorgen. Andere Medikamente lösen Heißhungerattacken aus. Jussi verliert seine Haare.

„Die Krankheit ist eine Riesen-Scheiße“, sagt Andy, doch er und Esther suchen immer auch gute Momente. Weil Andys Mutter ebenfalls an Krebs erkrankt ist, hat auch sie keine Haare. Als Jussi seine verliert, solidarisieren sich die beiden Glatzköpfigen und die Oma setzt dem Enkel ihre Perücke auf. Andy lacht herzlich, als er sich an die Situation erinnert. Dass Esther und er sich diese positive Sicht aufs Leben erhalten können, empfinden sie als Geschenk. Dass auch Jussi ein geborener Optimist ist, hilft ungemein. Als Andys Mutter im Mai 2019 stirbt, sagt Bruder Noah: „Oma ist ja jetzt an Krebs gestorben, und Jussi hat ja auch Krebs …“ Jussi fällt ihm ins Wort: „Ja, aber ich habe doch einen ganz anderen Krebs!“

Wie ein kompletter Lockdown

Dass Jussi mit der eigenen Situation so optimistisch umgeht und dass er ein sehr unkomplizierter Patient ist, macht es auch den Eltern leichter. „Jussi hat das alles auch als Abenteuer erlebt“, meint Andy: „Er hat im Schwesternzimmer vor den Monitoren gesessen und war ganz in seinem Element, wenn er Sachen gesagt hat wie: ‚Auf der 3 ist der Puls zu hoch!‘“ Einmal sagt Jussi, der den Fußballern vom BVB die Daumen drückt, zu einer Ärztin: „Ich rede heute nicht mit dir!“ – „Wieso? Was habe ich gemacht?“ – „Du bist Bayern-Fan!“

Neben der Tatsache, dass Jussi gut kooperiert, nehmen Esther und Andy ihr christliches Umfeld als sehr hilfreich wahr. Beide haben christliche Arbeitgeber, die sie mit großer Selbstverständlichkeit unkompliziert von heute auf morgen freistellen. Ihr Hauskreis, eine Kleingruppe in ihrer Kirchengemeinde, leistet praktische Hilfe. „Gold wert“ sei das gewesen, sagt Esther. Als Jussi nach vier Wochen erstmals für ein paar Tage nach Hause darf, hat der Hauskreis das komplette Haus geputzt, damit alles möglichst keimfrei ist. „Das hätten wir unmöglich allein geschafft“, sagt Esther, zumal ja immer nur ein Elternteil zu Hause sein kann. Dass der Freundeskreis die ganze Zeit den Kontakt hält und nicht nur fürs Kind, sondern auch für die Eltern betet, schätzen Andy und Esther ungemein. „Du kannst ja nirgendwo mehr hin, es ist wie ein kompletter Lockdown für dich selbst, nur, dass draußen das Leben weitergeht“, sagt Esther.

Eine kleine Gebetserhörung

Eine Freundin aus dem Hauskreis arbeitet zufälligerweise auf der Station in der Kinderklinik, auf die Jussi kommt. Auch das hilft. Zusammen mit den Freunden, Bekannten und ihren Familien beten Andy und Esther viel. Einmal bekommt Jussi Fieber. Das ist schlecht, weil es die Therapie zurückwirft. „Ich habe gebetet, und das Fieber ging zurück“, sagt Andy. Dabei stellt er klar, dass natürlich nicht jedes Gebet erhört wird und es nicht unbedingt eine Beziehung zwischen „richtig“ oder „genug“ gebetet und dem Ausgang einer Situation gibt. „Aber das haben wir als Geschenk genommen“, sagt er.

Der hoffnungsvolle und optimistische Umgang von Müllers mit ihrer Situation bleibt nicht unbemerkt. An einem Abend kommt eine Schwester zu ihm: „Du, Andreas, du bist doch handwerklich so’n bisschen begabt. Im Nebenzimmer tropft die Dusche.“ Sie zögert. Und dann: „Das Kind hat eine Krankheit, die ihr gut kennt. Es täte denen gut, wenn ihr mal mit denen redet.“

Die Familie geht auf dem Zahnfleisch

An einem Samstag im November schwingt Jussi mit aller Kraft einen schweren Schlägel über den blanken Kopf und haut damit auf einen großen Gong. So feiern alle Patienten der Kinderkrebsstation, die die erste Therapiephase erfolgreich hinter sich gebracht haben: „Hoch die Hände, Chemoende“, steht auf einem Schild neben der runden Metallplatte.

