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„Hilfe, mein Partner ist langweilig!“ – Drei Dinge braucht Ihre Beziehung jetzt

Der Partner erzählt immer nur das Gleiche und der Sex bietet auch keine Highlights mehr? Dafür hat Psychotherapeut Jörg Berger drei einfache Lösungen.

Darf es folgende Szenen in einer Liebesbeziehung geben? „Wie war dein Tag?“ – diese Frage und das anschließende Ritual hat Lisa mit in die Beziehung gebracht. Auch heute hat Daniel gefragt, wie der Tag war, und Lisa erzählt, was sie gemacht und erlebt hat. Daniel schweift mit den Gedanken ab. Denn so sehr unterscheidet sich Lisas Tag heute nicht von dem gestern, und vermutlich auch nicht vom morgigen. Natürlich interessiert sich Daniel für Lisas Gefühle und Erlebnisse. Oder im Tiefsten doch nicht?

Nach dem Gottesdienst sind Susanne und Rainer eingeladen, ein schöner Nachmittag liegt vor den Freunden. Susanne nippt an ihrem Espresso, den die Freundin nach dem leckeren Mittagessen gereicht hat. Auf irgendein Stichwort hin setzt Rainer zu einem Vortrag an, wie wenig sozial er unsere Marktwirtschaft findet. Schon wieder, denkt Susanne, denn Rainers Gedanken zu diesem Thema hat sie schon so oft gehört. Und es sind auch immer ähnliche Gedanken, die andere dann beisteuern. Jedes Thema erschöpft sich eben irgendwann. Susanne lobt die Buchsbäumchen, die in geschmackvollen Terrakottatöpfen sitzen. Doch Rainer wacht über die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer. Er stupst den abgelenkten Freund am Arm, macht eine charmante Bemerkung und kommt wieder auf sein Thema zurück. Das kann doch nicht sein, denkt Susanne, dass ich mich an meinem freien Tag in Gesellschaft meiner besten Freunde langweile. Aber ihr fällt nichts ein, um die Situation für sich zu retten.

Auch im Sex gibt es Gewöhnung

Lasse ist müde von einem langen Tag, aber Karen hat angedeutet, dass sie heute für Sex offen wäre. Lasse wägt ab. So oft hat Karen ja nicht Lust, eigentlich müsste er die Gelegenheit nutzen. Außerdem würde es Karen irritieren, wenn er keine Lust hätte, sie würde sich fragen, warum. Und gerade auf diese Frage würde Lasse nur ungern antworten. Ihr Sex folgt einem vertrauten Ablauf. Es gibt nur diesen einen, mit dem sich Karen erstens wohl fühlt und zweitens zum Höhepunkt kommt. Klar, es ist immer noch schön und man kommt sich schließlich auch nahe dabei. Aber es ist eben nicht mehr so, dass Lasse für dieses Erlebnis alles andere stehen und liegen lassen würde.

Weder Daniel, Susanne noch Lasse haben sich mit ihrem Gefühl der Langeweile anvertraut. In nahen Beziehungen ist Langeweile ein Tabu. Zu Recht, finde ich, denn es gibt kaum eine Rückmeldung, die niederschmetternder ist, als dass sich der andere im eigenen Beisein langweilt. Wenn mich meine Frau überkritisch, einschüchternd, dominant oder unangepasst fände, damit käme ich zurecht, zur Not auch, wenn sie mich für ängstlich, peinlich oder nachgiebig halten würde. Aber langweilig? Das liegt ganz knapp neben: nicht mehr liebenswert.

Würde ich jemandem raten, sich dem Partner mit Gefühlen der Langeweile zu offenbaren? Wohl nur, wenn ich überzeugt wäre, dass die Beziehung einen heilsamen Schock braucht. Häufiger rate ich Partnern, den Gründen für die Langeweile auf die Spur zu kommen und diese zu beseitigen.

Verzichten Sie auf zu viele Reize!

