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„Ballte seine Hand zur Faust“: Leonies Traummann wird ihr Albtraum

Schläge, Verbote und Misstrauen bestimmen ein halbes Jahr lang die Beziehung von Buchautorin Leonie Hoffmann*. Dann kann sie wie durch ein Wunder fliehen.

Gerade hatte ich mein Abitur abgeschlossen und war beflügelt von einem nie da gewesenen Freiheitsgefühl. In dieser Zeit lernte ich ihn kennen. Ihn, der mir diese große Freiheit mit all ihren Möglichkeiten innerhalb weniger Monate wieder nahm – und beinahe mein junges Leben.

Ich traf ihn auf einer Sommerparty in meiner Heimatstadt: Alex. Dieser Mann gab mir alles, wonach sich mein junges Herz gesehnt hatte: tiefe Liebe und das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. Die ersten Monate mit ihm schwebte ich im siebten Himmel. Ich glaubte, in ihm tatsächlich den Richtigen gefunden zu haben.

Alex wird rasend vor Eifersucht

Seine „abgöttische Liebe“ zu mir hatte jedoch eine unangenehme Begleiterscheinung. Was ich anfangs als schmeichelhaftes Nähebedürfnis interpretierte, entwickelte sich zunehmend zu einer besitzergreifenden Eifersucht. Wenn mein Blick zufällig den eines anderen Mannes streifte, konnte dieses „Vergehen“ ausreichen, um einen schönen Abend in hitzigen und tränenreichen Diskussionen enden zu lassen.

Doch diese zunehmenden kleinen Dramen änderten nichts an meinen großen Gefühlen für Alex. Ich war diesem Mann einfach hoffnungslos verfallen und ohne es zu merken, rutschte ich immer mehr in eine emotionale Abhängigkeit von ihm. Denn Alex schaffte beides: meine tiefe Sehnsucht nach Liebe und Bestätigung zu stillen und gleichzeitig durch subtile Kritik meine ohnehin schon großen Selbstzweifel zu nähren. So wurde ich buchstäblich süchtig nach diesem guten Gefühl, das scheinbar nur er mir geben konnte.

Ein Umzug aus Panik

In einer Nacht-und-Nebel-Aktion zog ich nach nur drei Monaten Beziehung in seine spärlich eingerichtete Wohnung. Alex sagte, dies sei die einzige Chance, unsere Beziehung zu retten, nachdem ich mit einer Lappalie „sein Vertrauen endgültig zerstört habe“. Um mir wieder vertrauen zu können, wollte er mich eine Zeit lang kontrollieren – und ich ließ mich darauf ein. Denn der Gedanke, ihn sonst zu verlieren, versetzte mich in blanke Panik. Außerdem wusste ich ja, dass ich ihm treu war, und hoffte, endlich wieder zu unserem Anfangsglück zurückkehren zu können, wenn er sich auf diese Weise selbst davon überzeugen könnte.

Ein paar Tage später eskalierte die Situation zum ersten Mal bei einem seiner nun täglichen Verhöre. So war Alex der festen Überzeugung, ich hätte in meinem gerade begonnenen Studium einen anderen Mann kennengelernt. „Sag mir endlich die Wahrheit!“, schrie er mich immer wieder an. Seine Augen waren weit aufgerissen. Eisblau und eiskalt. Dieselben Augen, in denen ich früher so viel bedingungslose Liebe gesehen hatte. Zunächst packte er mich nur fest an den Schultern und drückte mich gegen die Wand. Dann schlug er mir mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann noch mal. Und noch mal. Immer fester. Schließlich ballte er seine Hand zur Faust. In meinem Kopf begann es zu hämmern.

„Du hast dieses Monster aus mir gemacht“

Irgendwann ließ er von mir ab und brach in Tränen aus – scheinbar entsetzt über sich selbst. Nach wenigen Augenblicken kehrte jedoch die Anklage zurück: „Du hast dieses Monster aus mir gemacht! Das gerade wäre niemals passiert, wenn du einfach immer ehrlich zu mir gewesen wärst. Ich bin zu so etwas doch nur fähig, weil ich dich so unendlich liebe.“ Damit hatte er mich. „Vielleicht habe ich es ja verdient, so behandelt zu werden?“, fragte ich mich: „Vielleicht liebt er mich tatsächlich mehr als ich ihn – wenn ich ihn so zum Ausrasten bringe?“

Heute weiß ich, dass nichts davon wahr ist. Nichts, rein gar nichts rechtfertigt Gewalt in einer Beziehung. Damals zog ich es dennoch ernsthaft in Erwägung. Eine Tatsache, die mich im Nachhinein schockiert. Genauso wie der Umstand, dass sich meine Gefühle für diesen Mann offensichtlich nicht totschlagen ließen. So traf ich die größte Fehlentscheidung meines Lebens: Ich blieb. Monate später sagte mir meine Therapeutin: „Wenn man nach dem ersten Schlag nicht geht, geht man auch nicht nach dem zweiten oder dritten.“ Das ist die traurige Wahrheit. Umso wichtiger ist es deshalb, eindeutige Grenzüberschreitungen in einer Beziehung als solche wahrzunehmen und sich vor Augen zu halten: Auch die scheinbar grenzenloseste Liebe muss Grenzen haben, die niemals überschritten werden dürfen. Denn ist dies erst einmal passiert, gibt es kaum noch einen Weg zurück.

Zwischen Küssen und Schlägen

Die sechs Monate zwischen dem ersten und dem letzten Schlag vermischen sich in meiner Erinnerung zu einer zähen grauen Masse. Meine beängstigende Erkenntnis aus dieser Zeit: Man gewöhnt sich an alles. Erschreckenderweise gab es zwischendurch sogar immer noch Momente, in denen es mir gelang, mich so in den Augenblick zu versenken und alles andere auszublenden, dass unsere „Liebe“ die einzige Realität war. Der ganze Horror schien dann unwirklich. Es waren jene Momente, in denen ich sein „wahres Ich“ wieder zu erkennen glaubte. In diesen Momenten fühlte ich mich darin bestätigt, dass er „ja eigentlich ganz anders“ war.

Ja, noch immer konnte Alex mir das Gefühl geben, ihm alles zu bedeuten, die schönste und tollste Frau der Welt zu sein. In solchen Momenten war es unvorstellbar, dass sich der Schalter jemals wieder umlegen würde. Dass sich die Hände, die mich eben noch so zärtlich streichelten, irgendwann wieder zu Fäusten ballen und brutal auf mich einschlagen würden. Dass mich derselbe Mund, der mich eben noch anstrahlte und liebevoll küsste, irgendwann wieder anschreien, bespucken oder so bestialisch beißen würde, dass Muskeln dabei durchtrennt wurden. Aber es passierte. Immer wieder. In immer kürzeren Abständen. Denn genauso funktioniert die Abwärtsspirale der Gewalt.

„Ich hatte alles – außer Selbstvertrauen“

Ich log meine Eltern und Freunde mehrfach an, ignorierte etliche Nachrichten und Anrufe. Kümmerte mich von heute auf morgen nicht mehr um mein Pflegepferd und gab die Leitung meines Jugendkreises ab. Ich erschien zu einem lange geplanten Konzert meiner Band einfach nicht. Und das alles, weil ich nicht durfte. Ich hatte mehrfach buchstäblich Todesangst in Alex‘ Nähe, aber log lieber zwei Polizisten an, anstatt mit ihnen zu gehen und den ganzen Wahnsinn endlich zu stoppen.

Das alles ist nun zwölf Jahre her. Wie oft habe ich seitdem an diese Zeit zurückgedacht und mir immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Wie konntest du nur?“ Mittlerweile habe ich meine Antwort gefunden: Ich konnte mir alles nehmen lassen, weil ich als 19-jährige Abiturientin eigentlich alles hatte – außer einem gesunden Selbstvertrauen. Ich sehnte mich nach einem Partner, der mir genau das geben könnte – der mich sehen und erkennen würde, wie ich wirklich war, und mich genauso lieben würde. Und dann traf ich ihn, der mir nur all das nehmen konnte, weil er mir vorher alles gab. Heute wage ich zu behaupten, dass ausnahmslos jeder in so eine Abhängigkeit geraten kann, der nicht in seiner wahren Identität gefestigt ist und weiß, wer er ist und wie unglaublich viel wert er ist, vor allem in den Augen Gottes.