Ein halbes Jahr später ist eine vierwöchige Familien-Reha angedacht. „Erst da haben wir gemerkt, wie sehr wir auf dem Zahnfleisch laufen“, sagt Esther. Die Diagnose selbst, die Trennungszeiten, der Schlafmangel, kein normales Familienleben: „Du kannst nicht allen gerecht werden. Ständig sitzt du zwischen den Stühlen und merkst erst später, wie sehr das alles geschlaucht hat.“ Die Familie muss die Reha, die im darauffolgenden März beginnt, nach zwei Wochen wegen Corona abbrechen. Sie soll wiederholt werden. Darauf freuen sich alle vier. Ihr größter Wunsch ist es, endlich wieder einen normalen Alltag zu führen.

An dem Abend, an dem Doktor Bello seine rote Mütze bekommt, sitzen die vier am Abendbrottisch. Jussi hampelt auf seinem Stuhl herum und stört sich gar nicht an den Ermahnungen seiner Eltern, erst zu beginnen, wenn alle sitzen, und sich nicht den ganzen Teller voller Gurkenscheiben zu laden. Er wippt hin und her, tritt heimlich unterm Tisch und verdreht die Augen dazu: ein ganz normaler Junge eben.

Stefanie Ramsperger arbeitet als freie Journalistin und Lektorin und leitet die Öffentlichkeitsarbeit des Jugendverbands „Entschieden für Christus“ (EC). Zuvor hat sie als Redaktionsleiterin und Redakteurin verschiedener Magazine gearbeitet. Sie ist verheiratet und hat eine Tochter.

Real Life Guys: YouTube-Star hat Krebs im Endstadium – Wieso er die Hoffnung nicht verliert

Die Ärzte geben dem YouTuber Philipp Mickenbecker (The Real Life Guys) noch maximal zwei Monate zu leben. Trotzdem sprudelt er im Video vor Lebensfreude.

Eigentlich bauen die Brüder Philipp und Johannes Mickenbecker U-Boote aus Badewannen, Seilbahnen und menschliche Drohnen. Am Wochenende zeigte Philipp seinen 1,2 Millionen Abonnenten eine ganz andere Lebensrealität auf: Er hat Krebs, bereits zum dritten Mal. „Der Arzt hat mir einfach gesagt, dass es sehr, sehr schlecht aussieht und dass der Tumor schon im Endstadium ist und dass er mir tatsächlich nur noch zwei Wochen bis zwei Monate zu leben gibt“, sagt er im Video.

Medizinisch aussichtslos, trotzdem hoffnungsvoll

Die Krankheit begleitet Philipp schon seit seiner Jugend. Zwei Mal schien der Tumor bereits besiegt. Drei Jahre lang konnte der YouTube-Star ohne Schmerzen leben. Die Geschichte seiner Heilung beschreibt er in seinem jüngst erschienenen Buch „Meine Real Life Story“ (Adeo-Verlag). Alles schien gut – bis die Schmerzen zurückkamen. Eine Untersuchung zeigte, wie schlecht es um den 23-Jährigen steht. Medizinisch gesehen gebe es keine Möglichkeit, den Krebs zu bekämpfen, erzählt er im Video. Trotzdem ist er voller Hoffnung.

„Auf übernatürliche Weise gesund geworden“

Der Grund: Philipp Mickenbecker ist nach eigener Aussage überzeugter Christ. Dass er den Krebs bereits zwei Mal überlebt hat, erklärt er sich durch das Handeln Gottes: „Ich lag damals ja wirklich im Sterben und bin da auf übernatürliche Art und Weise gesund geworden“, sagt er.  Er glaube, dass es jemanden gebe, der einen Plan mit ihm und „dieser ganzen Sache“ habe.