Ob Sie etwas berührt, liegt natürlich an den Reizen, die Sie aufnehmen – zum Beispiel in einem Gespräch oder einer gemeinsamen Aktivität. Es liegt aber auch an Ihrer Fähigkeit, sich berühren zu lassen. In der Psychologie spricht man von Erlebnisfähigkeit. Mit zwei einfachen Methoden können Sie Ihre Erlebnisfähigkeit steigern.

Fasten und Verzichten
Alles, was uns einen intensiven Kick gibt, verringert unsere Wahrnehmung für die zarten Reize. Deshalb dürfen wir uns nicht zu oft einen Kick geben. In Suchtkliniken muss man Abhängige oft wochenlang überzeugen, dass auch ein Leben ohne Suchtmittel seinen Reiz hat. Im häufigen Rausch hat sich ihre Erlebnisfähigkeit so verringert, dass ein abstinentes Leben für sie tatsächlich langweilig ist – bis sich ihre Erlebnisfähigkeit wieder neu ausbildet. Wo suchen Sie sich Ihren Kick, wenn Sie sich leer und unbefriedigt fühlen? Die Antwort darauf könnte ein Schlüssel zu einer vertieften Erlebnisfähigkeit sein – sie müssen nur ab und zu verzichten.

Tempo rausnehmen
Je schneller unser Leben ist und je mehr Eindrücken wir ausgesetzt sind, umso mehr leidet unsere Erlebnisfähigkeit. Aktivitäten reduzieren, Verantwortung abgeben, Pausen, in denen Sie nichts tun, Sonntagsruhe und stille Zeiten dagegen erneuern Ihre Erlebnisfähigkeit.

Wenn sich Ihre Erlebnisfähigkeit steigert, dann hören Sie vielleicht tatsächlich einen Moment nicht zu, wenn Ihr Partner über ein „langweiliges“ Thema spricht. Aber Sie spüren vielleicht, wie schön es ist, zusammenzusitzen, wie attraktiv Ihr Partner ist, wenn er so engagiert spricht, wie viel Dankbarkeit und Liebe in Ihrem Herzen aufkommen, wenn Sie an das gemeinsame Leben denken. Lasses Sex mit Karen mag einem eingespielten Ablauf folgen, gleich ist die sexuelle Begegnung aber nie. Es liegt auch an Lasses sexueller Erlebnisfähigkeit, ob er das Besondere jeder Begegnung wahrnehmen und auskosten kann.

Unehrlichkeit provoziert Langeweile

Als junger Therapeut habe ich mich gefragt, was denn wäre, wenn ich einen Menschen, den ich begleite, langweilig fände. Immerhin verbringe ich in manchen Therapien 20, 40 oder mehr Stunden mit einem Menschen. Wenn ich mich langweilen würde, könnte ich das dann verbergen? Oder würde ich versuchen, den anderen loszuwerden? Peinliche Fragen. Zum Glück habe ich festgestellt: Kein Mensch ist langweilig. Jede Lebensgeschichte ist spannend. Jede Person ein Kosmos von einzigartigen Wahrnehmungen und Möglichkeiten, der nie auszuloten ist. Ich langweile mich also tatsächlich nie in einer Therapiestunde? – Doch.

Manchmal geschieht es in der Anfangsphase einer Therapie, dass meine Gedanken abschweifen, dann denke ich daran, was mich aus der Stunde zuvor noch beschäftigt oder was ich noch organisieren muss. Das geschieht allerdings nur, wenn Menschen eine Fassade aufgebaut haben, ihre wahren Gefühle nicht zeigen und ihre wirklichen Gedanken nicht aussprechen. Stattdessen spielen sie eine „gute Patientin“ oder einen „guten Patienten“, sie verhalten sich, wie sie glauben, dass ich es erwarte. Oder sie führen ein Pseudogespräch mit mir – sie reden, ohne etwas von sich preiszugeben. Diese Fassade ist natürlich das erste Thema in der Therapie. Wenn die Person dann hinter der Fassade hervortritt, wird es spannend.

