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Ein Paar, zwei Perspektiven – Neuland

An Veränderungen gewöhnen

Katharina Hullen ärgert sich darüber, dass ihr Mann der großen Tochter mehr erlaubt, als sie es tun würde.

Katharina: Nun ist es also so weit: Das Jüngste unserer fünf Kinder wurde eingeschult, die hullensche Kindergartenzeit ist nach 12 Jahren endgültig vorbei. Der Alltag muss umstrukturiert werden. Neue Zeiten, neue Regeln, neue Diskussionen. Bei so viel Neuem schnappe ich mir unseren Erstklässler und gönne ihm – und mir – ein Wochenende zu zweit.

Doch bevor wir aufbrechen, setzt mich unsere Älteste zwischen Tür und Angel noch darüber in Kenntnis, was sie an diesem Wochenende so vorhat. Sie ist mit dem neuen Schuljahr in die Oberstufe aufgestiegen und ist – irgendwie plötzlich – unglaublich beschäftigt und ständig unterwegs. Und, wie mir auffällt, mit völlig neuen Freunden, deren Namen nie zuvor gefallen sind. Und Partyeinladungen – die sind irgendwie auch neu. Also nicht mehr so Kindergeburtstagsfeiern am Samstag um 15 Uhr, sondern Partys mit Jungs und Mädels und ja, auch mit etwas Alkohol. Eben zu so einer Party von einem neuen Freund wollte unsere frische Oberstufen-Tochter an diesem Wochenende.

Als ich von meinem sommerlichen Mutter-Sohn-Wochenende zurückkehre, erfahre ich dann Folgendes: Irgendwann Samstagnacht hatte unsere Tochter den besten Ehemann oder passenderweise den besten Vater der Welt angerufen und ihm erklärt, es sei so schön und es würden spontan ein paar Schulfreundinnen und Schulfreunden über Nacht bleiben, und ob sie denn nicht auch bitte dort schlafen dürfe? Auf den Gartensofas auf der Terrasse?

Und, was glauben Sie, war seine Antwort? „Ich weiß, Mama würde dir das jetzt sicher nicht erlauben, aber ich kann dich gut verstehen – Oberstufenzeit ist toll! Ja, übernachte ruhig dort!“

Soll ich lachen oder schreien? Ich könnte mich ärgern darüber, dass er sich wissentlich und öffentlich in dieser Sache gegen meine vermutliche Entscheidung gestellt hat. Andererseits war er zuständig in dieser Situation und hat eben aus dem Bauch heraus voller Empathie und Liebe seiner Großen einen Wunsch erfüllt. Nicht ohne zu betonen, dass selbstverständlich alle Bedenken, die gegen diese Übernachtung sprächen, sicher von mir vorgetragen worden wären, aber zum Glück ist Mama ja jetzt nicht da – ein zweifelhaftes Bündnis, wie ich finde. Ich meine, natürlich hat Hauke weniger Probleme mit dieser Veränderung (Neuerungen, neuen Ideen), schließlich wusste er auch schon zu Kindergeburtstagszeiten die Namen der Freundinnen nicht.

Ich weiß auch: Diese Entwicklung ist völlig normal und richtig so. Es ist auch schön zu sehen, wie unsere Große an der geöffneten Tür in die große weite Welt steht. Klug, vernünftig, begabt, mit Träumen und Zielen und Fragen – es gibt faktisch nur Grund zur Freude. Und doch spüre ich: Mein Herz muss sich noch und immer wieder gewöhnen an all die großen und kleinen Veränderungen.

Freude über den Neustart

Hauke Hullen ist zwar genervt vom Elterntaxi, aber freut sich auch über neue Freiheiten.