Der Wendepunkt

Das Ende dieser Schreckenszeit kam dann wie ein Wunder: Es war Karfreitag. Alex hatte mir erlaubt, den Fernseher anzuschalten, und es lief „Ben Hur“. Die Karfreitag-Tradition meiner Familie! Der Gedanke durchbohrte mich, ob ich jemals wieder Ostern mit ihnen feiern würde, ob ich sie überhaupt noch einmal sehen würde. Seit Monaten hielt Alex mich inzwischen in seiner Wohnung gefangen und hatte mir alle Kontaktmöglichkeiten zur Außenwelt genommen. Und endlich hatten die immer mehr eskalierende Gewalt und die immer selteneren schönen Momente die Hoffnung in mir totgeschlagen, dass sich jemals nochmal etwas ändern würde. Ich wollte nur noch weg, doch hatte inzwischen jede Hoffnung auf eine Befreiung aufgegeben. Alle Rettungsversuche meiner Angehörigen waren ins Leere gelaufen, und ich befürchtete, dass sie mittlerweile wirklich glaubten, dass ich den Kontakt nicht mehr wolle – wie Alex es sie durch Nachrichten in meinem Namen immer wieder wissen ließ.

Plötzlich stehen die Eltern vor der Tür

Ich ging ins Bad und schaute durch das kleine Dachfenster in den strahlenden Frühlingshimmel. Er wirkte friedlich und gleichzeitig erschreckend leer. Ich wagte seit Langem wieder ein Gebet zu Gott, dem ich in der Beziehung mit Alex ebenfalls den Rücken gekehrt hatte: „Gott, wenn du mich mittlerweile nicht ganz abgeschrieben hast, dann bitte hole mich hier raus, und ich will dir mein Leben lang dienen!“ Wenig später klingelte es. Nach allen gescheiterten Rettungsversuchen standen sie noch einmal vor unserer Wohnungstür: meine Eltern. Denn warum auch immer stand an diesem Tag die Haustür sperrangelweit offen. Alex drohte mir mit einem Besenstil und befahl mir, leise zu sein. Sie sollten denken, niemand sei zu Hause. Dann schubste er mich ins Schlafzimmer und schlug auf mich ein. Meine Eltern hörten, dass wir da waren. „Wir wollen euch nur zu einem Eis einladen und reden“, sagte mein Vater in unfassbarer Sanftmut. Da platzte Alex der Kragen. Er ließ von mir ab, riss die Wohnungstür auf und ging auf meine Mutter los. Ich rannte ihm hinterher.

Mein Vater gab mir mit einem Blick zu verstehen, dass ich diesen kurzen Augenblick, in dem die Tür offen war, nutzen sollte. Während er zwischen Alex und meine Mutter ging, drängelte ich mich an ihnen vorbei. In die Freiheit. Meine Eltern eilten hinterher. „Wenn du jetzt gehst, siehst du mich nie wieder!“, rief Alex mir nach. Was früher seine schlimmste Drohung war, wurde nun zur Befreiung. Ostern verbrachte ich mit meiner Familie. Die Sonne schien. Die Welt blühte. Und wir feierten nicht nur Jesu Auferstehung von den Toten.

Bis zur Anzeige vergehen Jahre

Nun war ich zwar körperlich wieder frei, aber der Weg in die innere Freiheit sollte noch ein langer werden. Natürlich gab Alex nicht sofort auf. Erst nachdem ich alle Nachrichten von ihm ignorierte und dann mit einer Anzeige drohte, ließ er mich in Ruhe. Aufgrund von Alex‘ massiven Morddrohungen zeigte ich ihn nicht sofort an. Nach Monaten in permanenter Angst hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Doch als ich eineinhalb Jahre später erfuhr, dass eine andere Frau in der Beziehung mit Alex ebenfalls Opfer von Gewalt wurde, wagten wir gemeinsam diesen Schritt. Er wurde verurteilt und saß jahrelang in einer geschlossenen forensischen Klinik ein.

Brecht das Schweigen!

Heute ist mein Leben schöner, als ich es mir jemals hätte erträumen können. Gott hat mich zurück ins Leben und in die Freiheit geführt – eine Freiheit, die nirgendwo sonst zu finden ist. So habe ich die befreiende Kraft der Vergebung erfahren und inzwischen nicht nur mir selbst, sondern auch Alex von ganzem Herzen vergeben können, auch wenn ich keinerlei Kontakt mehr zu ihm möchte. Ich kann wieder unbeschwert leben – sogar lieben und vertrauen, was ich niemals für möglich gehalten hätte.

Mein Tipp an Betroffene ist so simple wie schwer: Bitte brecht das Schweigen und holt euch Hilfe, solange es noch möglich ist! Kämpft euch zurück in die Freiheit, die euch zusteht und für die ihr geboren wurdet, erinnert euch an euren Wert und eure unantastbare Würde, die euch nichts und niemand nehmen darf.

*Leonie Hoffmann ist ein Pseudonym. Die vollständige Geschichte ist im Buch „ÜberWunden“ (Gerth Medien) aufgeschrieben. Teile des Artikels erschienen zuerst in der Zeitschrift LYDIA 2/19.

Wie erkläre ich meinem Kind, dass es nicht mit Fremden mitgehen darf? 6 Regeln helfen

Kinder im Vorschulalter sollten wissen, dass nicht jeder Mensch Gutes im Sinn hat. Wie können Eltern ihnen das beibringen? Familienberaterin Daniela Albert weiß Rat.

„Ich will, dass meine Tochter (4) versteht, dass nicht alle Menschen nett sind und man bei Fremden vorsichtig sein soll. Ich möchte ihr aber auch keine Angst machen oder ihr Vertrauen in andere Menschen zerstören. Ab wann und wie kann ich sie aufklären?“

Vorweg sei gesagt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihrem Kind auf diese Art Leid zugefügt wird, ist sehr gering, doch durch die Präsenz solcher Themen in den Medien haben wir einen anderen Eindruck.

Dennoch ist es richtig, das Augenmerk auch auf Fremde und von ihnen ausgehende Gefahren zu legen. Wichtig ist, nicht von „bösen Menschen“ zu sprechen, da Kindesentführer meistens ziemlich nett und freundlich sind und Kinder zum Beispiel mit netten Versprechungen locken. Sprechen Sie von Menschen, die etwas Böses tun wollen.

Ab wann spreche ich mit meinem Kind über Missbrauch?

Ihre Tochter ist noch sehr jung und ich vermute, dass sie sich noch nicht wirklich weit von Erwachsenen entfernt, die ihr vertraut sind. Ein solches Gespräch könnte sie im Moment noch mehr verstören, als es hilft. Das ändert sich etwa im Vorschulalter. Dann ist es gut, sie langsam damit zu konfrontieren, dass es draußen in der Welt auch Gefahren gibt. Sie können Bilderbücher zu diesem Thema vorlesen und anregen, dass es auch im Kindergarten besprochen wird.

Wenn Sie mit Ihrer Tochter unterwegs sind, können Sie Menschen beobachten und ihr zeigen, wer zwar fremd ist, aber trotzdem angesprochen werden darf. Denn es kann ja für unsere Kinder auch wichtig sein, sich an für sie fremde Erwachsene zu wenden. Meine Kinder wissen, dass sie in jeden Laden, der zwischen ihrer Schule und ihrem Zuhause liegt, gehen können, um nach Hilfe zu fragen. Auch die Polizei oder die Feuerwehr sind vertrauenswürdig.

Diese Regeln können helfen

Zusätzlich helfen diese sechs Verhaltensregeln, dem Kind Sicherheit zu geben:

  • Nur vorher festgelegte Personen dürfen Ihre Tochter abholen. Mit jemandem, auf den das nicht zutrifft, geht sie nicht mit. Auch nicht mit ihr bekannten Menschen.
  • Manche Eltern vereinbaren hier ein Codewort mit ihren Kindern, falls es kurzfristig wirklich dazu kommt, dass jemand anderes es abholen muss. Kennt er dieses Wort, darf er das Kind mitnehmen. Wenn nicht, haben ihn nicht die Eltern geschickt.
  • Wenn Erwachsene Ihr Kind nach Hilfe fragen, immer andere Erwachsene holen und niemals mitgehen, um selbst zu helfen.
  • Fremde immer mit Sie anreden und dabei so laut sprechen, dass Umstehende es hören.
  • Wenn das Kind angesprochen wird, immer ans andere Ende des Gehweges gehen, also weit weg vom Auto und niemals einsteigen.
  • Egal, ob nach der Schule oder dem Besuch bei Freunden – das Kind muss hinterher auf direktem Weg nach Hause kommen. Wenn es noch etwas anderes unternehmen möchte, muss es um Erlaubnis fragen.