Schwester starb durch Unfall

Diese Überzeugung hatte Philipp nicht immer. Über Jahre fand er Kirche nach eigener Aussage einfach langweilig. Dann stirbt die Schwester der YouTuber bei einem Flugzeugabsturz. Es folgt die Krebserkrankung. „Durch diese schweren Zeiten haben wir zu Gott gefunden. Ich habe Gott als jemanden erlebt, der mich durchträgt, tröstet und Hoffnung schenkt.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Außerdem will er zukünftig darüber auf dem YouTube-Kanal „Life Lion“ erzählen.

Erster Schritt entscheidend

Den Hauptkanal „The Real Life Guys“ wollen die beiden Brüder übrigens so lange wie möglich weiterführen. Darin zeigen sie, wie sie aus Alltagsgegenständen ungewöhnliche Dinge bauen. Ihr neustes Projekt ist ein U-Boot aus einem Gastank. „Wir wollen unsere Zuschauer motivieren, ihre Ideen umzusetzen. Dabei ist der erste Schritt entscheidend. Wenn du nicht loslegst, bleibt es nur bei einer Idee“, sagte Philipp in einem Interview mit der Zeitschrift Teensmag.

„Ein Wunder“: Vier Mal kämpft Simone gegen den Krebs – und siegt

Mit 13 Jahren wurde bei Simone Heintze das erste Mal Krebs diagnostiziert, ein Lymphdrüsentumor. Dreimal kommt die Krankheit zurück, davon einmal als Brustkrebs. Heute ist Simone Heintze 46 und gilt als geheilt. „Ein Wunder“, sagt sie.

Simone Heintze hat ein gelbes Tuch umgebunden. Gegen den Wind. Ein luftiger Sommertag in Herne im Ruhrgebiet, ein paar Wolken am blauen Himmel. Eine Kanne Tee, Kekse, ein Schälchen mit Kirschen, die sie vom Besuch in ihrer württembergischen Heimat am Wochenende mitgebracht hat. „Wir sitzen in einem windigen Eckchen“, lächelt sie. „Es erinnert mich an die See“.

Aus Krankheitsgründen Rente

Sie erzählt von ihrem Ehrenamt als „Versichertenälteste“ bei der Deutschen Rentenversicherung Westfalen. Als nach der dritten Chemo 2017 klar war, dass sie nicht mehr würde arbeiten können, hat sie sich dem Ehrenamt gewidmet. Einmal die Woche macht sie jetzt Rentenberatung „für Leute wie mich“, die aus Krankheitsgründen berentet werden. Die Arbeit macht ihr Freude, und „ich weiß, wie sie sich fühlen; diese Empathie tut kranken Menschen gut“.

Sorge um die Kinder

Wir sind mitten im Thema. Wie ist es, wenn das Leben durchgerüttelt wird? „Da ist alles drin“, sagt Simone Heintze nachdenklich. Zeitweise war es „ein Kampf“. Erschöpft hat sie in manchen Phasen gesagt: „Ich will und kann nicht mehr!“, als Jugendliche schon gefragt: „Was soll dieses Leben?“ Sie empfindet es als „Gnade, dass ich nicht bitter geworden bin“. Manchmal hat sie trotzig gesagt: „Ich schaff das schon …“ Ist es gut, das zu sagen, oft wider alle Vernunft? „Für einen selber manchmal ja“. Am Anfang einer Krankheitsphase ist so ein Satz auch „eine Botschaft an die Kinder: dass sie nicht in Panik geraten“. Das war bei den Erkrankungen 2013 und 2017 ihre größte Sorge. „Manchmal sagt man sowas auch unbewusst, um die anderen zu beruhigen.“

„Meine Ehe hat’s nicht überstanden“

„Echt schlimm“ war für Simone Heintze die Trennung von ihrem Mann, 2013, im Zuge ihrer Brustkrebserkrankung: „Die Chemo war schon schlimm, aber die Trennung hat das noch getoppt.“ Für sie „war immer klar: Ich bleib mein Leben lang verheiratet. Ich dachte: Irgendwie findet man wieder einen Weg zueinander.“ Es kommt anders. Sie schüttelt den Kopf: „Dass das so auseinanderdriftet, dass wir uns überhaupt nicht mehr kennen, dass jeder sich so verändert – das war erschreckend! Da knabber‘‚ ich heut noch dran.“ Sie möchte nicht näher darüber reden, auch mit Rücksicht auf ihren Ex-Mann. Nur so viel: „Meine Brustkrebserkrankung hab ich überlebt, aber meine Ehe hat’s leider nicht überstanden.“