Hauke: „Du, Papa, wir treffen uns heute Abend noch mit Freunden, kannst du mich später abholen?“ Wenn ich diese Worte von meiner frisch in die Oberstufe eingetauchten Tochter höre, dann flattern die verschiedensten Gedanken durch meinen Kopf. Zum Beispiel: „Toll, meine Tochter hat Freunde!“ Oder: „Super, dann können die beste Ehefrau von allen und ich endlich unsere Serie weitergucken!“ – denn in unserer dicht besiedelten Wohnung haben wir nur selten die Gelegenheit, mal alleine vor dem Bildschirm zu sitzen. Und drittens denke ich seufzend: „Uff, wieder eine lange, mitternächtliche Fahrt durch die Vorort-Steppen des Rheinlandes …“

Denn das ist der Nachteil des Lebens am Stadtrand – die nächste Schule ist weit weg, auf der anderen Seite der Stadtgrenze. Busse wagen sich nur am helllichten Tage und nur zu Stoßzeiten in das Revier des rivalisierenden Verkehrsbetriebes, sodass es nur schwer möglich ist, Sozialkontakte anzubahnen – eben weil kaum eine Bahn fährt.

Also Elterntaxi. Was einem immerhin die Gelegenheit verschafft, einen Blick auf die Jugendlichen zu werfen, mit denen unsere Tochter neuerdings noch viel lieber Zeit verbringt als mit uns. Das schmerzt natürlich ein wenig. Andererseits wollen diese Jugendlichen auch lieber Zeit mit unserer Ältesten statt mit ihren eigenen Eltern verbringen – und das werte ich einfach mal als Kompliment für die langen Jahre unserer aufopferungsvollen Erziehung.

Allerdings ist noch nicht ganz geklärt, was von unserer Erziehung übrig bleiben wird, wenn die von uns geprägten Werte und Normen erst einmal den Erosionskräften der Peergroup ausgesetzt sind. Erstes Indiz: „Ich habe gar nichts getrunken“, versicherte unsere Tochter, die bislang ja auch keinerlei Interesse an Alkoholika gezeigt hatte, nach der letzten Party. Kurze Pause. „Nur ein Glas Wein.“ Aha. Hm. Soso.

Die Kleine trinkt jetzt also Wein – dabei ist sie doch gefühlt gerade erst eingeschult worden. Aber so ist halt der Lauf der Zeit, und so freue ich mich einfach mit über den guten Start meiner Tochter in die Oberstufe, wo sich neue Bekannt- und Freundschaften ergeben, wo das Musizieren in der Schülerband großen Spaß macht und wo neue Freiheiten auf dem Weg zum Erwachsenwerden ausgelotet werden. Statt sich an die Vergangenheit zu klammern, sollten wir uns lieber pragmatisch auf die Möglichkeiten freuen, die in Zukunft auf uns warten. Während ich mich also hinters Lenkrad klemme, wirft mein inneres Auge einen raschen Blick auf die nächsten Etappen der Abnabelung und ich gewöhne mich schon mal an den Gedanken, dass nach den nächsten ein, zwei Partys wahrscheinlich der Auszug dran ist. Sehen wir’s positiv: Dann haben wir endlich die Chance auf ein Kino-Zimmer!

 

Hauke Hullen (Jahrgang 1974) ist Lehrer für Deutsch und Sozialwissenschaften. Er und Ehefrau Katharina haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Katharina Hullen (Jahrgang 1977) ist Bankkauffrau und Dolmetscherin für Gebärdensprache in Elternzeit. Sie und Ehemann Hauke haben fünf quirlige Kinder und leben in Duisburg. Gemeinsam bilden die beiden das Kirchenkabarett „Budenzauber“.

Witwe durch Suizid: Wie sich eine Frau zurück ins Leben kämpft

Durch den Suizid ihres Mannes geht Nics Leben über Nacht in die Brüche. Doch in Trauer und Chaos findet sie Wege, ihr Leben neu zu gestalten.

Die innere Welt

Vor sechs Jahren ist mein Mann gestorben. An Suizid. Das war definitiv etwas, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Gewählt hatte ich zuvor ein Leben auf dem Land mit meinem Mann und meiner Tochter, Hund und Katze, und einem gemeinsamen Beruf. Dieses Leben war mit der Entscheidung meines Mannes, nicht mehr leben zu wollen, genauso plötzlich gestorben wie er. Ich hatte dabei kein Mitspracherecht.