Seien Sie ehrlich!

Sie wollen Ihre Liebe wieder aufregender machen? Dann schockieren Sie den anderen doch einmal damit, was Sie wirklich denken und fühlen. (Ausnehmen würde ich hier nur Gefühle und Gedanken, die den Selbstwert des anderen zu stark angreifen.) Das lädt auch Ihren Partner zur Echtheit ein. Interessieren Sie sich dafür, was sich unter der Oberfläche verbirgt: „Warum beschäftigt dich das Thema eigentlich?“ – „Wie geht es dir mit diesem Erlebnis?“ Mit solchen Fragen könnte Daniel Lisas Bericht über ihren Tag unterbrechen. Er darf dabei nur nicht kontrollierend oder kritisch klingen. Lisa wird dann wahrscheinlich mehr von sich zeigen. Echtheit macht die Liebe spannend. Führende Paartherapeuten wie Michael Lukas Möller oder David Schnarch sind außerdem überzeugt, dass Echtheit das beste Mittel ist, um eine Paarbeziehung immer wieder erotisch aufzuladen.

Lassen Sie Themen los!

Wohl jeder Mensch hat ein paar ungelöste Lebensthemen, um die er immer wieder kreist, ohne weiterzukommen. Ein unbewusster emotionaler Sog lenkt die Aufmerksamkeit immer wieder auf das ungelöste Thema. Es braucht nur ein bestimmtes Stichwort, und eine unbestimmte Traurigkeit steigt wieder auf oder eine Empörung kocht hoch über Missstände, die zwar traurig sind, aber das eigene Leben gar nicht betreffen. Ein immer gleicher Weltschmerz, immer gleiche Zweifel oder eine immer gleiche Empörung langweilen irgendwann auch das geduldigste Gegenüber.

Seine tiefen, konflikthaften Lebensthemen kann keiner selbst auflösen. Doch Sie können als Paar pragmatisch damit umgehen und vereinbaren, dass Sie bestimmte Themen beiseiteschieben, sobald diese wieder aufkommen. Wer neugierig ist, kann das Thema in eine Seelsorge oder professionelle Beratung einbringen, um zu schauen, was sich dahinter verbirgt. Das Ergebnis dann mit dem Partner zu teilen, ist natürlich wieder interessant. Warum sich Rainer wieder und wieder über Ungerechtigkeit ereifert, wäre für Susanne inzwischen spannender als das Thema selbst.

Kann die Liebe je langweilig werden? Ja, auch Langeweile gehört zum Alltag der Liebe. Kann die Liebe ihren Reiz verlieren? Niemals. Paare, die über ihre Erlebnisfähigkeit wachen, authentisch bleiben und immer wieder loslassen, was sie gefangen nehmen könnte, finden in der Liebe eine unerschöpfliche Quelle schöner Gefühle und überraschender Augenblicke.

Jörg Berger arbeitet als Psychotherapeut in eigener Praxis in Heidelberg.

Rezeptbuch gegen Langeweile

Die Lehrerin Katharina Lang hat für ihre Schülerinnen und Schüler eine Sammlung von Ideen zusammengestellt, damit zu Hause keine Langeweile aufkommt. Sie hat uns erlaubt, das auch hier zu veröffentlichen. Also, schaut mal rein, da gibt es viele tolle Anregungen:

Rezeptbuch gegen Langeweile (1)

Ich gucke einfach nur Löcher in die Luft

Ein Plädoyer für die Langeweile. Von Nicole Schweiger

Auf unserer Terrasse gibt es einen besonderen Platz. Bunt gestreift und mit den Jahren von der Sonne ausgeblichen baumelt von einem Balken des Dachüberstands mein Hängesessel. Vor einigen Jahren hatte ich ihn mir zum Geburtstag gewünscht. Seitdem wird er von allen Familienmitgliedern, von großen und kleinen Gästen geliebt.