Endlich wieder Haare

Sie streicht ihre Haare zurück, die der Wind zerzaust. Eine leichte Bewegung nur, aber eine wichtige. Weil neben den medizinischen Fragen auch kosmetische eine Rolle spielen. Andere können die Krankheit sehen. „Auch wenn man selbst morgens die Glatze sieht, wird einem bewusst: Du bist richtig krank!“ An manchen Tagen, wenn sie partout keine mitleidigen Blicke ertragen konnte, hat sie ihre Perücke aufgesetzt – und öfter Komplimente für die „schicke Frisur“ erhalten, schmunzelt sie. Perücken sind mittlerweile so gut, dass viele nicht merken, dass man eine trägt. Vor allem aber freut Simone sich, dass die Haare bei ihr schnell nachwachsen. Nach der letzten Therapie begann es „mit einem weichen Kükenflaum“. Ihre Kinder haben ihr danach doppelt gern über den Kopf gestreichelt. „Selbst die Ärzte fanden das toll! Mein Arzt, Dr. Abdallah von den evangelischen Kliniken Gelsenkirchen, sagte: ‚Ich muss einmal über Ihre Haare streichen‘.“

Kerzenflashmob

Simone Heintze deutet auf ein mehrstöckiges Gebäude nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt: „Da drüben ist übrigens meine Klinik, das Marienhospital Herne, wo ich in Behandlung war.“ Sie arbeitet da noch als „Grüne Dame“ in der Onkologie und läuft immer mal ihrem Onkologen Professor Strumberg über den Weg. Zu ihren Ärzten hat sich ein „inniges Verhältnis“ entwickelt. „Sie standen wie eine Wand hinter mir, haben mir signalisiert: Wir gehen mit Ihnen zusammen da durch.“ Besonders, als sich ihr Zustand während der Behandlung 2017 dramatisch verschlechtert, eine Lungenentzündung und eine Herzmuskelentzündung sich einschleichen, ihr Leben zeitweilig am seidenen Faden hängt. Es geht ihr „grottenschlecht“, als Prof. Strumberg sagt: „Wir schaffen das zusammen.“ Und Dr. Abdallah nimmt bei Gesprächen ihre Hand in seine, sendet das Signal: Jetzt passe ich auf Sie auf! Dazu kommt eine WhatsApp-Gruppe mit etwa 35 Freunden und Bekannten, aus ihrer Kirchengemeinde, die fast rund um die Uhr für sie beten. Als es ihr besonders dreckig geht, entzünden alle bei einem „Kerzenflashmob“ eine Kerze für sie.

Mehr als Glück

Die Behandlung ist erfolgreich, Simone Heintze als geheilt entlassen. Es war „ein ganzes Gebilde“, das sie mit ihrer Familie da durchgetragen hat. „So, wie ich jetzt dastehe, nach vier Erkrankungen, Chemotherapien, körperlichen Torturen, nach der Herzerkrankung – das kann sich keiner erklären.“ Wieder lächelt sie: „Ärzte tun sich ja schwer, ein Wort wie ‚Wunder‘ in den Mund zu nehmen, vor allem ein göttliches Wunder. Sie sagen dann: Da ist etwas passiert, was wir uns unter normalen Umständen nicht erklären können …“ Für sie ist klar: „Ich sehe es als Wunder; nicht nur eins, sondern viele Wunder sind da passiert. Was Menschen unmöglich ist, das macht Gott möglich.“

„Gott ist bei mir!“

Die Erfahrungen der vergangenen Jahre haben sie gelassener gemacht. Natürlich hat sie Zweifel gehabt: „Gott, hast du mich jetzt doch vergessen?!“ Auch ihre Kinder fragen: Wie kann Gott das zulassen, wo du doch so gläubig bist?! Simone sagt: „Ihr habt recht, aber kein Christ schwebt auf einer rosaroten Wolke.“ Viel wichtiger findet sie „die Erfahrung: Ich bin nicht allein, Gott ist bei mir! Das erlebt man aber nur, wenn’s einem so geht“.