Ein plötzlicher Todesfall – besonders ein Suizid – beendet aber nicht nur ein Leben, wie es vorher war. Es löst auch eine Menge Neues aus: Wellen voll Emotionen und Gedanken spülen über uns hinweg, und wir wissen kaum noch, wo oben und unten ist. Oft funktionieren wir dann nur noch, weil wir sonst untergehen würden. Erst später, wenn wir uns etwas an den Wellengang gewöhnt haben, können wir uns diesen neuen Gedanken und Gefühlen stellen, die mit der Trauer angerauscht kommen.

Mit der Zeit nimmt die Wucht der Wellen ab, und sie werden seltener und flacher. Wir können die Gedanken und Gefühle besser wahrnehmen und sortieren. Ab und an schwimmen wir mit ihnen oder trauen uns sogar, mit ihnen zu spielen und auf ihnen zu surfen. Denn dazu sind sie eigentlich da. Sie helfen uns, einen neuen Platz zu finden, nachdem etwas unser vorheriges Leben zerstört hat.

Die äußere Welt

Ob wir wollen oder nicht – die Welt um uns herum nimmt uns anders wahr. Ich war nun Witwe. Das waren für mich bis dahin alte Frauen in schwarzer Kleidung gewesen, aber doch nicht ich, mit Mitte dreißig!

Als ich versuchte, eventuell eine neue Wohnung für mich und meine Tochter zu finden, stellte ich zudem fest, dass ich nicht nur Witwe, sondern auch alleinerziehend war. Und damit kamen Annahmen wie: überarbeitet, überfordert, nicht zahlungsfähig. Zumindest wenn es nach den Maklern ging, die mich nicht mehr zurückriefen, sobald sie erfuhren, dass ich keinen Mann mehr an meiner Seite hatte. Sozialer Abstieg innerhalb von Sekunden in den Köpfen fremder Leute.

„Kein Mann mehr“ hieß bei anderen aber auch: Sie ist Single. Nach fast zwanzig Jahren in einer Beziehung wurde ich wieder angeflirtet. Schon drei Tage nach dem Tod meines Mannes. Was ich zunächst gar nicht begriff, weil ich daran zuletzt dachte: wieder Platz zu machen in meinem Herzen für einen anderen Menschen.

Denn für mich hatte sich an meiner Definition wenig geändert. Ich war mit meiner Tochter immer noch eine Familie. Ich hatte nur meinen Mann verloren. Ich hatte nicht um neue Beschreibungen gebeten, wie Witwe, alleinerziehend, Single. Ich war immer noch ich. Zwar mit inneren Trauerwellen in Richtung Veränderung, aber doch nicht so, wie andere mich sahen! Auch das: etwas, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Und woran ich nichts oder nur wenig ändern konnte.

Die Umwelt

Akzeptanz und Annahme von dem, was man nicht ändern kann, gehört zu den ersten und gleichzeitig schwersten Aufgaben, wenn man um ein Leben trauert, das nicht mehr da ist. Umso schwieriger ist es aber auch zu entscheiden, was man akzeptieren muss und was nicht.

Mit dem Tod meines Mannes war lange nicht klar, ob ich auch noch unser Haus verliere. Es hat drei Jahre gedauert, bis deutlich wurde: Wir können bleiben und es sanieren – die zweite Hälfte der Sanierung fiel in den ersten Lockdown der Pandemie; auch etwas, was wir uns nicht ausgesucht hatten. Ein Zuhause zu haben – und damit ein soziales Umfeld, das einem Sicherheit und Geborgenheit gibt –, ist in Umbruchphasen immens wichtig. Wenn das auch noch wegbricht, wackelt das Leben auf allen Ebenen. Ich fühle deshalb sehr mit Menschen nach einer Flutkatastrophe oder auf der Flucht. Denn unser Haus war das Einzige, was ich aus meinem alten Leben retten konnte.