Was macht diesen Platz so besonders? Nun, es scheint, als könne man dort in eine andere Welt eintauchen. Eingekuschelt in den Stoff des Sessels schließe ich manchmal die Augen. Sanft schaukelnd lausche ich den Geräuschen um mich herum: Vögel zwitschern, Blätter rauschen, das Klangspiel klirrt im Wind. Manchmal kann man sogar die Frösche von den weiter entfernten Teichen hören. Ich fühle Wind und Sonne auf der Haut, spüre, wie mein Körper sanft hin und her geschaukelt wird. Der Alltag ist ganz weit weg. Ich bin einfach nur da. Manchmal träume ich mit offenen Augen, blicke in das Grün des Gartens und ganz oft zum Himmel hinauf. Sehe den vorbeiziehenden Wolken nach.

Kindheitserinnerungen werden wach: Auf der Wiese liegen mit einem Grashalm im Mund und Figuren in den Wolkenformationen erkennen. Besonders schön ist es auch bei Regen. Dank des Dachüberstands lausche ich geschützt und doch draußen, wie die Regentropfen herunterprasseln, sehe zu, wie die Bäume im Nachbargarten sich im Wind biegen und höre das Grollen des heranziehenden Gewitters. Herrlich! Ich genieße ohne Plan und Verpflichtungen einfach so mein Sein und Gottes Schöpfung für eine kurze oder lange Weile.

OASE IM ALLTAG

Langeweile. Warum ist dieses Wort eigentlich so negativ besetzt? Zu Unrecht, wie ich finde. Ich möchte an dieser Stelle ein Plädoyer für die Langeweile halten, für diese Oase im Alltag: Gönn dir Langeweile! Genieße sie, tanke auf! Und schaffe dir Raum und Zeit dafür. Vielleicht ist das schwierig im Moment mit Kleinkindern, Job und Verpflichtungen. Es muss ja nicht immer eine lange Weile sein. Vielleicht gibt es einen Ort, an den du dich für einen Moment zurückziehen kannst. Auch Rituale im Alltag können hilfreich sein, gerade wenn die Zeiten stressig sind und das Leben um dich tobt.
Längst ist bekannt, dass nicht mehr leistet, wer ständig arbeitet. Oft kommen uns die kreativsten Ideen und Lösungsansätze für Probleme, während wir endlich mal abschalten, nichts tun und unsere Gedanken schweifen lassen. Es gibt etliche Studien, die dieses Phänomen bestätigen. Langeweile – im richtigen Maß genossen – ist konstruktiv.

UNVERPLANTE ZEIT

Kinder sind in ihrer Entwicklung geradezu darauf angewiesen, Zeit zum Nichtstun zu haben. All die Fördermöglichkeiten, die wir unseren Sprösslingen zukommen lassen, sind gut gemeint. Sobald sie auf der Welt sind, wollen wir ihnen das Beste geben und ermöglichen. Und viele unterliegen dabei dem Trugschluss, sie täten das mit der Buchung von Musik-, Sport- und Kreativkursen. Was in einem gesunden Maß nichts Schlechtes ist. Kinder brauchen aber mindestens genauso viel Zeit, die sie unverplant mit sich selbst verbringen dürfen. Nur so, ohne Ablenkung, lernen sie, sich selbst wahrzunehmen und zu verstehen.

Kinder sind gute Lehrer für uns Erwachsene, wenn es darum geht, bewusst im Hier und Jetzt zu leben. Der kurze Weg zum Kindergarten dauert gefühlte Stunden. Es gibt überall interessante Dinge zu entdecken. Die ersten Kastanien sind vom Baum gefallen, aus der Erde schlängelt sich ein Regenwurm, auf der Baustelle steht jetzt ein Kran, die Luft riecht heute so anders. Wann immer es möglich ist, nimm dir die Zeit und staune mit deinem Kind über all das. Es wird dein Leben bereichern, und der Tag beginnt mit einem Lächeln.

