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Das letzte Jahr mit meinem Vater

Ein Elternteil in die Wohnung aufzunehmen, nachdem man viele Jahre als Familie allein gelebt hat, kann eine Herausforderung sein.

W enn meine Schwester und ich als junge Mädchen über unsere Eltern nachdachten, waren wir uns einig, dass wir zu unserer Mutter die vertrautere, bessere Beziehung hatten. Wenn wir die Wahl hätten, würden wir in ferner Zukunft lieber mit unserer Mutter zusammenleben und sie versorgen als mit unserem Vater. Aber es sollte anders kommen. Meine Mutter starb schon mit 65 Jahren, mein Vater lebte noch 26 Jahre länger. Nach ihrem Tod war er körperlich und geistig so fit, dass er noch gut in seinem Haus leben konnte. Bereits nach einem Jahr hatte er eine neue Lebensgefährtin gefunden. Wir wussten, dass er unsere Mutter geliebt hatte, und empfanden seine neue Freundin als Bereicherung für ihn. Wir waren dankbar, dass er eine Frau gefunden hatte, die sich um ihn kümmerte und sein Bedürfnis nach Nähe und Beschäftigung erfüllte. Wie vorher auch mit meiner Mutter besuchten sie uns regelmäßig, spielten mit unseren Kindern und mein Vater half uns, wo er nur konnte. Besonders beim Bau unseres Hauses setzte er sich stark ein. Es kam uns zugute, dass er handwerklich sehr geschickt war, gerne arbeitete und gerne half. Allerdings hatte er auch seine eigenen Vorstellungen, wie Arbeiten auszuführen seien, was nötig sei und was nicht. Seine großzügige Einstellung: „Das geht schon so!“ und seine Tendenz, das, was er für nötig hielt, auch durchzusetzen, kam gelegentlich in Konflikt mit unseren Wünschen und Vorstellungen. Trotzdem war klar, dass in unserem Haus immer ein Platz für ihn sein würde, wenn seine Versorgung oder Pflege zu bewältigen wäre.

BARRIEREFREI
Zwanzig Jahre später war es dann so weit: Seine Gesundheit wurde deutlich schlechter. Es war vorhersehbar, dass seine Lebensgefährtin, die mittlerweile 87 Jahre alt war, ihn nicht dauerhaft würde versorgen können. Mein Vater entwickelte eine Blutkrankheit. Er brauchte alle sechs Wochen eine Blutübertragung und wurde immer schwächer. Als er für ein Wochenende bei uns war, merkten wir, dass er sich nicht mehr orientieren konnte und die Treppen nur sehr schlecht bewältigte. Daher beschlossen wir ganz spontan, das Arbeitszimmer meines Mannes in die für meinen Vater vorgesehene Kellerwohnung zu verlegen. Damit war ein Zimmer in unserer Wohnung im Erdgeschoss frei, das wir ihm einrichten konnten. Da mein Mann gerade etwas Zeit hatte und auch unsere erwachsenen Kinder helfen konnten, hatten wir das neu möblierte Zimmer innerhalb von sechs Wochen fertig. Es war zuerst als Gästezimmer gedacht, doch es erwies sich, dass Gottes Timing genau richtig war. Eine Woche, nachdem das Zimmer fertig war, kam mein Vater ins Krankenhaus. Sein Zustand verschlechterte sich so, dass er anschließend per Krankentransport zu uns gebracht wurde. Es war alles für ihn vorbereitet. Eine behindertengerechte Dusche hatten wir ein Jahr vorher im Erdgeschoss einbauen lassen. Er bekam sofort Pflegestufe eins. Im Rückblick ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, rechtzeitig auch bauliche Vorkehrungen zu treffen, damit barrierefreies Wohnen möglich ist.