Doch genauso wie die festen Regeln helfen, ist es wichtig, dass Ihr Kind daheim liebevoll aufgenommen wird, wenn es einmal nicht geschafft hat, sich daran zu halten. Schließlich wollen Sie ja, dass es zu Ihnen kommt und sich Ihnen anvertraut, falls wirklich mal etwas schiefgelaufen ist. Strafen Sie Ihre Tochter in so einem Fall nicht, sondern erinnern Sie noch einmal eindrücklich daran, warum Ihnen diese Punkte wichtig sind.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin, Eltern- und Familienberaterin und lebt mit ihrer Familie bei Kassel (eltern-familie.de). 

Eine schlimme Entdeckung

Nur nach und nach kamen Pias Eltern dahinter, dass es beim Spielen mit einem älteren Mädchen zu sexuellen Übergriffen gekommen war. Diese Übergriffe haben schwerwiegende Folgen …

Als unsere Tochter Pia (Name geändert) fünf Jahre alt war, machten wir eine schlimme Entdeckung. Die 12-jährige Tochter von Bekannten, die gern mit unserer Kleinen spielte, hatte unbeaufsichtigte Zeiten im Kinderzimmer unserer Tochter und bei sich zu Hause dafür genutzt, stark grenzüberschreitende sexuelle „Spiele“ mit ihr zu erproben. Um nicht erwischt zu werden, entwickelte sie Strategien, die restliche Familie abzulenken und unsere Tochter massiv unter Druck zu setzen, damit sie nichts verrät. Bei sich zu Hause sperrte sie sie auch in einem Zimmer ein. Das alles konnte Pia uns nur ganz langsam, Stück für Stück erzählen. Vermutlich wissen wir bis heute nicht alles. Wir können aus ihren Erzählungen schließen, dass diese „Spiele“ ungefähr in dem Zeitfenster zwischen ihrem vierten und fünften Lebensjahr stattgefunden haben müssen.

Als wir unsere Bekannten darauf ansprachen, warfen sie uns vor, Pia hätte sich das alles ausgedacht. Wir hatten ihnen behutsam und ohne Vorwürfe von den Vorfällen erzählt. Deshalb waren wir sehr enttäuscht über diese Reaktion. Zum Schutz unserer Tochter haben wir den Kontakt daraufhin abgebrochen.

Kaum Experten zu finden

Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Es war sehr schwierig für uns, die passende professionelle Hilfe zu finden. Für Kinder in diesem Alter scheint es keine spezialisierte, stationäre Behandlungsmöglichkeit zu geben, bei der Kinder mit einer Bezugsperson aufgenommen werden können. Zudem können nicht alle ambulant tätigen Kinderpsychologen diesen Bereich abdecken. Oder sie haben sehr lange Wartezeiten. Da wir im ländlichen Raum wohnen, verstärkt sich das Problem noch. Zu Rate gezogene Fachleute aus verschiedenen Bereichen wie Ergotherapie, Heilpädagogik oder Psychotherapie haben auch noch mit gegensätzlichen Ansätzen versucht, Pia zu therapieren. Das hat uns Eltern verunsichert und dazu geführt, dass Pia Aggressionen gegenüber Therapeuten entwickelt hat.

Verletzende Bemerkungen

Schwierig ist es auch, in unserem Umfeld mit diesem Thema umzugehen. Wir würden uns manchmal am liebsten zu Hause verkriechen, um nicht noch mehr verletzt zu werden. Pia sieht man nicht an, was sie durchgemacht hat, und zu ihrem Schutz möchten wir es auch nicht jedem erzählen. Teile ihrer Persönlichkeit sind im Alter von drei bis vier Jahren stehen geblieben, weil da ihre Welt noch in Ordnung war. Andere Teile sind deutlich weiter als ihr biologisches Alter, sodass sie allein dadurch schon ein sehr gespaltenes Verhalten zeigt. Sie leidet so stark unter sich selbst, dass sie schon im Alter von sechs Jahren traurig und hilflos sagte: „Mama, ich halte mich nicht mehr aus, aber ich kann doch nicht vor mir selbst weglaufen!“ Sie ist oft aggressiv, leidet unter Zwangshandlungen und kann kaum entspannte Beziehungen zu anderen Kindern aufbauen.

Sprüche wie „Euer Nesthäkchen hat euch aber ganz schön im Griff!“ tun uns sehr weh. Sogar Menschen, die informiert sind, machen verletzende Bemerkungen: „Irgendwann muss sich das doch auch mal verwachsen haben!“ „Macht ihr da nicht aus einer Mücke einen Elefanten?“

Keine Besuche von anderen Kindern

Zum Glück konnten wir Pias Einschulung um ein Jahr verschieben. Inzwischen meistert sie den Schulalltag ganz gut. Sie hat Freude am Lernen und ist von ihren Fähigkeiten her auch gut in der Lage, die Anforderungen zu bewältigen. Sie möchte so sein wie die anderen Kinder und strengt sich sehr an, niemanden merken zu lassen, dass mit ihr „etwas nicht stimmt“. Sie genießt die Schulzeit, da sie dort in einem durch Lehrer/innen und Betreuer/innen geschützten Raum mit anderen ohne Angst spielen kann. Das schafft sie zu Hause oder bei Freundinnen nicht. Wir bekommen schon lange keinen Besuch mehr von Kindern, und Pia geht nie zu anderen Kindern zum Spielen.

Unerträgliche Konflikte

Fast alle Einladungen zu Kindergeburtstagen mussten wir absagen. Pia möchte es so gern und gerät immer in unerträgliche Konflikte, wenn sie Einladungen bekommt. Für mich als Mutter ist das schlimm. Ich muss die Entscheidung für sie treffen, ob wir nun zusagen oder absagen. Egal, wie ich entscheide, wird es für Pia nicht gut sein. Ich weiß nicht, was ich den anderen Müttern sagen soll. Ich möchte Pia schützen. Wem sagt man was und wie viel? Wir wohnen sehr ländlich, ich mache mir da nichts vor: Es wird geredet … Manchmal möchte ich allen die Wahrheit vor den Kopf knallen und schreien: „Lasst uns doch einfach in Ruhe! Ihr wisst ja nicht, was ihr da redet!“

Ein großes Stück Kindheit genommen

Für uns als Eltern ist es unerträglich traurig, dass unserer Tochter ein sehr großes Stück ihrer Kindheit genommen wurde. Auch an unseren deutlich älteren Söhnen ist die Belastung nicht spurlos vorbeigegangen. Besonders ich als Mutter mache mir große Vorwürfe, die Taten nicht rechtzeitig erkannt und verhindert zu haben. Seit Januar 2020 habe ich selbst auch endlich einen Platz bei einer guten Psychotherapeutin bekommen. Ich bin froh, über meine Sorgen mit einer außenstehenden Person reden zu können und Hilfe zu bekommen, wie ich die Last tragen kann, ohne daran zu zerbrechen.

Die Schuldfrage klären

Eigentlich sind wir nach fast zweieinhalb Jahren erst am Anfang der Aufarbeitung, dafür aber am Ende mit den Nerven. Im Moment leben wir von Tag zu Tag. Wir machen uns gerade auf den Weg, die Täterin mit ihrer Tat zu konfrontieren. Pia ist mittlerweile sehr wütend auf das Mädchen. Aus therapeutischer Sicht ist das gut. Sie will, dass die andere auch „bestraft“ wird und eine Therapie machen muss. Pias Therapeutin befürwortet das sehr. Für Opfer sei es zur Verarbeitung sehr wichtig, dass die Schuldfrage eindeutig geklärt sei, da sie sich meistens eine Mitschuld geben.

Hätte ich damals gewusst, wie groß der angerichtete Schaden ist, hätten wir die Taten dem Jugendamt gemeldet. Zwischendurch hatte uns die Kraft verlassen, noch eine Baustelle aufzumachen. Nun wollen wir es angehen.

