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Ein Leben, das ich gerne lebe

Wenn unsere Wohnung zu voll ist, kann das belastend sein. Dann hilft es aufzuräumen. Dasselbe gilt für unser Leben. Debora Güting über inneres und äußeres Aufräumen.

Nach den Ferien schleiche ich für eine Bestandsaufnahme durch jeden Raum unseres Hauses. Dass die Uhr in den letzten Wochen etwas langsamer getickt hat als vorher, ist offensichtlich. Der Boden im Gäste- WC: Wann habe ich den das letzte Mal gewischt? Im Zimmer nebenan finde ich potenzielles Bastelmaterial auf dem Boden. Die Küchenschublade für Diverses (Tesa, Pflaster, Schreibsachen etc.) ist so überfüllt, dass ein dazugestopfter Brief in das Schüsselfach darunter geschubst wurde. Ohne gleich anzufangen und in einen Arbeitsmodus zu geraten, nehme ich mir Zeit zum Nachdenken: Wie hoch möchte ich das Ziel „Ordnung und Sauberkeit“ setzen?

Leichter atmen

Vor einiger Zeit schon habe ich festgestellt, dass für mich innere und äußere Ordnung zusammenhängen. Bin ich zum Beispiel aufgewühlt, dann hilft es mir, in der Küche alles wegzuräumen und die Arbeitsflächen abzuwischen. Der freie Platz in der Küche gibt mir auch auf emotionaler Ebene das Gefühl, leichter atmen zu können. Ist die Wohnung dagegen unordentlich und dreckig, fühle ich mich auch als Mensch eher unzulänglich und mit dem Gesamtzustand meines Lebens unzufrieden.

Alles muss raus

Ein praktischer Tipp von „Simplify your Life“ hat sich in meiner Aufräum-Praxis bewährt: Wenn du eine überfüllte Küchenschublade, ein Unterwäschefach oder gar eine ganze Garage aufräumen möchtest, dann räume den definierten Raum erst mal ganz aus. Alles raus da. Einmal auswischen, kehren, Krümel entfernen, sauber machen oder was auch immer nötig ist, um diesen Platz als neu, frisch, frei und sauber zu empfinden. Und dann innehalten und den Anblick genießen. Und dann kommt der Clou: Nur die Gegenstände, die mir Freude machen, mich zum Lächeln bringen und andere gute Gefühle bereiten, kommen wieder rein: Kleider, in denen ich mich wohl fühle, Stifte, mit denen ich gern schreibe und neben einigem Nützlichem, was gut funktioniert, natürlich auch Dinge, die einfach schön sind und der Seele guttun.

Der Hometrainer kommt weg

Übrig bleibt zum Beispiel die selbstgenähte Tischdecke der Tante, die ich nie auflege. Sie entlockt mir ein schlechtes Gewissen und einen Seufzer. Nicht mein Geschmack. Wird auch nie meiner werden. Die bleibt draußen. Das Kleid, das ich für die Hochzeit von Freunden vor sechs Jahren gekauft habe und in das ich seit fünf Jahren nicht mehr reinpasse. Das bleibt draußen. Die Schönheit des Kleides hilft nicht, und es ist kein gutes Gefühl, dieses Stück anzusehen. Der Hometrainer mit vielen Funktionen, den ich theoretisch ja auch bei Regen benutzen könnte. Aber praktisch fühle ich mich nur schuldig, wenn er so einstaubt. Der bleibt draußen.

Der „Geschenkt“-Laden

Ja, es ist mühsam, sich mit den „übrigen“ Gegenständen zu befassen und Entscheidungen zu treffen. Es hilft, wenn man weiß, wo man Dinge hingeben kann, die noch gut sind. Bei mir ist es der „Geschenkt“-Laden für Nachhaltigkeit in der Nähe. Mancher ist vielleicht begabt, etwas zu verkaufen oder zu verschenken oder sogar umzuarbeiten.

Pure Motivation

Als Ergebnis meines Aufräumens habe ich einen Kleiderschrank, den ich gern aufmache. Mit Kleidern, die ich mag. Oder eine Garage mit Dingen, die ich brauche und benutze. Das Gesamtziel motiviert: ein Wohnraum, durch den ich gern gehe. Möglichst viel von dem, was mich belastet, möchte ich nicht hegen und pflegen und nicht von links nach rechts schieben. Denn wer hat etwas davon? Die Tante hat nichts davon, der Hometrainer nicht und bei Kleidern, die zu klein sind, meine Selbstannahme nicht.