ALTE EMPFINDLICHKEITEN
Während mein Vater anfangs noch stark desorientiert war, besserte sich sein Zustand zusehends. Er konnte allein zum Tisch und zur Toilette gehen und eine Zeitlang noch mit uns zum Gottesdienst kommen. Für ihn war es selbstverständlich, dass er den ganzen Tag bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa saß oder lag und alles interessiert mitverfolgte, was bei uns passierte. Nur wenn wir Hauskreis in unserer Wohnung hatten, blieb er in seinem Zimmer. Wie gut, dass morgens die Mitarbeiterin der häuslichen Krankenpflege kam. Sie cremte ihn ein und half ihm beim Waschen und Anziehen. Das schützte meine und seine Intimsphäre. Ihre Gespräche brachten auch neue Impulse in seinen Alltag. Mein Vater klagte nicht. Er war lieb und freundlich und versuchte, uns keine Last zu sein. Obwohl ich ihn gern versorgte, merkte ich mehr und mehr, dass ich seine ständige Anwesenheit als Bedrohung meiner Privatsphäre empfand. Ich interpretierte sein Interesse an allem, was unser Leben betraf, als unangebrachte Neugier. Fragen wie: „Hat deine Nachbarin wieder einen Freund?“ und „Wie geht es in der Gemeinde?“ mochte ich nicht beantworten. Obwohl ich sein Bedürfnis nach Nähe und Teilhabe verstand, entdeckte ich in mir die Gefühle und Verhaltensweisen eines Teenagers, der nicht will, dass sein Vater alles weiß und sich einmischt. Ich hatte das Bedürfnis, meine innere Selbständigkeit und die Ablösung von meinem Vater zu behalten. Selbst harmlose Bemerkungen wie „Mach die Tür zu!“ und „Mach das Licht aus!“ weckten meinen Widerstand. Ich wollte Herr in meinem eigenen Haus bleiben, bestimmen, welche Musik gehört wurde und telefonieren, ohne dass mein Vater zuhörte. Ich wollte weder seine Mutter sein, die seine Bedürfnisse nach Nähe und Beschäftigung stillte, noch seine Lebenspartnerin, deren Leben sich vor allem um seine Wünsche gedreht hatte. Ich habe mich aber nie getraut, diese Gefühle meinem Vater gegenüber anzusprechen und ihn zu bitten, öfter in seinem Zimmer zu bleiben. Er würde das nicht verstehen, dachte ich.

GUT UNTERSTÜTZT
Wie gut, dass ich mit der Versorgung meines Vaters nicht alleine dastand. Mein Mann und meine Kinder unterstützten mich. Besonders die Kinder liebten ihren Opa und konnten ihm das auch zeigen. Mein Mann half in allen praktischen Dingen des Alltags. Auch meine Schwester war uns eine große Hilfe. Ich konnte alle Dinge, die meinen Vater betrafen, mit ihr besprechen – auch meine negativen Gefühle. Ich hörte keine Kritik, sondern bekam Ermutigung und Unterstützung. Als wir in den Urlaub fahren wollten, zog sie für eine Woche bei uns ein, um unseren Vater zu versorgen. Und auch manches Wochenende vertrat sie uns. Mein Vater wurde zusehends schwächer und empfand sein Leben als beschwerlich. Er hatte aber keine Schmerzen und auch keine Angst vor dem Tod.

TRAURIG UND BEFREIT
Es kam der Tag, an dem ich mir bei einem Sturz den Knöchel brach. Nur Stunden später erlitt mein Vater einen Schlaganfall. Wir lagen für eine Woche im selben Krankenhaus. Mit dem gebrochenen Knöchel wäre es mir unmöglich gewesen, ihn weiter zu Hause zu versorgen. Doch er verstarb friedlich, ehe ich ihm das sagen musste. Das empfand ich im Nachhinein als gutes Timing Gottes. Meine Schwester hatte Zeit, um ihn in den letzten Tagen zu begleiten. Wir verstanden seinen Tod mit 91 Jahren als das Ende eines guten, zuletzt aber auch beschwerlichen Lebens. Ich war traurig, fühlte mich aber auch befreit. Im Nachhinein habe ich bemerkt, dass ich mich besonders an den Eigenarten meines Vaters gerieben habe, die ich auch bei mir selbst feststelle. Daher will ich schon jetzt versuchen, meine Neugier gegenüber unseren Kindern zu zügeln oder zumindest nicht zu zeigen. Und ich will nicht immer erwarten, dass alles so läuft, wie ich es mir vorstelle. Auch ist mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, die Privatsphäre meiner Kinder zu respektieren und ihnen ihren Freiraum zu lassen.

SCHULDGEFÜHLE
Wenn ich heute über die letzte Zeit mit meinem Vater nachdenke, bekomme ich manchmal Schuldgefühle. Das passiert besonders, wenn ich davon lese oder höre, dass andere die letzte Zeit mit einem zu pflegenden Elternteil als Beginn einer neuen innigen Beziehung empfunden haben. Aber ich wollte nicht zu viel Nähe haben. Heute denke ich, dass ich ihm die letzte Zeit ein wenig schöner hätte machen können, etwa durch mehr herzliche Berührungen und intensivere Gespräche. Wenn ich mit meinem Mann oder meiner Schwester darüber rede, entgegnen sie mir, dass mein Vater sich bei uns wohlgefühlt hat und ich es gut gemacht habe. Aber die Schuldgefühle blieben noch lange. Irgendwann ist mir klargeworden, dass es weder sinnvoll ist, über meine Versäumnisse nachzugrübeln noch mir immer wieder die Bestätigung einzuholen, dass ich alles richtig gemacht habe. Gott kennt mein Herz und auch meine Versäumnisse. Er hat mir darüber Vergebung und Frieden geschenkt.

Die Autorin möchte anonym bleiben.