Original Sylter Korb, blau-weiß

Simone Heintze sitzt bei sich im Garten, in einem blau-weißen Strandkorb: ein Sylter Original, vor Jahren auf der Insel ausrangiert. Ein Erinnerungsstück und Geschenk von ihrem Ex-Mann zum 40. Geburtstag. Hier kommt alles zusammen: Sylt ist „meine Erholungs- und Seeleninsel“. Der Blick übers Meer hilft ihr, „als ob die Weite auch mein Inneres weitet“. Eine Erinnerung an 20 Jahre Familien-Urlaub auf der Insel: „Ich war 20 Jahre verheiratet, da war ja nicht alles Mist …“

Heulend auf dem Abiball

Hat sie Träume für die Zukunft? Sie möchte Freunde besuchen, Zeit zum Zuhören haben. Sie freut sich darauf, viel mit ihren Kindern zu erleben, zu sehen, wie sie selbstständig werden, mitfeiern zu können. Als ihr Sohn 2015 seinen Abiball gefeiert hat, hat Simone erst mal geheult – sie hätte nicht gedacht, dass sie das noch erleben würde. „Die Lebensfreude ist bei mir immens. Ich mache mir bewusst, wie viel ich schon erlebt habe, wie viel Wertvolles entstanden ist. Diese Dankbarkeit gibt mir Mut für die Zukunft.“

Über ihren Kampf gegen den Krebs hat Simone Heintze zusammen mit Julia Fiedler auch ein Buch geschrieben: „Wäre schön blöd, nicht an Wunder zu glauben“ (Gerth Medien).

„Mein Kind war dabei zu erlöschen“ – So erlebte Katharina die Krebserkrankung ihres Kindes

Für Katharina Weck ändert sich alles, als ihr Sohn Phileas an Leukämie erkrankt. Wie die Auseinandersetzung mit der Krankheit ihr Leben und ihren Glauben verändert hat.

Es ist ein kühler Donnerstagvormittag, als ich mich auf den Weg zu Katharina Weck mache. Etwa eine halbe Stunde Bahnfahrt heraus aus Berlin an den Stadtrand, ein Fußmarsch durch die ruhige Nachbarschaft. 2015 ist Katharina mit ihrer Familie aus dem lauten Berlin-Kreuzberg nach Brandenburg gezogen. In ein gemütliches Häuschen mit einem Kirschbaum im Garten und einem großen Kamin im Wohnzimmer.

Katharina Weck kommt eigentlich aus Niedersachsen, sie ist leidenschaftliche Sozialpädagogin, verheiratet mit Christopher und hat drei Söhne: Phileas (7), Mio (4) und Sashi (drei Monate). 2017 erkrankte Phileas an Leukämie. Über die zwei Jahre Therapie und was das mit ihr und ihrer Familie gemacht hat, hat Katharina ein Buch geschrieben.

Plötzlich zerbrechlich

Bei einer Tasse Tee sitzen wir zusammen und unterhalten uns. Katharina fotografiert neben dem Schreiben auch viel. Sie zeigt mir ein dickes Fotobuch, in das sie die Zeit der Krankheit eingefangen hat, Bilder von einem wilden Jungen in einer kleinen Familie, einem Jungen, der plötzlich untypisch schlapp ist, irgendwann an Geräten im Krankenhaus hängt, neben seinem kleinen Bruder so zerbrechlich wirkt, müde in Decken eingekuschelt, aufgedunsen, wie er irgendwann wieder Farbe bekommt, wieder tobt, ihm die Haare wieder wachsen. Durch die Seiten des Fotoalbums blätternd bekomme ich einen kurzen Einblick und eine Ahnung, wie viel Zeit zwischen der ersten und der letzten Seite, zwischen der Diagnose und einem „es geht wieder aufwärts“ liegt.