Eine gute Perspektive

In der Praxis finde ich es schwer, mir vorzustellen, dass mein ganzer Wohnraum sich mal so anfühlt. Aber es ist eine gute Perspektive. Und es fühlt sich lebendig an, dass ich das entscheiden kann. Denn ich entscheide ja selbst, was mir guttut und was nicht. Natürlich lebe ich mit anderen Menschen zusammen und kann nicht alles aussortieren, was mir einfällt. Trotzdem gibt es mir Reife und Entscheidungsfreiraum, dass ich die Möglichkeit habe, selbst zu entscheiden. Und die kleinen Schritte auf dem Weg dahin befreien: Eine Handtasche, die wirklich nur das enthält, was mir das Aus-dem-Haus-Gehen erleichtert, oder eine übersichtliche Schublade geben mir ein gutes Gefühl, das auch eine Weile anhält. Und manchmal tut es dann so gut, dass ich gleich noch eine zweite Stelle in Angriff nehme.

Von außen nach innen

Um mein „unordentliches“ Inneres aufzuräumen, hilft natürlich eine abgewischte Arbeitsplatte nicht auf Dauer. Wie räume ich mein Leben auf? In meiner Kur im letzten Jahr habe ich folgende Aufgabe bekommen: Male den Kuchen deines Lebens. Alle Bereiche, die Zeit oder auch emotionale Energien fordern, sind ein Stück von diesem Kuchen: Arbeit, Familie, Aufgaben in der Kirchengemeinde, Ehe, Beziehungen, Haushalt, … Jeder ist ganz frei, seine Stücke zu definieren. Jedes Stück soll so groß sein, wie es einen Teil vom meinem (gefühlten) Leben einnimmt. Sind die Stücke aufgemalt und benannt, kommt Farbe ins Spiel. Die Torte soll bunt werden. Grün steht für Bereiche, die mir Freude machen und die mich auftanken lassen, auch wenn sie Zeit oder Energie benötigen. Rot steht für Bereiche, die mich Nerven kosten und frustrieren und die ich nur widerwillig tue. Und die mich Zeit kosten, die ich eigentlich nicht investieren will. Gelb steht für Bereiche, die sich in der Mitte befinden. Ein Stück des Kuchens darf auch verschiedene Farben haben und ganz individuell angemalt werden. So kann die Arbeit selbst Freude machen, der nörgelnde Kollege aber den Tag verderben. Das wäre dann ein grünes Stück mit rotem Bereich.

Ein buntes Leben

Ebenso wie beim Aufräumen von Gegenständen kann ich überlegen, welche Bereiche meines Lebens mir Freude bereiten und welche mich belasten. Und wenn ich den Kuchen gemalt habe, sehe ich alle diese Bereiche vor mir. Ein buntes Leben. Die Frage ist nun, wenn ich meinen Lebenskuchen sehe: Möchte ich diesen Kuchen essen? Oder klarer: Möchte ich mein Leben so leben? Wenn ja, ist alles gut.

Schweres Streichen

Als ich meinen Kuchen des Lebens sah, wurde mir so mancher rote Bereich klarer vor Augen geführt. Natürlich kann ich vieles nicht einfach streichen oder loswerden. Im Gegenteil: Oft ist es besonders schwer, gerade die roten Bereiche loszuwerden. Denn bei vielen roten Bereichen gibt es tiefere Gründe, warum sich diese bei mir „eingenistet“ haben. Einen schwelenden Konflikt in einer Beziehung nehme ich vielleicht hin, weil ich nicht wage, über mein Unbehagen zu reden. Oder weil ich nicht gelernt habe, für mich zu kämpfen. Eine Überlastung kommt vielleicht von Erwartungen anderer, die ich denke, erfüllen zu müssen. Eine große Frustration ist vielleicht da, weil Werte, die ich habe, in Konflikt miteinander stehen und ich mir dessen nicht bewusst bin.

Überfällige Entscheidungen

Ich kann versuchen, Prioritäten zu setzen, neue Ansätze zu suchen und eventuelle Einstellungen oder Erwartungen, die dem Auflösen der Bereiche entgegenstehen, zu formulieren und loszulassen. Dafür kann auch ein Seelsorger oder Berater hinzugezogen werden. Es ist auch erlaubt, größere Striche zu ziehen und endlich den Mut aufzubringen, überfällige Entscheidungen zu treffen. Auch wenn das manches ungewiss macht. Vielleicht ist es nötig, die Arbeitsstelle zu wechseln. Oder ich sollte eine Freundschaft beenden, in die ich immer nur investieren muss und in der ich selbst keinen Raum habe, ich zu sein.