Entschleunigung tut gut. In unserer Gesellschaft geht es häufig um Optimierung, Effizienz, Wachstum. In letzter Zeit fällt mir zunehmend eine Gegenbewegung auf. „Kindergartenfrei“ statt „Krippe“, „Sabbatical“ statt „Karriere“, „der eigene Garten“ statt „Fernreisen“. Die Generation um die dreißig scheint umzudenken – „Work-Life-Balance“ wird großgeschrieben. Ich bin nicht in allem ihrer Meinung (bin ja auch vierzig+), verfolge diese Entwicklung aber positiv gespannt. Zeit für Langeweile wird wieder attraktiver.

VON GOTT ÜBERRASCHT

Zurück in meinem Hängesessel. Ich genieße es, hier die Seele baumeln zu lassen. Manchmal gucke ich einfach nur Löcher in die Luft und gehe danach erholt und gestärkt wieder in den Alltag zurück. Manchmal werde ich dabei aber auch von Gott überrascht. Vielleicht dringt er dann einfacher zu mir durch als mitten im Trubel. Jedenfalls haben sich in solchen Langeweile-Momenten schon so manche (Glaubens-)Erkenntnisse den Weg gebahnt, um die ich lange Zeit gerungen hatte. Und auch der Satz „Bei Gott allein kommt meine Seele zur Ruhe“ (Psalm 62,2) hat eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Nicole Schweiger

 Nicole Schweiger ist Sozial- und Montessoripädagogin und unterrichtet an einer Berufsfachschule für Kinderpflege. Sie wohnt mit ihrer Familie in Lauf a.d. Pegnitz und bloggt unter milchundhonig.jimdo.com über Familie, Pädagogik und Glaubensleben.

 

Weitere Artikel zum Thema „Langeweile“ gibt es in der Family 6/2018.

 

Hilfe, Wochenende!

Die neue Family ist grad erschienen, da sitzen wir schon wieder an der nächsten. Im Dossier wird es um das Wochenende gehen. Geplanter Titel: „Hilfe, es ist Wochenende!“ Denn in der letzten Redaktionssitzung wurde deutlich: Für viele Familien ist das Wochenende alles andere als erholsam. Da prallen ganz unterschiedliche Vorstellungen aufeinander: Jakob will mit Papa Lego bauen, Jule will ins Schwimmbad, Niklas möchte, dass die ganze Familie mit zum Fußballturnier kommt, Papa möchte lieber Bundesliga gucken, Mama würde gern im Garten relaxen und dann sind dann noch die Wäscheberge, die in der Woche nicht bewältigt wurden …

Wie Familien diese unterschiedlichen Wochenend-Vorstellungen halbwegs befriedigend für alle umsetzen können, darum geht es in unserm nächsten Dossier. Familie Seitzinger gewährt einen ehrlichen Einblick in ihr Wochenend-Chaos. Und Familientherapeut Florian Mehring gibt Tipps, wie das Wochenende gelingen kann. Zum Beispiel diesen: „Muten Sie Ihren Kindern auch mal Lageweile zu!“

In diesem Sinne wünsche ich euch ein ganz langweiliges Wochenende! Und freue mich über eure Tipps für ein gelungenes Wochenende.

Bettina Wendland, Redakteurin Family

Kinder brauchen freie Zeiten!

Ein Plädoyer für mehr Leerlauf

Es ist mit Käse dasselbe wie mit Wein. Beide werden dann richtig gut, wenn wir ihnen Zeit zum Ruhen geben, zum Reifen. Tomaten und Melonen bekommen solche Reifezeiten, genauso wie junge Pferde oder gute Gedanken. Jedermann weiß es: Was gut werden soll, muss in Ruhe gedeihen.