Tochter soll ein Segen sein

Wenn ich abends nicht schlafen kann, weil mein Körper und mein Geist nicht zur Ruhe kommen, spüre ich oft ganz real, dass Gott mich selbst umarmt und mich mit tiefer Freude und innerem Frieden erfüllt. Meine Beziehung zu Gott ist noch enger geworden und das ist das Positive, das ich in all dem Leid trotzdem zu schätzen weiß. Pias Taufspruch ist: „Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein!“ Das macht mir so viel Mut. Gott bereitet sie darauf vor, ein Segen zu sein! Eine wunderbare Verheißung!

Pia ist nicht nur der Missbrauch! Das ist für mich wichtig zu sehen. Sie ist Gottes geliebtes Kind, unsere Tochter, eine Schwester … Sie ist fröhlich, frech, liebt Pferde und unseren Hund, sie ist lebhaft, neugierig, durchschaut sehr schnell, ob jemand „echt“ ist, mag Deutsch, aber bloß kein Mathe. Sie ist eigentlich ein normales Mädchen, das leider etwas sehr Schlimmes erlebt hat. Mit Gottes Hilfe werden wir es schaffen, dass sie zu dem Menschen werden kann, den er sich gedacht hat.

Auf Andeutungen achten!

Ich bin mir sicher, dass es sehr viele Kinder gibt, die Ähnliches erlebt haben. Das Schicksal unserer Tochter ist kein Einzelschicksal, auch wenn es mir bei der Suche nach Hilfe oft so vorkam. Vielleicht wird es oft nicht entdeckt oder nicht ausreichend ernst genommen. Da es sich meistens um keine unbekannten Täter handelt, wird auch oft aus Angst und Scham geschwiegen.

Mein Appell an alle Eltern und Menschen, die mit Kindern zu tun haben, ist: Bitte achtet auf kleinste Andeutungen, die Kinder machen! Nehmt Verhaltensveränderungen, vermeintlich alberne Ticks, Aggressionen, Rückzug, Entwicklungsrückschritte ernst und versucht, erst die Ursache herauszufinden, bevor das unerwünschte Verhalten erzieherisch unterbunden wird. Duldet kein Unrecht, das an Kindern begangen wird! Und zerstört keine Kinderseele, um einen Täter zu schützen!

Die Autorin möchte zum Schutz ihrer Tochter und der minderjährigen Täterin anonym bleiben. 

 

Sexuelle Übergriffe – was tun?

Woran kann ich merken, dass mein Kind Opfer sexualisierter Gewalt wurde? Was soll ich in diesem Fall tun? Antworten von Beraterin Silvera Schmider.

Anzeichen von sexualisierter Gewalt an Kindern sind vielfältig und oft nicht eindeutig. Häufig sind es kleine Verhaltensänderungen: neue Ängste, die vorher nicht da waren. Plötzliche Schamgefühle, depressive Verstimmungen, unklare Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Alpträume, Einnässen. Wutausbrüche, das Meiden bestimmter Orte oder Personen. Sobald Eltern oder Bezugspersonen solche Verhaltensänderungen ohne erkennbaren Grund wahrnehmen, sollten sie das Gespräch mit dem Kind suchen.

Das Kind erzählen lassen

Schaffen Sie eine angenehme, vertraute und offene Atmosphäre. Sie könnten die beobachteten Verhaltensänderungen ansprechen und Ihrem Kind mitteilen, dass es über alles mit Ihnen sprechen kann. Manche Kinder erzählen dann sofort. Andere brauchen erst mal Zeit, bis sie zum Sprechen bereit sind. Wenn das Kind bereit ist, lassen Sie es frei erzählen. Ermutigen Sie es, über seine Ängste zu sprechen. Vermeiden Sie vorschnelle Kommentare und legen Sie dem Kind nicht Ihre Vermutungen oder Ängste in den Mund.

Und lassen Sie Ihr Kind nur so viel erzählen, wie es möchte. Bohrende Fragen führen eher zu einer Verunsicherung. Manche Kinder erzählen nur häppchenweise von den belastenden Erfahrungen. Fragen Sie nach den Gefühlen des Kindes. Manchmal hilft es, sich vom Kind über Emojis zeigen zu lassen, wie es sich zum Beispiel auf der Freizeit gefühlt hat. Oder welches Gefühl da war, wenn Person X dabei war. Vermitteln Sie Ihrem Kind, dass es Ihnen alles anvertrauen kann.

Machen Sie Ihrem Kind auch deutlich, dass es gute und schlechte Geheimnisse gibt. Über schlechte Geheimnisse sollte man mit seinen Eltern oder Vertrauenspersonen reden. Wenn es dann anfängt zu erzählen, lassen Sie es einfach reden. Hören Sie aufmerksam zu. Und ganz wichtig: Glauben Sie Ihrem Kind! Über sexualisierte Gewalt zu reden, ist für die Kinder sehr schwer.

Verletzungen dokumentieren

Sollte Ihr Kind äußerliche Verletzungen im Genitalbereich wie blaue Flecken oder Blutungen vorweisen, die es nicht plausibel erklären kann, nehmen Sie bitte sofort ärztlichen Rat in Anspruch. Sprechen Sie mit dem ärztlichen Fachpersonal die Wichtigkeit der Dokumentation an. Leider zeigt sich in der Praxis immer wieder, dass darauf zu wenig Wert gelegt wird. In einer Kinderschutzambulanz, von denen es leider noch viel zu wenige gibt, kann eine gesicherte Dokumentation stattfinden. Dazu gehören Fotos mit Maßangaben ebenso wie genaue Beschreibungen der Verletzungen. Begleiten Sie Ihr Kind bei diesen Untersuchungen, erklären Sie die Maßnahmen und geben Sie den Gefühlen des Kindes Raum. Zeigen Sie Verständnis, Trost und Einfühlungsvermögen. Denn solche Untersuchungen sind für die Kinder äußerst belastend. Aber um einen Täter auch wirklich zur Rechenschaft zu ziehen, ist eine gesicherte Dokumentation von großer Wichtigkeit. Erklären Sie das Ihrem Kind.

Außerdem ist es hilfreich, mit einer Opferschutzorganisation (siehe „Hilfreiche Adressen“) vor Ort Kontakt aufzunehmen. Diese Stellen können beraten und Betroffene an entsprechend geschultes ärztliches Fachpersonal oder andere Stellen verweisen. Außerdem kann man die Adressen von engagierten Anwälten erfragen.

Den Täter anzeigen

Vor dem Gang zur Polizei schrecken viele Eltern zurück. Man möchte es lieber geheim halten, das Kind schützen. Doch wenn ein Täter einmal sexuell übergriffig geworden ist, wird er in der Regel weitermachen. Und meist gibt es bereits andere betroffene Kinder. Deshalb rate ich zur Anzeige. Vertrauen Sie dabei Ihrem Gefühl! Fragen Sie nach geschulten Polizisten oder Polizistinnen und einem kindgerechten Befragungsraum. Bitte verlangen Sie, dass die Vernehmung per Video aufgezeichnet wird. So kann man dem Kind erneute Vernehmungen ersparen.

Besonnen bleiben

Bei allem aber bleiben Sie ruhig und handeln Sie besonnen. Das Wichtigste ist: Ihr Kind hat die Situation überstanden und die Übergriffe werden gestoppt! Die Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt löst die widersprüchlichsten Gefühle in einem aus. Ängste, Ohnmacht, Schuld, Versagen. All diese Gefühle helfen aber Ihrem Kind nicht weiter. Für die Eltern und Vertrauenspersonen heißt es jetzt: da sein, aushalten und lieben. Bleiben Sie in engem emotionalen Kontakt mit Ihrem Kind und sprechen Sie mit ihm jeden Schritt ab. Es ist ganz wichtig, dass Ihr Kind die Kontrolle behalten darf. Auch eine Vernehmung kann unterbrochen werden. Man muss nichts zwangsweise durchziehen. Wenn bei der Untersuchung nur ein Arzt da ist, Ihre Tochter aber von einer Ärztin untersucht werden möchte, dann bleiben Sie stark und setzen sich für Ihre Tochter ein. Ein erneuter Tabubruch im Intimbereich muss so gut wie möglich vermieden werden.

Viel Verständnis benötigt

Auch nach dem Offenlegen der Übergriffe können manche Reaktionen im Alltag der Kinder sehr heftig sein und scheinbar aus dem Nichts kommen. Das ist für Außenstehende, aber auch für Eltern und Vertrauenspersonen erst einmal schwer nachzuvollziehen. Aber schon ein Geruch, eine Farbe, eine Melodie oder ein Geschmack kann das Kind „triggern“ und die Erinnerung an den Übergriff wieder wachrufen. Ihr Kind braucht nun enorm viel Verständnis.