Den roten Fleck angehen

Nicht immer muss es so tragisch und tiefgründig sein. Bei manchem roten Bereich reicht es, wenn ich etwas anders angehe und bewusst eigene Erwartungen loslasse. Manche Aufgaben im Haushalt, die mich nerven, kann ich vielleicht delegieren oder irgendwie anders Entlastung suchen. Wenn ich mutig bin und Schritte gehe, öffnen sich vielleicht Wege, auf die ich vorher gar nicht gekommen bin. Klar ist: Veränderungen und Entscheidungen kosten erstmal Kraft und Nerven. Und nicht alles lässt sich vielleicht so verändern, wie ich es gerne hätte. Aber wenn ich nichts angehe, bleibt alles, wie es ist.

Wie mit einer Schublade beim äußeren Aufräumen zu beginnen, ist es gut, auch hier erst mal an einem Bereich anzufangen und einen ersten roten Fleck anzugehen. Weitere können dann folgen. Mein Ziel ist ein Kuchen, den ich gern esse. Oder: ein Leben, das ich gern lebe.

Debora Güting ist Pastorin im Pastoralteam in der Kirche des Nazareners in Seligenstadt. Nebenher schreibt sie gern ihre Gedanken zum Leben in einen Artikel oder sie referiert bei Frauenevents. Sie lebt mit ihrer Familie in Linsengericht.

Die „Mein-Kind-bedeutet-mir-alles“-Falle

Kinder brauchen Aufmerksamkeit. Wenn sie allerdings zu viel davon bekommen, geraten sie in eine Rolle, die weder ihnen noch der Familie gut tut. Von Clara Evers-Zimmer

Maxi ist fast acht Jahre alt, als ich ihn in der Tagesklinik kennenlerne. Ein hübscher Junge mit braunem Igelhaar und großen Augen. Er ist hier, weil er in der Schule nicht klarkam. Er stand regelmäßig im Unterricht auf, um zu tun, wonach ihm gerade zumute war. Er forderte fast die gesamte Aufmerksamkeit der Lehrerin für sich ein. In der zweiten Klasse sagte die Lehrerin, sie könne ihn nicht länger unterrichten. Nun ist er in der Tagesklinik der Kinderpsychiatrie. Ich mag Maxi gern. Wir machen Unterricht in der Natur, pflücken Blumen für seine Mutter, und im Zusammensein wird mir klar, unter welch schwerer Last Maxi leidet. Er ist das Familienoberhaupt einer siebenköpfigen Patchworkfamilie, der erstgeborene Sohn nach vier Schwestern. Während wir uns auf den Weg vom Unterrichtsplatz im Grünen zurück zur Tagesklinik machen, sehe ich hinter den Bäumen eine hellgekleidete Frau umherhuschen. Maxis Mutter. Sie beobachtet uns. Sie ist wie Maxis Schatten. Immer denkt sie über ihn nach, immer ist sie in seiner Nähe. Immer unter Druck. Die Familie sitzt fest in der „Kind-auf-dem- Thron“-Falle. Maxi ist etwas Besonderes, so wie Josef es für seine Eltern war – seine Geschichte kann man in der Bibel im 1. Buch Mose, Kapitel 37 nachlesen: Josef war der Liebling seines Vaters, bekam von ihm ein besonderes Gewand und gab damit an, dass er was Besseres sei als seine Brüder. Auch Maxi macht jedem klar, dass er auf dem Thron sitzt. Weil er von seinen Eltern gelernt hat, dass er etwas ganz Besonderes ist, versteht er in der Schule die Welt nicht mehr. Wie sollte er sitzen und lernen können wie die anderen Kinder? Und Rechnen fällt ihm ganz schwer. Na, das macht er dann erst mal gar nicht mehr. Seine Seele kann es nicht ertragen, dass er sich anstrengen muss, dass er nicht nur großartig ist, sondern ein Mensch mit Fehlern und Schwächen.