Meinen Beruf musste ich aufgeben. Mein Mann und ich hatten eine Beratungsstelle, die ich allein nicht weiterführen konnte. Mich davon zu verabschieden, tat weh, machte aber auch Platz für Neues. Für etwas, das schon lange in mir geschlummert, aber bis dahin keinen Raum hatte: Ich habe Bildhauerei studiert. Und einen Verein gegründet, der anderen Hinterbliebenen nach einem Suizid eine Stütze sein soll: Blattwenden e. V.

Die Glaubenswelt

Ich bin Christin und finde in Gott meinen Halt. Umso überraschter war ich, als ich letztens gefragt wurde, ob meine andauernde Müdigkeit vielleicht daran liegt, dass ich mich von Gott entfernt hätte. Über solche Mutmaßungen kann ich nur gähnen. Denn Veränderungen, die wir uns nicht ausgesucht haben, machen einfach müde. Sie verlangen Kräfte und Fähigkeiten von uns, von denen wir vorher gar nicht wussten, dass wir sie hatten. Sie zwingen uns aber auch dazu, nicht nur einmal, sondern für eine lange Zeit über unsere Grenzen zu gehen.

Viele haben genau das in den letzten Jahren erlebt, in der Pandemie, den Flutgebieten und jetzt durch den Krieg in der Ukraine. Besonders Menschen im Sozial- und Gesundheitswesen wurden und werden mit Veränderungen konfrontiert, die sie sich nicht ausgesucht haben. Irgendwie müssen wir da durch. Dass wir danach müde sind, liegt sicherlich nicht an unserer Gottlosigkeit. Es liegt daran, dass wir den Sonntag, den Ruhetag, den Gott uns empfohlen hat, für mehrere Jahre nicht leben konnten.

Ich bin deshalb umso dankbarer, dass ich in all dem Chaos namens Leben eine stabile Konstante an meiner Seite weiß: Meine himmlische Begleitung, die mich aushält mit meinen Trauerwellen, die mich schützt vor Verurteilungen und Geringschätzung von außen, die mir Weisheit schenkt bei meinen Entscheidungen, und die mir Mut macht, nach vorn zu gehen.

Natürlich hadere ich mit Gott. Natürlich finde ich vieles unverständlich und doof. Natürlich bin ich ungeduldig und genervt und wütend und tieftraurig – aber Gott hält das aus! Gott versteht mich. Und das gibt mir Trost und Erdung, um daraus zu wachsen. Es lässt aber auch eine Menge unnötigen Kram hinter mir. Viele Glaubensdiskussionen werden unwichtig. Sie stehlen mir nur meine wertvolle Zeit, die ich hier auf der Welt noch habe, mit meiner Tochter und meinem neuen Mann. Das finden manche befremdlich. Ich finde es befreiend.

Weiter in die neue Welt

Leider haben wir keine Garantie, dass nach einem Abschied alles wieder gut wird. Manchmal kommen neue Abschiede hinzu. Zwei Jahre nach dem Suizid meines Mannes ist mein Vater gestorben, letztes Jahr unsere Katze und vor drei Wochen unser Kater – wieder plötzlich, von einem Auto angefahren. Das hat bei meiner Tochter neue Trauerprozesse ausgelöst. Denn nicht nur ich habe das alles erlebt, sondern auch mein heute neunjähriges Kind. Jetzt ist sie dran. Jetzt kann sie endlich Worte für ihre Veränderungsprozesse finden. Und ich kann und will für sie da sein.

Um das zu können, kann ich aber nicht mehr jeden Tag ums Thema Trauer kreisen. Bisher war ich auf Spendenbasis bei meinem Verein angestellt. Durch die Pandemie und die Wirtschaftslage haben bereits und werden noch viele unserer Förderer ihre Spenden einstellen. Gleichzeitig geht mein Bildhauerei-Studium zu Ende. Ich muss also umdenken. Schon wieder.