Katharina Weck: Die Zeit, die wir hinter uns haben, andern zu erklären, ist manchmal ganz schwierig, darum habe ich auch das Fotobuch gemacht. Es war gut, es Phileas zum Beispiel in die Schule mitgeben zu können, damit andere sich das vorstellen konnten. Ich glaube, wir Menschen neigen oft zu einem „Ah, alles ist gut. Jetzt hat er ja wieder Haare, Schwamm drüber“ und so ist es halt einfach nicht gewesen. So ist es jetzt nicht und so war es damals nicht.

Die Fotos erzählen von dieser Zeit, aber auch deine einfühlsamen Texte. Wie kam es dazu, dass du ein Buch über eure Geschichte veröffentlicht hast?
Ich bin ganz eifrige Tagebuchschreiberin und vor kurzem habe ich alte Texte gefunden. Ich habe mir anscheinend schon als Jugendliche mit Lesen und Schreiben die Welt erklärt – und mit Fotografieren. Das gefällt mir, Geschichten erzählen mit Bildern, mit Texten. Aber ich habe nie gedacht, dass ich mal ein Buch schreibe. Das ist wirklich aus der Not heraus entstanden. Ich habe einen Text geschrieben und den habe ich gepostet und sehr viele Reaktionen bekommen. Ab da habe ich immer wieder in den Momenten, in denen ich nicht mehr denken konnte, alles aufgeschrieben. Ab und zu habe ich das dann veröffentlicht und daraus sind Gespräche mit Leuten in ähnlichen Situationen und dadurch ein ehrlicher Austausch entstanden. Als ich dann alles nochmal geordnet und weitergeschrieben habe, war das auch Teil des Verarbeitens. Ich merke, vorbei ist das aber noch lange nicht. Gerade die Kinder fangen jetzt erst damit an, die Todesangst sitzt noch ganz schön tief in Phileas‘ Zellen.

Man kann sich nicht nicht verändern

Am Anfang, kurz nach der Diagnose, hast du geschrieben, dass ihr euch von der Krankheit nicht verändern lassen wollt …
Ja (überlegt), also das geht nicht (lacht). Also man kann sich nicht nicht verändern. Man bleibt nicht dieselbe Person, wenn man durch so etwas geht. Es war einfach so ein natürlicher Impuls, als wir die Diagnose bekommen haben, um das durchzustehen. „Du kriegst uns nicht klein, du scheiß Krebs.“ Daran habe ich mich auch lange festgehalten, indem wir trotzdem Dinge getan haben, die früher normal waren. Aber um so schlimmer es wurde, desto weniger ging das. Am Anfang war uns das noch nicht so klar.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Und langsam habt ihr es dann realisiert …
Ja, anfangs dachte ich, wir brauchen das nicht, wir gehören nicht auf die Kinderonkologie, in das alles. Irgendwann habe ich dann aber gemerkt, ich kann hier nicht unverändert herausgehen. Denn diese Todesangst, die sich bei Philli in den Zellen abgespielt hat, die liegt jetzt auf meinem Herzen, das habe ich auch jetzt noch. Es wird weniger, und dennoch gibt es immer wieder Momente, in denen alles wackelig ist. Geliebte Menschen leiden zu sehen, das ist super schlimm. Aber beim eigenen Kind, da ist das noch mal etwas Besonderes. Das Kind, das man auf die Welt gebracht hat, das man liebt, dem geht es plötzlich unglaublich schlecht und ist dabei zu erlöschen. Und ihm dann Sachen zumuten zu müssen, durch die es ihm noch schlechter geht, aber die er braucht, um zu überleben, das verändert einen. Und lässt einen alles überdenken. Manches sehe ich jetzt schwärzer, aber manches hat sich auch zurechtgerückt.

„Schlimm ist, sein Kind zu verlieren“

Du schreibst, dass du lernen musstest, das Wesentliche vom Unwesentlichen zu trennen. Meinst du das?
Genau, das mussten wir lernen. So anstrengend der normale Alltag jetzt wieder ist, schlussendlich schlafe ich abends zufrieden ein. Weil ich weiß, das ist nicht schlimm, schlimm ist, sein Kind zu verlieren. Irgendwann kam die Erkenntnis, dass ich sogar das irgendwie akzeptiert hätte. Ich hätte ihn vielleicht loslassen müssen, so schrecklich das ist. Ich habe verstanden: Das Leben ist so, und der Glaube ist auch keine Garantie, dass schreckliche Dinge nicht auch passieren. Auch wenn Phileas nicht gestorben ist, trauern wir in gewisser Weise, weil er einen Teil seiner Kindheit verloren hat und die ganze Familie eine schreckliche Zeit hatte.