EINE ZU GROSSE ROLLE
Ich möchte damit nicht sagen, es sei falsch, wenn unser Kind uns sehr viel bedeutet. Kinder sind uns von Gott gegeben. Die Fähigkeit, bedingungslos zu lieben, lässt sich durch Kinder wunderbar erfahren. In den ersten Jahren und in besonderen Notzeiten ist es richtig, wenn unser Kind uns alles bedeutet. Schwierig wird es aber, wenn ein Kind eine zu große Rolle in der Familie spielt. Wenn es als so besonders wahrgenommen wird, dass es immer eine Sonderbehandlung bekommt. Die Zahl dieser „Josefskinder“ hat zugenommen: „Mein Kind ist etwas Besonderes.“ „Ohne mein Kind wäre es in seiner Schulklasse viel langweiliger“. Der Anteil der Eltern, die dies in Untersuchungen so oder ähnlich angeben, ist in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Darin spiegeln sich die narzisstischen Tendenzen unserer Zeit. Über „Josefskinder“ wird sehr viel gesprochen. Bei jedem Hinbringen oder Abholen dringen die Wortfetzen der Eltern unvermeidlich an mein Ohr: vorzeitige Einschulung, mehr geistiges Futter, hervorragend, IQ, Testung, Beratung, mehr Förderung und auf jeden Fall Sport und Englisch! Als mein Ältester 2006 in den Kindergarten kam, gab es in seiner Gruppe offiziell weder ein hochbegabtes noch ein hochsensibles, hyperaktives oder autistisches Kind. Neun Jahre später weiß ich in der Kindergartengruppe unserer Zwillinge von mindestens fünf Hochbegabten und zehn Hochsensiblen. Diese Zahlen liegen weit über denen, die statistisch zu erwarten wären (Hochbegabung: ein Kind von 50 bis 60 Kindern, Hochsensibilität: ein bis zwei Kinder pro Klasse). Schwedischen Wissenschaftlern ist der Nachweis gelungen, dass zu viele Kinder eine Diagnose haben, die nicht auf sie zutrifft. Ich erlebe Eltern, die von Arzt zu Arzt laufen, weil sie eine Diagnose für den Kindergarten oder die Schule brauchen. Könnte es sein, dass es sich in manchen Fällen um Josefskinder handelt?

GEWÜNSCHTESTE WUNSCHKINDER
Kinder zu haben, ist heute keine Selbstverständlichkeit mehr. Eltern haben die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, in der Regel selbst getroffen. Sie haben die Anzahl der Kinder und den Zeitpunkt für die Geburt geplant. Kinder haben ihren Preis. Wer diesen Preis bezahlt, möchte dann auch alles richtig machen. In unserer Gesellschaft gibt es wenig Anerkennung für diejenigen, die Kinder großziehen. Da Anerkennung und Aufmerksamkeit die gefragteste Währung in einer von Medien dominierten Welt sind, müssen die Kinder den Aufwand rechtfertigen, den sie verursachen. Sie müssen gelingen und etwas Besonderes sein. Deshalb bedeuten sie ihren Eltern alles und werden zu Josefskindern gemacht. Neugeborene und Kleinkinder brauchen Eltern, die rund um die Uhr verfügbar sind. Aber wer braucht es, dass Kindergarten- und Schulkinder der Lebensinhalt ihrer Eltern sind, dass es keine anderen Gesprächsthemen mehr gibt, dass die Ehe zur Versorgergemeinschaft für die gewünschtesten Wunschkinder wird, dass ein Kindergeburtstag zu vollständiger Erschöpfung führt, dass Kinder entscheiden, mit wem die Familie sich trifft und dass die Gedanken fast pausenlos um die Bedürfnisse und Förderangebote für diese Kinder kreisen?

DEN MANGEL WIEDERGUTMACHEN
Die „Mein-Kind-bedeutet-mir alles“-Falle ist typisch für eine Welt, in der Bedürfnisbefriedigung per „Wisch und Klick“ im Sekundentakt zur Gewohnheit wird. Selbstoptimierung erscheint nicht nur machbar, sondern notwendig. Als Eltern sind wir davor ein Stück weit geschützt. Wir können nicht ständig um unsere Bedürfnisse kreisen. Aber dann wird eben nicht das Selbst optimiert, sondern das Kind. Ich geriet mit meinem ältesten Kind in den ersten Jahren immer wieder in die „Mein-Kind-bedeutet-mir-alles“- Falle. Daher weiß ich, dass jede und jeder, der in dieser Falle steckt, seine eigene Geschichte hat. Meine Geschichte, die mir erst nach und nach bewusst wurde, ging so: Als Kind hockte ich morgens um 5:50 Uhr vor einem noch geschlossenen Kindergarten und zehn Stunden später hing ich mit schmerzenden Armen am Zaun, um endlich einen Blick auf die heraneilende Mama zu ergattern. Als ich selbst Mutter wurde, fehlte mir völlig das Maß. So versuchte ich unbewusst durch mein übergroßes Engagement den erlittenen Mangel an Zeit und Aufmerksamkeit stellvertretend an meinem Kind wiedergutzumachen. Dies führte in die völlige Erschöpfung. Gott arbeitete mit mir an diesem Thema und half mir die Falle, in der ich saß, zu erkennen.