Gemeinsam mit Fachpersonen in Beratungsstellen oder psychotherapeutischen Praxen können Sie überlegen, wie Sie Ihr Kind weiterhin schützen und die Erlebnisse verarbeiten können. Für Ihren eigenen Schmerz suchen Sie sich ebenfalls einen Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin. Ihr Kind ist nicht die geeignete Person dafür.

Sexualisierte Gewalt verursacht tiefe Verletzungen. Doch auch diese können heilen. Haben Sie Mut, werden Sie aktiv und holen Sie sich Unterstützung, um diese Übergriffe zu stoppen!

Silvera Schmider ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie ist Familien-, Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, leitet Gewaltpräventionskurse für Vor- und Grundschulkinder („Voll STARK“) und hat eine Beratungspraxis: seelsorgepraxis-schmider.de

Hilfreiche Adressen:

Deutscher Kinderschutzbund: dksb.de
Polizei Deutschland: polizei-beratung.de/opferinformationen/sexueller-missbrauch-von-kindern
Opferhilfe Deutschland: weisser-ring.de
Wildwasser e.V.: wildwasser.de
Zartbitter e.V.: zartbitter.de
Ankerland e.V. (Trauma-Therapie): ankerland.de
Erziehungsberatungsstellen Deutschland: bke.de
Opferhilfe Schweiz: opferhilfe-schweiz.ch
Kriminalprävention Schweiz: skppsc.ch
Beratungsstelle Schweiz: castagna-zh.ch
Beratungsstellen Österreich: gewaltinfo.at
Nein lass das! e.V. (Verein für Prävention sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen): neinlassdas.com

Opfer nach Vergewaltigung: „Ich fühlte mich schuldig und dreckig“

Die Musikerin Déborah Rosenkranz wird von ihrer Jugendliebe vergewaltigt. Es vergehen Jahre, bis sie erkennt: Sie ist nicht Schuld daran.

Eine Geschichte meines Lebens habe ich bisher noch nie mit jemandem geteilt. Eine einzige Freundin und mein jüngster Bruder wussten darüber Bescheid. Als erwachsene Frau schmerzt es, wenn man darüber nachdenkt, was einem als noch junge Frau angetan wurde. Es gab da Tony, meine erste ganz große Liebe. Er war der Typ „bad guy“ und saß deswegen auch schon im Gefängnis. Ich war recht konservativ geprägt. Dazu war ich noch völlig schüchtern und voller Komplexe, denn ich steckte noch in einer Essstörung fest. Jedes Wort aus seinem Munde legte ich also auf die Goldwaage.

Alkohol und Drogen

Er selbst war auf keinem guten Weg, trank sehr viel Alkohol und nahm Drogen, was ich in meiner Naivität nicht einmal bemerkt hatte. Er baggerte neben mir auch andere Frauen an, und ich dachte auch noch: „Das verstehe ich, sie sind ja schöner als ich. Solange er bei mir bleibt, ist das okay.“ Was für eine ungesunde Denkweise! Teilweise hörte ich tagelang nichts von ihm, bis er mit dem süßesten „Es tut mir leid!“ wieder vor mir stand. Ich hatte keine Ahnung, wie drogenabhängig er wirklich war …

Beziehung scheitert

Da ich voller Komplexe war, was meinen eigenen Körper anging, war es mir ein Leichtes, ihn körperlich auf Distanz zu mir zu halten. Natürlich hatte ich die Worte meiner Oma im Hinterkopf und ich hatte meine Werte fest vor Augen. Doch so oder so wollte ich mich nicht berühren lassen, da ich mich trotz Untergewicht fett und hässlich fühlte. Ihm aber wurde das irgendwann zu blöd und die Beziehung scheiterte tatsächlich an diesem Punkt. Lange habe ich ihm nachgetrauert. Wie oft saß ich auf einer Bank vor dem Restaurant seiner Eltern, einfach nur, um ihn kurz mal aus der Ferne zu sehen.

K.-O.-Tropfen im Drink

Jahre später trafen wir uns dann wieder. Ich war gerade dabei, meine Essstörung in den Griff zu bekommen, hatte wieder zugenommen und war völlig überrascht, dass er mich dennoch zurückwollte. Was ich wieder einmal durch meine Naivität nicht rechtzeitig bemerkt hatte, war, dass er sich nur das holen wollte, was er damals nicht bekommen hatte. An einem schönen Abend lud er mich großzügig zum Essen ein, war super charmant und füllte mich bewusst ab. Ich trank damals äußerst selten mal einen Schluck Alkohol, doch an diesem Abend goss er immer wieder nach. Wahrscheinlich um sicher zu gehen, das sein Plan aufgehen würde. Erst im Nachhinein verstand ich, dass er mir K.-O. Tropfen in mein Getränk gemischt hatte, denn ich war sehr schnell völlig weg.

Blut auf dem Bettlaken

Da man damals noch nicht so über das Thema K.-O.-Tropfen Bescheid wusste, geschweige denn sprach, hatte auch ich keine Ahnung davon. So war ich völlig ausgeknockt. An diesem Abend holte er sich unter Drogeneinfluss das, was er zuvor nicht bekommen hatte. Ich weiß nur, dass ich irgendwann in seiner kleinen Wohnung auf einer einfachen Matratze, die auf dem Boden lag, wieder zu mir kam und er mit einer blutenden Nase ins Bad rannte. Damals wusste ich noch nicht einmal, dass man das vom Koksen bekommt. Und ich sah Blut auf dem Bettlaken … Die Beziehung war beendet. Er hatte bekommen, was er wollte. Ich hatte mit dem Feuer gespielt und mich schwer verbrannt. Das, was ich so sorgsam bewahrt hatte, war mir genommen worden. Und ich schämte mich so fürchterlich, dass ich nicht mehr nach Hause wollte.

Fühle mich zerbrochen und unwürdig

Ich ließ mich von meiner damaligen Freundin abholen und blieb erst einmal bei ihr. Die nächsten Tage und Nächte weinte ich nur. Ich war so unfassbar leer, hatte solche Schmerzen und war am Ende. Natürlich hatte ich auch Angst, schwanger zu sein! Kurz darauf war Ostern. Ich musste mich an Karfreitag in der Kirche blicken lassen, sonst hätten meine Eltern Fragen gestellt. Und ich wollte auch so sehr hin! Ich wollte in die Nähe Gottes, doch ich traute mich kaum noch. Ich fühlte mich so zerbrochen, so unwürdig. Ich kam mir vor wie der größte Heuchler und Sünder auf Erden … ich hatte alles zerstört!

Leben an die Wand gefahren

Ich saß in einer der letzten Reihen, als der Pastor von Jesus erzählte, der für unsere Schuld ans Kreuz gegangen ist. Doch es tat einfach nur noch mehr weh zu hören, wie viel Schmerz Jesus für mich auf sich genommen hatte. Umsonst. Denn ich hatte alles vermasselt! „Déborah, für dich gilt das nicht mehr! Du hast diesen Zugang für immer verloren! Siehst du nicht, wie dreckig du bist? Wie ekelhaft? Da kannst du noch so lange unter der Dusche stehen. Jeder kann es dir ansehen! Du hast dein Leben an die Wand gefahren!“

Lügen im Kopf

Wer Missbrauch erlebt hat, versteht sehr schnell, wovon ich rede. Irgendwas passiert in unseren Köpfen, dass wir sofort denken: „Ich bin selbst schuld daran! Wahrscheinlich habe ich es provoziert“ bis hin zu: „Sooooo schlimm war es gar nicht!“. Deswegen habe ich auch nie darüber gesprochen, weil ich jahrelang dachte: „Es war doch meine Schuld!“ Nein, war es eben nicht! Punkt. So etwas darf nicht passieren, niemandem von uns! Dein Körper, deine Seele, DU bist so wertvoll! Und wenn du so etwas erlebt hast, dann wird es höchste Zeit, die Lügen in deinem Kopf zu zerstören, die dir sagen: „Du hast es nicht anders verdient!“

Die Wahrheit lautet: „Du bist unschuldig!“

Es tut mir so, so leid, wenn du Missbrauch erleben musstest, denn es ist etwas, dass dich dein Leben lang aus der Bahn werfen kann! Doch das muss es nicht! Du kannst und wirst wieder frei lächeln und vertrauen können, wenn du auch diese Situation mit der Wahrheit durchleuchtest! Und die Wahrheit lautet: „Du bist unschuldig! Du darfst wieder gesund werden!“ Selbst wenn du solch eine Situation provoziert haben solltest, selbst wenn du Fehler gemacht hast: Kein Mensch auf Erden hat ein Anrecht auf deinen Körper ohne deine Erlaubnis! Und das, was dir genommen worden ist, das möchte dir der, der dich erschaffen hat, wieder zurückgeben! Du bist nicht das, was dir passiert ist. Weil du was wert bist.