Auch wenn ich Veränderungsprozesse gut begleiten kann, heißt das ja nicht, dass ich das auch tun muss. Und genau da befinde ich mich jetzt: Bei der Bürde und dem Luxus, (relativ) frei zu entscheiden, was als Nächstes kommt. Ob ich tatsächlich so bescheuert bin und ausgerechnet in einer Wirtschaftskrise einen Beruf ergreife, in dem ich einfach nur schöne Dinge herstelle, wofür andere kein Geld mehr haben, weil es für sie ums pure Überleben geht?

Aber: Es zeigt auch, dass bei allen erzwungenen Veränderungen von außen immer Möglichkeiten bleiben, sich für etwas zu entscheiden. Auch wenn es nur verborgen oder klein ist. Irgendwo gibt es immer eine Chance für einen Neubeginn. Jesu Auferstehung ist das beste Beispiel dafür. Und mit diesem Beispiel lebe ich weiter, immer.

Nic Schaatsbergen ist gelernte Journalistin und Diplom-Bildhauerin: art.greenwoman.de. Sie engagiert sich für Suizid-Hinterbliebene bei Blattwenden e. V.: blattwenden.eu

 

Falls ihr selbst in einer verzweifelten Situation seid, sprecht mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet die Telefonseelsorge. Sie ist rund um die Uhr anonym und kostenlos erreichbar: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch die Beratung über E-Mail ist möglich. Eine Liste mit bundesweiten Hilfsstellen findet sich auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention.

Startbereit für Neues

Durch einen Besuch bei Amazon hat Marcus Beier wichtige Einsichten gewonnen – und dabei geht es nicht um Bücher oder Business …

Als ich vor gut vier Jahren in den USA war, hatte ich das Glück, über Vitamin B eine kleine Führung im Amazon-Hauptgebäude in Seattle zu bekommen. Das Hochhaus, das ich mir ansehen durfte, war das sogenannte „Day-One-Building“ („Tag-Eins-Gebäude“). Es spiegelt die Mentalität von Amazon wider. Die Mitarbeiterin dort erklärte mir das so: Wenn man in einer neuen Firma eine Arbeitsstelle anfängt, ist alles neu, aufregend, man sieht alles mit einem neuen, frischen Blick. Oft erkennt man dadurch schneller Potenziale für Verbesserungen, nimmt Fehler besser wahr und entdeckt neue Chancen und Lösungen. Nichts ist wie bisher. Das eröffnet einen Blick in ungeahnte Möglichkeiten – in das Reich der Veränderung, der Potenziale und der großen Ideen.

„Alte Hasen“ sehen manchmal eher die Begrenzungen und das, was nicht geht, aber als „Neuling“ bemerkt man nicht die Hindernisse, sondern das, was geht. Das ist ein Blick in die Schatzkammer der Möglichkeiten. Für eine Firma, die sich Innovation zum Markenzeichen auserkoren hat, ist ein solches Denkmuster überaus produktiv, wenn nicht sogar unabdingbar. Aber nicht nur dort kann ein solches Denken sehr hilfreich sein. Es kann auch im „normalen“ Leben helfen, Dinge neu zu betrachten, die Uhren auf null zu stellen, um die Welt zu verstehen und auch dem Unausweichlichen besser zu begegnen: der Veränderung.

Kinder als Vorbild

Ich persönlich tue mich oft genug schwer mit Veränderung. Vieles ist doch gar nicht schlecht. Warum muss man etwas ändern, was gut funktioniert? Aber die Welt war noch nie vollkommen, und sie wird es wohl auch nicht. Daher ist Veränderung etwas, was uns immer in dem Wunsch nach Verbesserung begleiten wird. In jedem Tag liegt Potenzial dafür.