Irgendwann warst du in den zwei Jahren an einem Tiefpunkt. Du beschreibst im Buch, wie du im Wohnzimmer auf dem Boden liegst und nicht mehr aufstehen kannst. Dann schilderst du weiter: „Der Boden, an dem ich jetzt bin, ist auch der, der mich trägt.“ Da war noch keine Heilung in Sicht, und trotzdem fühltest du dich am tiefsten Punkt getragen?
Genau. Es gab kein „jetzt ist alles wieder gut“. Bisher bin ich durchs Leben recht einfach durchgekommen, habe die Dinge angepackt. Aber während der Erkrankung habe ich gemerkt: Im Grunde bin ich niemand, und das, was ich kann und mache und tue, das zählt im Grunde nichts. Jetzt, wo wieder etwas Normalzustand da ist, da packt man natürlich wieder Sachen an und das ist auch gut so. Aber diese Art zu glauben, das Wissen, das ist geblieben. Zum Beispiel bekomme ich jetzt oft die Rückmeldung: Du bist so stark. Nein! Im Gegenteil, ich war ganz schwach, verzweifelt. An dem Punkt musste ich alles abgeben.

Eine Extrem-Erfahrung von Loslassenmüssen …
Ja, ich habe gemerkt, ich kämpfe. Aber irgendwann musste ich sortieren: Wohin fließt das bisschen Kraft, das ich noch habe? Ich habe gemerkt, ich stecke so viel Kraft da hinein, ihn bei mir zu halten, das war irgendwann einfach nicht mehr möglich. Niemand konnte mir sagen, es wird alles gut. Da lag ich irgendwann auf dem Boden und habe gemerkt, ich kann ihn nicht retten, ich muss ihn loslassen. Und vertrauen. Nicht, dass Gott ihn heilt, sondern, dass Gott da ist, egal was passiert.

Danke-Tagebuch hilft

Aus dieser Erfahrung heraus ist für dich auch eine neue Überschrift über dein Leben entstanden: Eucharisteo. Was bedeutet das?
Das wurde inspiriert von der Autorin Ann Voskamp. Sie empfiehlt in ihren Büchern ein Danke-Tagebuch zu führen. Aufzuschreiben, was gut am Tag war, egal, wie voll der mit Mist war. Eucharistie, das Abendmahl, in dem man bittet, aber auch für das dankt, was man hat. Diesen Ansatz fand ich gut, dachte aber gleichzeitig: Wofür soll ich an so einem schrecklichen Tag dankbar sein? Und dann musste ich an den Kuchen der Nachbarin denken und an andere Gesten. Irgendwann hat sich das entwickelt, dann habe ich in den schlimmen Stunden in der Klinik, wenn Phileas im Krankenhaus alles vollspuckte und die Krankenpflegerin alles aufwischte, plötzlich Dankbarkeit verspürt, bei all dem Krebs in unserem Alltag. Und ich konnte meinen Sohn mit Dankbarkeit in den Arm nehmen, mit einem weichen Herzen. Das ist für mich Eucharisteo: Nicht für das Offensichtliche dankbar zu sein, sondern die Fähigkeit zu erlangen, in schlimmen Situationen die kleinen guten Momente zu finden, um zu überleben. Ich glaube, das war der Grund, dass wir nicht kaputtgegangen sind.