Déborah Rosenkranz ist Sängerin, Songwriterin, Autorin und Rednerin. Der Artikel stammt aus ihrem Buch „Sei es dir wert“.

Mit der Checkliste zur Traumfrau

Nach dem Tod seiner Frau sucht Franz nach einer neuen Partnerin anhand einer Liste mit 30 Punkten und findet Andrea.

Die Lebensgeschichte der Lermers liest sich wie ein Roman, bei dem der Autor arg dick aufgetragen hat. Das passt doch alles gar nicht in zwei Leben! Nach dem plötzlichen Tod seiner Ehefrau sucht Franz in einer besonders trüben Stunde nach einer neuen Partnerin anhand einer Liste mit 30 Punkten – Eigenschaften, die seine Traumfrau erfüllen soll. Und er findet Andrea auf einer Internetplattform. Auch sie ist schwer vom Leben gebeutelt. Sie hat eine katastrophale Ehe hinter sich, in der sie Missbrauch und Gewalt erlebt hat. Die Verbindung endete mit dem Selbstmord des Ehemannes.

Heute leben Andrea und Franz Lermer zusammen mit ihren vier Kindern als Patchworkfamilie in Sachsen und betreiben eine Landwirtschaft mit Westernflair. Ihre Seminare auf der Ranch sind immer ausgebucht, obwohl sie keine Werbung dafür machen und obwohl man dort weder Reiten noch Lassowerfen lernen kann. Denn eigentlich wollen sie vor allem von Jesus erzählen – mitten im säkularisierten Osten, wo sich drei Viertel der Bevölkerung keiner Religion zugehörig fühlen.

Christof Klenk hat die Lermers in Hainichen besucht.

Leute öffnen sich

Sie sind beide verwitwet, haben heftige Schicksalsschläge erlebt und bieten Seminare mit dem Titel „Heil und gesund“ an. Inwiefern helfen Ihre Erfahrungen da?

Franz: Das ist unser Kapital. Viele fühlen sich völlig unverstanden in ihrer Situation, kommen zu uns und merken: Hier versteht mich doch jemand. Vielleicht haben sie Missbrauch erlebt wie Andrea. Vielleicht finden sie sich in den wirtschaftlichen Geschichten wieder, die ich erlebt habe.

Andrea: Wir erleben, dass sich Leute öffnen können, weil sie sagen: Ich habe fast die gleiche Geschichte. Manchmal erzählen sie uns Dinge, die sie nicht mal ihren Psychiatern erzählen. Manchmal wissen sie auch gar nicht, warum sie solche Schwierigkeiten im Leben haben.

Und was bieten Sie ihnen an?

Franz: Viele Leute suchen Heilung. Wir sind keine Therapeuten, keine Seelsorger, sondern für die Leute da. Wir raten niemandem ab, zum Arzt oder Therapeuten zu gehen. Unsere Seminare dauern eineinhalb bis drei Tage, in denen wir als Christen von uns erzählen und was wir mit Gott erlebt haben. Wir beten auch für die Menschen – und erleben, dass Gott handelt.

Andrea: Ich war am Anfang total hilflos, wenn die Leute anfingen, ihre Geschichte zu erzählen. Ich hatte keine Lösung für ihre Situation und habe gemerkt: Das kann ich gar nicht tragen. Dann haben wir angefangen, für die Menschen zu beten – und für Gott gab es eine Lösung.

In jedem steckt ein Cowboy

Welche Rolle spielen die Pferde und eure Ranch in dem Prozess?

Franz: Das gehört zu unserer Geschichte. Wir züchten Pferde und verkaufen sie; das ist unser Hobby. Wir haben eine Landwirtschaft, wo wir Black Angus-Rinder züchten. Das ist unser Flair, und die Leute finden es toll. Die Atmosphäre wirkt entspannend. Am Anfang haben wir versucht, die Pferde mit einer therapeutischen Rolle einzubeziehen. Das lenkt aber eher ab von dem, was uns wichtig ist.

Andrea: Bei den Seminaren haben wir den Stall immer geöffnet. Man kann die Pferde streicheln, wir bieten aber kein Reiten an.

Franz: Über dem Stall haben wir einen Saloon. Das ist unser Veranstaltungsaal, in den 100 Leute reinpassen. Dort machen wir unsere Seminare. Diese Umgebung holt die Leute ab. Wir dachten am Anfang, dass sie das möglicherweise doof finden, aber scheinbar steckt ein Cowboy in jedem.

Andrea: Uns gefällt das. Wenn wir irgendwo ohne Hut hinkommen, dann sagen die Leute manchmal: „Habt ihr den Hut nicht dabei?“

Als ihr euch kennengelernt habt, hattet ihr beide eine schwere Geschichte hinter euch. Hat euch das verbunden?

Andrea: Am Anfang hat es uns schon verbunden, dass wir beide unsere Partner verloren hatten und in einer ähnlichen Situation steckten. Man fühlte sich verstanden. Wir konnten uns über Vieles austauschen.

Franz: Trotzdem hätte auch alles schief gehen können, gerade mit den Kindern. Wir kennen so viele Geschichten, die so sind wie unsere, bei denen es überhaupt nicht funktioniert hat. Patchwork – das ist für viele die Hölle.

Und könnt ihr erklären, warum es bei euch funktioniert?

Franz: Die einzige Erklärung, die ich abgeben könnte, wäre unsere Kennenlerngeschichte. Ich habe meinen Kindern ein Bild von Andrea gezeigt und die waren überzeugt, dass sie sie bereits kennen. Bei Andreas Eltern und Kindern war’s genauso, als sie ein Bild von mir sahen. Da sind wir in eine offene Tür reingefallen. Unsere Kinder waren damals 9, 12, 13 und 16.

Andrea: Die Kinder von Franz haben mich sehr schnell gefragt: „Kann ich zu dir Mama sagen?“ Da bin ich fast vom Stuhl gefallen.

Franz: Und wir haben über die Jahre in dem Bewusstsein gelebt, dass sich das auch noch mal ändern kann; aber jetzt sind es mehr als zehn Jahre.

Unerträglicher Schmerz

Konntet ihr euch in dem Trauerprozess helfen?

Andrea: Als wir uns kennengelernt haben, war der Trauerprozess noch nicht abgeschlossen.

Franz: Wir haben uns vier Monate nach dem Tod unserer Ehepartner kennengelernt.

Andrea: Wir haben viel gesprochen, gefragt: „Wie geht es dir?“ und haben das ausgewertet. Es war übernatürliche Heilung, das kann ich nicht anders sagen.

Franz: Ich hatte nach dem Tod meiner Frau das Gefühl, dass ich auf der Brust eine blutende Wunde habe, ein unerträglicher Schmerz. In einem Bild: Wie ein riesiger Haufen Sand vor der Tür, der wegmuss. Du kannst das Ding ignorieren und auf 50 Jahre verteilt wegschaufeln, aber so lange klebst du auch daran fest. Ich habe mich schnell da durchgewühlt, geschaufelt wie ein Kaputter und bin durch den Trauerprozess gegangen.

Und was bedeutet das Schaufeln …?

Franz: Sich damit konfrontieren, auseinandersetzen, drüber nachdenken, das zulassen.

Andrea: Es ist so: Der Partner ist plötzlich weg. Die Welt dreht sich aber weiter. Du hast alles noch an der Backe. Das Leben hört nicht auf deswegen. Und dann ist die Frage: Wie machst du jetzt weiter?

Franz: Wir raten den Leuten davon ab, das Gedenken an den Verstorbenen ständig am Leben zu erhalten. Der Tod geht knallhart mit dir um. Wir empfehlen den Leuten darum: „Entferne dich bewusst davon, lass los, geh in dein neues Leben!“ Du kannst auch entscheiden, daran festzuhalten. Aber dann wird es dich immer begleiten. Und wenn du eine neue Beziehung hast, dann hat der alte Partner dort nichts mehr zu suchen. Das tut nicht gut.