Merkwürdigerweise gönnen viele Eltern ihren Kindern solche Reife- und Ruhezeiten kaum. Wehe, eine Viertklässlerin liegt zu lange untätig auf dem Sofa. Wehe, ein Zweitklässler spielt zu oft allein in seinem Zimmer mit Lego (ohne einen Freund!). Da werden Eltern schnell nervös: Ist das Kind vernachlässigt oder vereinsamt? Ist es gar entwicklungsverzögert?

Gedanken nachhängen

Tatsächlich aber brauchen Kinder solche Zeiten, in denen sie ungestört und ohne Zeitdruck und ohne erwachsene Anleitung sind. Zeiten, in denen sie nicht bespaßt werden und auch nicht fernsehen dürfen. Sie brauchen Momente, in denen ihre Kreativität reifen kann, Momente, in denen Eindrücke verarbeitet und sortiert werden. Manchmal müssen sich Kinder auch zurückziehen dürfen, um allzu bedrohliche Erfahrungen mal für eine Zeit lang auszublenden. Sie erholen sich dann von der rauen Wirklichkeit und Alltagshektik. Sie hängen Gedanken nach und entwickeln kühne Ideen. Sie kosten Traurigkeiten aus. Sie überdenken ihre Freundschaftsbeziehungen. Gerne sind sie bei Oma und Opa. Eltern aber sind oft getrieben von dem Anspruch, Kinder immer sinnvoll beschäftigen zu wollen. Sie erwarten von ihren Kindern außerdem schulische, musische und sportliche Höchstleistungen. Kinder sollen gerüstet sein für den Wettbewerb des Lebens. Zusätzlich sollen auch Grundschulkinder heutzutage viele gute Freunde haben, beliebt sein und alle guten Gelegenheiten ausnutzen, die das Umfeld nur bietet (und es gibt zurzeit sehr viele gute und einmalige Gelegenheiten). Zuletzt werden Kinder zu zahllosen Ereignissen mitgeschleppt, von deren Existenz ich selbst als Kind noch nicht einmal eine Ahnung hatte: Kinder-Unis, Gewerbefeste, Modenschauen, Ballonfahrten, Musicals, Spanisch-Kurse, Tauch-Urlaube, Mega-Partys, Bergbesteigungen und andere supertolle Angebote.

Produktive Langeweile

Aber oft bleibt bei den Kindern etwas auf der Strecke. Verkümmert wirken bei Grundschülern, mit denen ich als Lehrer zu tun habe, oft die Herzensbildung, die Initiativkraft, die Kreativität, der Problemlöse-Mut, die Empathiefähigkeit, die Freude am Leben und das Selbst-Bewusstsein.

Wenn Kinder zu lebensfrohen, verantwortlichen und reifen Persönlichkeiten heranwachsen sollen, müssen Eltern deren Leben und auch das Familienleben beherzt entschleunigen. Die Rolle des stets engagierten Förderers und die des Entertainers sollten sie ablegen. Erwachsene sind im Grunde nicht zuständig, wenn Kinder darüber klagen, dass sie Langeweile haben. Kinder können selbst überlegen, wie sie sich beschäftigen und selbst Spielideen entwickeln. „Produktive Langeweile“ nenne ich das.

Es gilt für Eltern auch, mutig die meisten guten Gelegenheiten auszulassen, die sich für ihre Kinder bieten. Vielleicht müssen Grundschüler noch gar kein Musikinstrument lernen oder in einem Sportverein sein. Vielleicht können sie Spanisch und Zehn-Finger-System auch noch als Jugendliche oder im Erwachsenenalter lernen. Vielleicht müssen Kinder auch nicht bei jeder Aufführung die Hauptrolle spielen. Und zuletzt: Vielleicht werden sie die richtigen Freunde und das passende Hobby erst später entdecken.

Kinder brauchen Zeit dafür, selbst ihren Weg hinein in ein gutes Leben zu finden. Geben wir sie ihnen!

Johannes Köster ist Leiter der Primarstufe an der Freien Christlichen Schule Ostfriesland. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern (10 und 11 Jahre) im Landkreis Leer.

Illustration: Thees Carstens