DAS LOCH IN DER SEELE STOPFEN
Für Kinder, denen in ihrer Familie eine Position eingeräumt worden ist, die ihnen nicht zusteht, ist dies ein großes Entwicklungsrisiko. Manche spüren, dass die Eltern ein schlechtes Gewissen haben. Dieses schlechte Gewissen bezieht sich häufig auf Ereignisse aus der Schwangerschaft, auf die Geburt oder die Säuglingszeit. Den meisten Eltern ist es nicht wirklich bewusst, woher ihre Motivation kommt, diesem Kind alles unterzuordnen. Besonders schmerzlich ist es für Eltern, die vor die Aufgabe gestellt werden, ein Kind großzuziehen, wenn nicht alles nach Plan lief: ungeplante Kinder, frühgeborene Kinder, Kinder, die nach langer ungewollter Kinderlosigkeit oder vielen Fehlgeburten geboren werden, Kinder mit Behinderungen oder Krankheiten, Mehrlinge, Kinder in materiell schwierigen Verhältnissen, Scheidungskinder … Hier droht die Falle besonders häufig zuzuschnappen. Die Eltern versuchen alles, um die Not oder den Mangel zu kompensieren. Gefühle von Schuld, Scham oder Angst regieren im Hintergrund und führen dazu, dass ein Kind auf den Familienthron gerät. Häufig ist den Familien nicht klar, dass sie ein Josefskind heranziehen. Dieses Unbewusste raubt den Familienfrieden, bis es ans Licht kommt. Kinder bieten für viele Menschen das, wonach unser menschliches Wesen sich ursprünglich sehnt: Liebe und Sinn. Kinder sind mit beidem völlig überfordert. Sie können nicht das Loch in unserer Seele stopfen. Kinder sind auch keine Sinnstifter.

DER WEG AUS DER FALLE
Was in der Säuglings- und teilweise in der Kleinkindzeit gut für die Entwicklung ist, weil es die Bindung und das Vertrauen fördert, wird später zu einem Teufelskreis. Josefskinder werden immer schwieriger zufriedenzustellen. Ihr Belohnungszentrum im Gehirn ist durch die vielen Erfahrungen von Sonderbehandlung größer ausgeprägt. Häufig spielen sie eine so herausragende Rolle in der Familie, dass ihre Allmachtsphantasien auch lange nach dem Ende dieser Entwicklungsphase (mit etwa sechs Jahren) bestehen bleiben. Josefskinder fordern ihren Eltern immer mehr ab und drängen in die Führungsrolle. Aber hinter dem kleinen Chef der Familie versteckt sich ein Kind, das nach Führung sucht und nach der Erfahrung menschlicher Begrenztheit. Genau diese Erfahrung verweigern die Eltern, um sich selbst nicht den damit verbundenen Gefühlen von Ohnmacht, Trauer, Wut und eigener Unzulänglichkeit stellen zu müssen. Die zugrundeliegenden Mechanismen können betroffene Eltern aufgrund der hohen Anforderungen, die sie an sich und ihr Kind stellen, oft nicht reflektieren. Gerade hier liegt aber der Weg aus der Falle: sich Zeit nehmen und reflektieren. Gute Freunde oder Seelsorger können dabei helfen. Wir brauchen Vertrauen in Gott und Demut, um Kinder als das zu sehen, was sie sind: Geschenke Gottes, die für eine Zeit lang in unsere Obhut gegeben sind, mit einem eigenen Weg und einer eigenen Geschichte.

 

Clara Evers-Zimmer lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Sie studiert im Master Psychologie, ist ehrenamtliche Seelsorgerin und arbeitet als Fachautorin für Frauen,- Kinder- und Familienthemen: www.psycho-logisch.hamburg