Wie das geht, lernen wir – faszinierenderweise – an kleinen Kindern. Wenn sie noch nicht zur Schule gehen und noch kein richtiges Gefühl für Zeiten und Tage haben, noch nicht planen, was morgen kommt und auch nicht zuordnen können, was gestern, vorgestern, später oder morgen genau ist, leben sie absolut im Moment. Vor Kurzem hatte ich diese Unterhaltung mit unserem Zweijährigen: Joas: „Papa, ich will das heute machen!“ Ich: „Ja, wir machen das später am Nachmittag.“ Joas: „Nein, heute!“

Das fand ich sehr lustig, und mir wurde bewusst, wie sehr er im Moment lebt. Er weiß nicht, was ich meine, wenn ich sage: „Morgen fahren wir zu …“ Er plant nicht, er schaut nicht auf die morgige Erfahrung und denkt nicht groß an gestern. Für ihn zählt: „Komm, wir gehen jetzt zum Bäcker!“ Und dann ist er glücklich.

Als mir das auffiel, wurde mir auch klar, dass Kinder wie er ständig die Welt neu entdecken. Natürlich kennen sie ihr Umfeld und sie brauchen Stabilität. Aber innerhalb dieses Rahmens entdecken sie die Welt jeden Tag neu. Jeder Tag ist besonders, jeder Tag hat Potenzial, an jedem Tag „geht was“. Man hört kaum: „Ach ne, das hab ich gestern probiert. War blöd!“ Es zählt der Moment. Und wenn es gestern nicht ging, kann es doch heute klappen. Warum auch nicht?

Nur ein Tag

Bei aller Stabilität scheint die Tatsache, jeden Tag etwas Neues zu erleben, das natürliche Lebensgefühl für Kinder zu sein. Das finde ich inspirierend! Und in gewisser Weise scheint auch hier zuzutreffen, was Jesus über den kindlichen Glauben sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“ Und seien wir mal ehrlich: Manchmal tut uns ein frischer, unverbrauchter, kindlicher Blick auf die Welt einfach gut, oder? Der Chef war gestern stinkig – na und? Heute ist ein neuer Tag! Darin findet sich eben auch die Mentalität des ersten Tages wieder. Die Welt ist voller Möglichkeiten – machen wir etwas draus! An dieser Mentalität und dem kindlichen Vorbild sehe ich noch weitere Möglichkeiten zum Andocken. Der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899-1961) schreibt in dem Buch „Whom the Bell Tolls“ (1940): „Heute ist nur ein Tag unter all den Tagen, die es jemals geben wird. Aber was in all den Tagen, die noch kommen werden, passieren wird, kann davon abhängen, was du heute tust.“ Mich inspiriert dieser Satz – insbesondere in Verbindung mit der „Tag-Eins-Mentalität“ – zu einem bewussten und verantwortungsvollen Leben. Und zu einem Leben, das Wünsche, Chancen und Möglichkeiten auf vernünftige Weise mit der Wirklichkeit in Beziehung setzt und sowohl kurzfristige Wünsche als auch langfristige Entwicklungen ausgewogen zusammendenkt. Das ist natürlich ein Ideal – und eines, von dem ich selbst ein gutes Stück entfernt bin. Dennoch ist es mir ein Ansporn, insbesondere vor dem Hintergrund der Veränderungen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt.

Grundlagen für das Morgen schaffen

Wie gesagt bin ich selbst nicht gerade ein Fan von Veränderungen. Ich kann sie nicht verhindern, aber es kann entscheidend sein, wie ich mich dazu verhalte. Will ich mich der Veränderung widersetzen? Unmöglich. Das geht vielleicht eine Weile gut, aber dann bleibt mir letztlich nur, mich den Veränderungen irgendwie anzupassen und mich bestmöglich damit zu arrangieren und mich durchzulavieren. Wie wäre es stattdessen mit einer Prise „Tag-Eins-Mentalität“? Und dazu das Bewusstsein, dass ich heute die Grundlagen für das Morgen schaffen kann.