Andrea: Ich musste immer wieder dagegen ankämpfen, dass ich mir keine Selbstvorwürfe mache. Wenn sich der Partner umgebracht hat, dann fängt man an, die Schuld bei sich selbst zu suchen. Da musste ich loslassen und mir klar machen, dass das nicht meine Verantwortung war.

Der eigene Mann am Strick

Bevor Ihr Mann sich umbrachte, waren Sie mit den Kindern zu Ihren Eltern geflüchtet, weil Ihr Partner Sie geschlagen hatte. Kann man da überhaupt trauern?

Andrea: Am Anfang schon. Ich hatte mir zwar immer wieder gewünscht, dass ich aus dieser Beziehung rauskomme, aber wenn man dann den Partner am Strick hängen sieht, dann ist es nochmal was ganz Anderes.

Franz: Man könnte sagen: Du hast, egal was vorher war, eine „Best of“-Sammlung von Erinnerungen.

Andrea: Das fängt automatisch an. Man versucht sich an die wenigen schönen Situationen zu erinnern. Da gibt es schon einen massiven Trauerprozess. Später hat sich das umgewandelt in Wut und Anklage; das musste ich Stück für Stück bearbeiten.

Viele tun sich schwer damit, sich nochmals auf eine neue Beziehung und ein neues Umfeld einzulassen. Was war für euch ausschlaggebend für diesen Schritt?

Andrea: Ich glaube, das war Gottes Reden damals. Das, was wir gemacht haben, war ganz schön waghalsig. Ich habe meinen Job aufgegeben, meine Wohnung gekündigt, bin mit zwei Kindern hierhergezogen. Das hätte alles super schiefgehen können.

Franz: Wir haben gemerkt, dass wir uns nach einer dauerhaften, langfristigen Beziehung sehnen. Das ist eine Grundsehnsucht. Die Frage ist nur, welche Erfahrungen man gemacht hat. Das ist völlig unterschiedlich. Wir haben eine Menge Paare in unseren Seminaren, die richtig um ihre Ehe kämpfen. In einem Seminar war das besonders krass: Da kamen sechs Ehepaare – die Partner sind zum Teil getrennt angereist – und alle sechs Paare haben erzählt, dass sie sich auf diesem Seminar versöhnt haben. Sie haben sogar Scheidungstermine abgesagt … unglaublich, was da passiert ist!

Uns beiden hilft unsere „Bubble-Time“. Wir erzählen davon in unseren Seminaren: Seit fünf, sechs Jahren setzen wir beide uns jeden Tag in der Früh zusammen und tauschen uns aus: „Wie geht es dir emotional, geistlich, wie geht’s dir körperlich und mit deiner Sexualität?“ Und versuchen dadurch immer wieder eine Einheit als Paar zu finden.

So eine „Bubble-Time“ hat vier Fragen, habe ich gelernt …

Franz:  Ja. Wir stehen so früh auf, wie es notwendig ist. Und dann sagen wir uns etwa: „Ich fühle mich geliebt“, das heißt: Es ist alles gut. Meine Liebestanks sind voll. Das miteinander abzuchecken, halten wir für hilfreich.

Andrea: Ich bin der Umarmungstyp. Er schenkt mir den ganzen Tag Aufmerksamkeit, aber …

Franz: … Ich mag das schon, denke aber nicht immer dran. Für mich ist es viel wichtiger, dass du da bist.

Andrea: Ich habe dann erwähnt, dass ich mir eine Umarmung wünsche. Er hat darauf gesagt: „Mensch, das habe ich gar nicht auf dem Schirm.“ Wir haben uns kleine Hilfestellungen gegeben. Er hat beispielsweise gesagt: „Pass auf, dann umarme ich dich jetzt dreimal.“ Das hört sich jetzt dumm an, daraus ist aber was Tolles entstanden.

Franz: Bubble kommt von Seifenblase. Die Einheit, um die es da geht, ist so empfindlich wie eine Seifenblase. Ein doofer Blick kann unsere Einheit zerstören.

Die Liste

Frau Lermer, wie haben Sie es geschafft nach den Erfahrungen, die Sie gemacht haben, wieder einem Mann zu vertrauen?

Andrea: Wir haben viel miteinander gesprochen. Das ist der Schlüssel gewesen. Natürlich hat mir auch die Liste geholfen, die der Franz geschrieben hat.

Was ist das Besondere an dieser Liste?

Franz: Die Liste beschreibt eine Frau, wie ich sie gesucht habe. Ich hatte nach dem Tod meiner ersten Frau den Eindruck, Gott sagt mir, ich solle eine solche Liste erstellen. Nach 28 Punkten war ich fertig, hatte dann aber noch die Eingebung, zwei Punkte dazu zu schreiben: Pferd und Bauernhof … Dabei hatte ich damals mit beidem gar nichts am Hut! Und nun sitzt die Frau, die ich in der Liste beschrieben habe, eins zu eins hier! Es stimmt alles. Größe, Gewicht, Haarfarbe … Alles passt.

Vielen Dank für das Gespräch!

„Mein Kind will nicht in die Kita“ – Diese Fragen sollten Sie unbedingt stellen

„Meine Tochter (5) ist immer gern in den Kindergarten gegangen. Aber nun weigert sie sich, sich morgens fertig zu machen. Was kann ich tun?“

Erst einmal ist es erfreulich, dass Ihre Tochter bisher immer gern in den Kindergarten gegangen ist. Das spricht dafür, dass sie sich dort grundsätzlich wohlfühlt. Nun gilt es herauszufinden, ob es Veränderungen gab, die ihre plötzliche Verweigerung erklären könnten. Gab es eventuell einen Personalwechsel? Treten Konflikte zwischen Ihrer Tochter und anderen Kindern auf? Gibt es Veränderungen im Tagesablauf oder in der Gruppenzusammensetzung? Am besten sprechen Sie darüber offen mit den Erzieherinnen und mit Ihrer Tochter.

FRAGEN SIE UNAUFFÄLLIG NACH

Suchen Sie einen ruhigen Zeitpunkt, an dem Sie es sich mit Ihrer Tochter gemütlich machen und sie behutsam fragen, warum sie auf einmal nicht mehr gern in den Kindergarten gehen mag. Wenn Ihre Tochter nicht antworten möchte oder den Grund selbst nicht benennen kann, kann es helfen, Beispiele zu nennen, etwa: „Manchmal kommt es vor, dass Kinder nicht mehr gern zum Kindergarten gehen, weil jemand sie ärgert oder weil sich etwas verändert hat, zum Beispiel bei den Erzieherinnen. Kennst du so etwas?“ Sie können auch immer mal wieder unauffällig Fragen stellen wie „Mit wem hast du denn heute gespielt?“ oder „Welche Erzieherinnen waren heute da?“ oder „War alles gut oder gab es heute Streit oder war jemand gemein?“.

BEARBEITEN SIE TRENNUNGSÄNGSTE

Nicht selten entstehen phasenweise Trennungsängste, die den Abschied erschweren. Überlegen Sie, wenn sich kein anderer Grund finden lässt, gemeinsam mit Ihrer Tochter, was ihr helfen könnte – vielleicht ein Kuscheltier-Begleiter oder etwas, das sie an Mama erinnert (zum Beispiel ein Tuch oder ein Mut-Stein)? Tolle Tipps dazu gibt es auch in dem Buch „Fremdeln-Klammern-Trennungsangst“ von Elizabeth Pantley.

SPRECHEN SIE OFFEN ÜBER SEXUALITÄT UND GEWALT

Obwohl es ein schwieriges Thema ist, sollte man immer wachsam sein in Bezug auf mögliche sexuelle oder aggressive Übergriffe, die auch Grund dafür sein können, dass ein Kind plötzlich nicht mehr in den Kindergarten gehen möchte. Achten Sie sehr genau auf mögliche Verletzungen und fragen Sie vorsichtig: „Manchmal möchten Kinder auch nicht mehr zum Kindergarten, weil dort jemand etwas machen will, das sie nicht wollen. Zum Beispiel irgendwo anfassen, weh tun oder Fotos machen. Hast du das schon mal erlebt?“ Auch Kinderbücher helfen, über dieses Thema ins Gespräch zu kommen und Kinder grundsätzlich zu stärken (Mein Tipp: „Mein Körper gehört mir“ von Dagmar Geisler). Bei Unsicherheiten berät auch unverbindlich und kostenlos der Kinderschutzbund.