Foto: Katharina Weck

Foto: Katharina Weck

Am Schluss des Buches stellst du dir die Frage, was ist, wenn der Geist vom Krebs bleibt und ob es schlimm ist, wenn er bleibt. Wie meinst du das?
Alle vier Wochen müssen wir weiter mit Phileas zur Blutuntersuchung. Da sehen wir auch die ganzen Kinder, die gerade mittendrin sind. Das bleibt also präsent. Da bleibt man irgendwie genügsam und demütig. Ich meine, so oft vergesse ich das auch. Immer wieder sind der Krebs und diese Angst für uns ein Thema. Um die Wut darüber nicht in mich hineinzufressen, ist Eucharisteo immer wieder sehr notwendig. Zu sehen, wie viele Privilegien wir natürlich trotzdem haben. Dennoch ist dieses Leben eben nicht der Himmel und auf der Welt ist vieles ungerecht. Trotzdem ist Gott da. Ich weiß nicht, ob das Verarbeiten irgendwann vorbei ist. Darum möchte ich schon jetzt nicht daran verbittern, sondern es annehmen. Und mutig bleiben.

„Den Mut mussten wir bewusst zurückholen“

Zum Thema mutig bleiben. Oder den Mut wieder- aufnehmen: Irgendwann habt ihr die Entscheidung getroffen, dass das Leben weitergeht. Und jetzt schläft hier euer acht Wochen alter kleiner dritter Sohn, während wir uns unterhalten.
Ja (lacht). Dieser Schritt hat mir riesige Angst gemacht, das kannte ich vorher nicht von mir. Aber wir wollten dieselben bleiben, ja klar (überlegt). Der Mut kam nicht von alleine wieder. Wir mussten ihn bewusst packen und zurückholen. Niemand konnte mir den geben. Ich bin zu Gott gekrochen und habe mir die Zeit genommen, Gott wieder zu vertrauen.
So ein Zeichen davon, dass der Mut wieder ergriffen werden musste, liegt jetzt in der Wippe neben uns (lacht). Von einem Ausnahmezustand in den nächsten, da könnte man schon sagen bescheuert (lacht) und es war auch nicht einfach, auch die Schwangerschaft nicht, da ich eigentlich so erschöpft war.

Es war wahrscheinlich gerade erst alles dabei, wieder normaler zu werden, da holt die Erschöpfung einen erst richtig ein, oder?
Total! Aber wir haben dann auch gesagt, was nützt es zu warten, bis wir hier fertig sind. Es kann sein, dass wir hier nie fertig werden. Es wäre schön zu sagen: „So, der Krebs ist vorbei, jetzt kann es weitergehen.“ Aber wer weiß, wann es vorbei ist, wann wir wirklich sagen können: „Jetzt sind wir da fein raus.“ Unser kleiner Sashi ist jetzt nicht unsere Hoffnung, das legen wir ihm nicht auf die Schultern. Aber er ist ein Neuanfang, und den zwei großen Brüdern gefällt ihre Rolle. Phileas tut es gut, dass er jetzt nicht mehr der ist, um den sich alles dreht. Es gibt momentan viele kleine Momente, die so wertvoll sind.

Vielen Dank, für deine Offenheit. Und auch, wenn du nicht möchtest, dass man sagt wie stark du bist, empfinde ich deine Ehrlichkeit über dein Nicht-Stark-Sein als Stärke. Danke für das Interview!

Nach dem Interview unterhalten wir uns fast nochmal genauso lange darüber, warum Krankheit und Leid oft nur am Rand stattfindet, obwohl es sich fast in allen Leben abspielt. Warum wir diesen Teil so gerne auf Krankenhäuser und andere Ecken verdrängen, heraus aus dem alltäglichen Bewusstsein und unseren Gesprächen. Katharina erzählt, wie ihr Buch oft unter dem Thema Trauer aufgelistet wird. Es enthält auch eine ordentliche Portion Trauer, aber genauso auch eine große Portion Hoffnung. Und wir stellen fest, dass ein Teil dieser Hoffnung auch dadurch entsteht, dass wir unsere schweren und schmerzlichen Geschichten teilen. Katharina trägt mit der Geschichte von ihr und ihrer Familie dazu bei, den Blick zu öffnen für die Welt einer Familie mit der Diagnose Leukämie. Die Fotos, die vor mir liegen, und Katharinas Worte schaffen es Kloß-im-Hals-Schweres auszudrücken und gleichzeitig die hoffnungsvollen Momente festzuhalten.

Das Interview führte Marie Jäckel. Sie studiert in Berlin Politik und Soziologie.

Starke Mutter trotz kleiner Kraft

Wie kann man mit begrenztem Energievorrat das Familienleben meistern?

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