Das Leben ist voller Überraschungen und immer wieder tun sich unverhofft Gelegenheiten, Chancen und auch teils schwere Herausforderungen auf. Nun fragt sich, wie wir damit umgehen. Natürlich kann man durch das Leben gehen wie Indiana Jones – ständig auf der Suche nach Schätzen, ständig auf der Jagd nach der „Goldenen Ananas“, immer dem eigenen Vorteil folgen, immer auf der Lauer, doch noch das beste Schnäppchen abzugreifen. Persönlich bin ich davon auch kein Fan. Das wäre mir auch viel zu anstrengend, weil eine dauerhafte Lauerstellung nicht unbedingt entspannend ist und nicht dazu führt, den Moment genießen zu können.

Man muss jedoch nicht auf Dauerjagd sein und kann trotzdem mit einem wachen Blick durch das Leben gehen. Jeder Tag kann das Leben verändern. Aber erkenne ich das Veränderungspotenzial überhaupt? Nehme ich eine Chance wahr, wenn sie auf einem Silbertablett vor meiner Nase liegt? Ich muss wissen, was ich langfristig möchte, was meine Ziele sind – persönlich, beruflich, für uns als Familie, als Gemeinde etc. Und dann brauche ich Offenheit, neue Wege zu gehen – auch auf die Gefahr hin, dass es nicht so klappt. Manchmal ist das Nichtstun schlimmer, als etwas zu tun. Daher glaube ich, dass es wichtig ist, langfristige Wünsche im Blick zu behalten und gleichzeitig jetzt schon zu bedenken, wo Veränderungspotenziale liegen, die vielleicht erst später wirklich greifen.

Das Leben in die Hand nehmen

Für mich persönlich ergibt sich daraus eine entscheidende Wahl: Lasse ich die Dinge geschehen, renne aber letztlich eher den Veränderungen hinterher, die „einfach passieren“? Oder gestalte ich bewusst mein Leben und habe selbst (so gut es eben geht) die Veränderungsprozesse in der Hand? Selbstverständlich geht das nicht immer. Unfälle, Katastrophen, gesellschaftliche Prozesse können jederzeit passieren und brechen über uns herein. Dann müssen wir reagieren und sind nicht immer vorbereitet. Aber in vielen anderen Dingen haben wir selbst in der Hand, wie wir das gestalten wollen. Und ich glaube, dass wir da mehr Gestaltungsspielräume haben, als uns manchmal bewusst ist.

Unsere Kinder werden größer. Wir können diesen Prozess als Eltern begleiten und diese Zeit für uns und die Kinder gestalten. Auch für uns als Paar können wir rechtzeitig Veränderungsprozesse einleiten, mit denen wir uns zum Beispiel darauf vorbereiten können, dass es eine Zeit nach dem Auszug der Kinder gibt. Wie oft hört man von Paaren, dass sie sich „auseinandergelebt“ haben, was ich immer sehr traurig finde. Mir ist das immer eine Erinnerung, gegenzusteuern und die Ehe entsprechend zu gestalten. Darin liegt eine große Chance, aber auch eine Herausforderung. Möchte man sich eingestehen, dass Dinge vielleicht nicht so gut laufen, um dann etwas zu verändern? Aber genau das sollten wir tun. Wir können immer wieder schauen, ob alles gut läuft oder ob man nachjustieren sollte – sei es im privaten Bereich oder im Job oder in der Gemeinde. Ich darf wissen, dass Gott in allen Veränderungen bei mir ist, sodass ich keine Angst davor haben muss. Ihn kann ich um Rat fragen und ihm meine Sorgen anvertrauen.

Auch, wenn ich kein Freund von Veränderung bin, motiviert mich der Gedanke, selbst zu gestalten und hin und wieder einen Blick auf das Leben zu werfen, als wäre es mein erster Tag.

 

MARCUS BEIER hatte vor Kurzem seinen ersten Tag als Redakteur bei Family und FamilyNEXT. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt er in Wiesloch.