HOSPITIEREN SIE IN IHREM KINDERGARTEN

Sollten Sie auf diesem Weg nicht weiterkommen, wäre eine weitere Option, mal einen Tag im Kindergarten zu hospitieren. Sprechen Sie das vorher mit dem Kindergarten ab, mit der Begründung, herausfinden zu wollen, wie Sie Ihrer Tochter helfen können, sich wieder wohler zu fühlen. Erklären Sie Ihrer Tochter, dass Sie heute mal ausnahmsweise zu Besuch kommen dürfen, damit Sie nicht erwartet, dass das nun immer so läuft.

Melanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin, Mutter von zwei Kindern und als freie Autorin und Elternberaterin auf elternleben.de und neuewege.me unterwegs. Illustration: Sabrina Müller

„Grenzen werden akzeptiert!“

Katrin und Christian Rommert machen sich für den Kinderschutz stark. Im Interview erklären sie, was Eltern tun können, damit ihre Kinder weder Opfer noch Täter werden.

Wie kann ich mein Kind vor sexuellem Missbrauch schützen?

Christian Rommert: Das Wichtigste ist, eine Beziehung und echte Bindung zum Kind zu haben. Nur so gelingt offene Kommunikation. Und nur so wird sich das Kind im Fall des Falles öffnen und signalisieren: Da ist was komisch, da ist was, was ich nicht mag.
Katrin Rommert: Ich finde es wichtig, Kinder zu stärken und mit ihnen über ihre Gefühle zu reden – über gute und schlechte Gefühle.
CR: Wichtig ist uns auch der Umgang mit Grenzen. Kinder lernen in erster Linie durch das Vorbild der Eltern. Werden bei uns Grenzen geachtet? Darf ein Kind Grenzen setzen? Uns ist wichtig, dass Kinder lernen: Grenzen werden akzeptiert – auch von den Erwachsenen. Wir klopfen bei uns zum Beispiel alle in der Wohnung an die Tür und fragen: Kann ich reinkommen? Nur, wenn drinnen jemand Ja ruft, betreten wir das Kinderzimmer.
KR: Grenzen zu setzen bedeutet zum Beispiel auch, ernst zu nehmen, wenn Kinder das Küsschen von Oma oder Opa nicht mögen. Dann ist es wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass das okay ist. Und den Großeltern zu sagen: „Die Kinder wollen das nicht, können wir da einen anderen Umgang finden?“ Dadurch merken Kinder, dass sie ernst genommen werden.
CR: Und sie spüren: Auch ein Erwachsener darf nicht alles. Meine Meinung zählt etwas! Das ist entscheidend.

Muss ich mit meinem Kind vorbeugend über sexuellen Missbrauch sprechen?

KR: Wenn es sich natürlich ergibt, kann ich das machen. Manchmal gibt es einen Anlass. Kinder schnappen etwas auf oder es kommt ein Bericht im Fernsehen … Dann ist ein guter Zeitpunkt, darüber zu reden. Aber ich würde einem Kind nie sagen: Komm, jetzt setzen wir uns hin, ich will dir mal was erzählen. Ein Kind zeigt, wenn es Interesse an dem Thema hat.
CR: Ich glaube auch, dass die Initiative vom Kind ausgehen muss. Aber ich kann initiativ werden bei Themen wie Grenzen setzen, Nein sagen, gute und schlechte Geheimnisse.

Man weist Kinder darauf hin, dass sie nicht zu fremden Leuten ins Auto steigen sollen. Aber der meiste Missbrauch passiert ja mit vertrauten Personen. Wie kann ich das verhindern?

KR: Wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kind in Ordnung ist, wenn das Kind weiß, es kann zu Mama oder Papa gehen und über schlechte Gefühle reden, dann wird ein Kind auch sagen: Ich möchte nicht mehr zum Fußballtraining. Oder: Ich will nicht mehr zum Musiklehrer. Dann kann man als Elternteil nachfragen: Warum denn nicht? So findet man heraus, dass da vielleicht wirklich etwas schräg läuft.
CR: Wenn das Kind bei mir gelernt hat, dass Grenzen okay sind und es auch Nein sagen kann, wird es auch Nein sagen, wenn sich ihm ein anderer Mensch auf intime Art nähert. Die wenigsten Missbrauchsfälle passieren von Null auf Hundert sofort. Meist wird eine missbräuchliche Beziehung langsam aufgebaut. Es wird angetestet, wie das Kind und das Umfeld reagieren. Wenn ein Kind zu Hause einen gesunden Umgang mit Grenzen gelernt und eine gute Beziehung zu den Eltern hat, wird es irgendetwas signalisieren. Dann gilt es, dies wahrzunehmen.

Welche Anzeichen gibt es denn?

CR: Plötzliche, seltsame Verhaltensänderungen. Plötzliches Einnässen, plötzliches Verstummen. Das muss kein Hinweis auf Missbrauch sein, es gibt tausend andere Ursachen. Aber es kann ein Hinweis sein. Wenn es dann auch noch zum Beispiel einen neuen Nachhilfelehrer gibt, wäre ich alarmiert. Das Kind sagt vielleicht: „Ich will nicht mit dem nach oben, um meine Nachhilfe zu machen, ich will hier bleiben bei dir.“
KR: Bei älteren Kindern und Teenagern ist selbstverletzendes Verhalten oft ein Anzeichen.
CR: Oder Vernachlässigung des Körpers. Sich nicht zu waschen ist eine typische Reaktion, um den Täter von sich fern zu halten.

Kann man potenzielle Täter erkennen?

KR: Das eigene Bauchgefühl ist immer ganz gut. Manchmal hat man bei Leuten ja ein komisches Gefühl. Da muss man überlegen: Warum habe ich dieses Gefühl? Und sich Rückversicherung bei anderen holen.
CR: Täter gibt es in allen Bildungsschichten. Es sind zwar mehr Männer, aber auch Frauen. Mein Bauchgefühl springt bei diesen Machtgeschichten an: Wo nehme ich wahr, dass jemand Grenzen übertritt? Probiert, durch seine Worte zu verführen? Wenn ich in eine Gruppe komme und alle hängen einer Person an den Lippen und keiner sieht, dass die Person regelmäßig Grenzen überschreitet – körperlich oder verbal, dann werde ich misstrauisch. Wenn ich wahrnehme, dass Leute vor einem Mitarbeiter kuschen, dass sie sich nicht trauen, offen zu reden, weil er auch so etwas wie ein Heiliger, ein Unanfechtbarer ist. Dieser schräge Umgang mit Macht ist ein Kennzeichen von Tätern. Wobei das natürlich nicht heißt, dass jeder, der mit Macht komisch umgeht, auch ein Täter ist.

Was kann ich tun, damit mein Kind später nicht selbst irgendwann zum Täter wird?

KR: Auch hier geht es wieder um Grenzen: Wenn eigene Grenzen gewahrt werden und diese einem bewusst sind, dann weiß man auch, wo der andere ein Signal sendet, dass das eine Grenze für ihn ist. Wenn man das früh einübt, kann man das als Teenager und Erwachsener auch.
CR: Wir als Väter haben eine hohe Verantwortung. Ich bin immer mehr sensibilisiert worden, was wir unter Männern manchmal für einen Mist reden. Ich will weiter an mir arbeiten und Alltagssexismus aufdecken. Es gibt viele Sachen, bei denen ich mich frage: Bin ich grenzüberschreitend? Stärke ich ein System, das Frauen strukturell benachteiligt? Und lebe das auch meinem Sohn vor? Ich habe mir angewöhnt, geschlechtergerechter zu sprechen. Ich habe das lange Zeit für Blödsinn gehalten. Inzwischen bin ich da sensibel und versuche das zu ändern. Durch mein Rollenvorbild habe ich meinen Sohn hoffentlich zu einem besseren Mann gemacht, als ich gestartet bin.

 

Katrin Rommert arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten, Christian Rommert ist als Redner, Autor und Berater tätig. Sie leben mit ihren drei Kindern in Bochum. Das Interview führte Bettina Wendland.

 

Buchtipp
Christian Rommert: Trügerische Sicherheit. Wie wir Kinder vor sexueller Gewalt in Gemeinden schützen (SCM R. Brockhaus)
Hilfetelefon sexueller Missbrauch: 0800-2255 530
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