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„Er ist und bleibt mein Bruder“

Er war in rechten Gruppen aktiv, stand den Reichsbürgern nahe und den Querdenkern. Er wettert gegen Flüchtlinge und Juden. Wie geht seine Schwester damit um?

 

Wenigstens habe ich keinen Nazi in der Familie“, meinte meine Freundin lachend am Telefon, als wir uns über die Macken in ihrer Familie austauschten. Dann blieb ihr das Lachen im Halse stecken: „Oh, sorry, tut mir leid …!“ Da musste ich lachen – darüber, dass sie so peinlich berührt war – und sagte: „Es stimmt doch: Es ist wirklich schön, wenn man keinen Nazi zum Bruder hat!“

So ganz genau weiß ich nicht, ob mein Bruder sich aktuell zu den Nazis rechnet. Das wechselt. Im letzten Sommer war er noch auf Demos von den Querdenkern, in einer der letzten Nachrichten schrieb er, dass sie zu den „regierungsgesteuerten Gruppen“ gehörten. Als ich mich für Flüchtlinge engagierte, wurde sein Facebook-Konto wegen rechtsextremer Äußerungen gelöscht. Während ich für eine christliche Organisation arbeite, ist er mit irgendwelchen obskuren Druiden unterwegs. Sein Laptop wurde schon mehr als einmal gepfändet und auf rechtsterroristisches Material geprüft, da er mit den Reichsbürgern sympathisierte oder auch dabei war …
Es ist einfacher, wenn man keinen Nazi, Reichsbürger, Querdenker oder ähnliches in der Familie hat. Aber seine Geschwister kann man sich eben nicht aussuchen. Vielleicht hätte er auch lieber einen kleinen Raufbold zum Bruder gehabt, statt mich, der kleinen braven Schwester.

Ein „schwieriger Junge“

Stephan (Name geändert) wuchs in einer christlichen Vorzeigefamilie auf. Meine Eltern sind in der Kirche aktiv, engagieren sich darüber hinaus ehrenamtlich im Ort. Perfekte Eltern gibt es nicht. Aber ich bin überzeugt, dass meine Eltern ehrlich versucht haben, Stephan mit viel Liebe und Geduld zu erziehen. Doch er passte von klein auf nicht in die Muster, die unsere Gesellschaft vorgibt. Im Kindergarten galt er als aggressiv, in der Grundschule konnte er nicht lange stillsitzen: ein Zappelphilipp. Einerseits konnte er sämtliche Quartett-Karten auswendig, andererseits waren seine Deutsch-Hausaufgaben oft eine Qual – für uns alle. Schließlich wurde die Diagnose ADHS gestellt, und mein Bruder bekam Ritalin. Meine Eltern suchten mit ihm Therapeuten und Ärzte auf, aber Stephan blieb ein „schwieriger Junge“.

Vielleicht schlüpfte ich, weil diese Rolle schon besetzt war, in die Rolle des „Sonnenscheins“. Ich lebte eher angepasst, brachte gute Noten nach Hause und machte meinen Eltern möglichst wenig Probleme. Die hatten sie ja auch schon mit Stephan. Mein Bruder war mir oft unangenehm. Bei Verwandtenbesuchen mussten wir einmal früher nach Hause, weil mein Bruder „sich wieder mal daneben benommen hatte“. Ich war manchmal wütend auf ihn, manchmal war er mir einfach nur peinlich. In einer Therapiesitzung sollte mein Bruder seine Familie aufstellen, erzählte mir mein Vater einmal. Die Therapeutin stellte für jedes Mitglied eine Figur aufs Brett. Mein Bruder nahm die Figur für mich direkt wieder vom Brett herunter: „Die kann in die Mülltonne.“ Die Beziehungsdynamik zwischen uns war von klein auf nicht die beste.
In den christlichen Kinderstunden fiel mein Bruder immer als Außenseiter auf, als Störenfried, als Unruhestifter. Besonders meiner Mutter war das sehr unangenehm – und ich denke, dass Stephan das gespürt hat. Der Gemeindekontext mit lauter (vergleichsweise) braven Kindern wirkte wie eine Dunkelfolie, vor der er besonders mit seiner Andersartigkeit hervorstach.
Wenn ich heute mit Stephan über den christlichen Glauben spreche, bekomme ich sehr gemischte Botschaften. Manchmal ist er sehr interessiert, aber oft spürt man, dass institutionalisierter Glaube für ihn ein rotes Tuch ist. Ich verstehe das ein Stück weit. Kirche oder Gemeinde waren für ihn kein Ort, wo er Liebe und Geborgenheit empfunden hat, sondern wo er sich als Außenseiter fühlen musste. Statt bedingungsloser Gnade hat er vermutlich eher die Botschaft verstanden, dass er so, wie er ist, nicht gut genug, lieb genug, vernünftig genug, normal genug ist, um dabei zu sein.

Nur schwarz und weiß

Erst als Stephan erwachsen war, wurde eine Form von Autismus festgestellt. Mein Bruder denkt die Welt gern in schwarz-weiß, klare Grenzen (und Abgrenzungen) helfen ihm, sich zu orientieren. Empathie ist für ihn fast nicht möglich, aber dafür kann er nichts. Er teilt seine Meinungen ungefiltert mit – ob er sein Gegenüber damit verletzt oder nicht. Er hat einen sehr hohen IQ, aber soziale Kompetenzen besitzt er kaum. Er wirkt oft schusselig und tollpatschig. Er kann aus Erfahrungen nur bedingt lernen; das ist Teil seiner Autismus-Spektrum-Störung.

War unsere Beziehung nur schlecht? Nein, bestimmt nicht. Wir teilten unsere Liebe zu Tieren und führten oft zusammen die Hunde von Nachbarn aus. Einmal schenkte mein Bruder mir eine Tasse zum Geburtstag, auf der stand: „Hab dich lieb.“ Stephan ist immer sehr ehrlich, und die Eigenschaft schätze ich bis heute.
Als Kind hatte ich oft die naive Vorstellung, dass er sich nur „richtig bekehren“ müsse, und dann würde endlich alles gut. Ich habe mich manchmal auch bemüht, dazu beizutragen, was erwartungsgemäß nicht von Erfolg gekrönt war. Stephan merkt sehr schnell, ob etwas fair ist oder nicht, ob Druck in einer Beziehung ausgeübt wird oder jemand ihn gängeln will. Meine Avancen in die Richtung sind (zum Glück) fehlgeschlagen. Wenn ich heute zurückdenke, dann tut es mir leid, dass ich ihn in mein Schema pressen wollte, anstatt ihn so anzunehmen und zu lieben, wie er ist.

Feindbilder übernommen

Stephan zog mit Anfang 20 aus, emanzipierte sich von der Familie und lebt nun sein eigenes Leben. Dabei hat er Menschen kennengelernt, bei denen er nicht ständig als Außenseiter auffällt. Eine übersichtliche Einordnung der Welt, ein Drinnen und Draußen, klare Strukturen, die meinem Bruder entgegenkommen. Mit dieser Welt hat er auch die Feindbilder, die Abgrenzung und die Verschwörungsideologien übernommen. Ich vermute, dass er in diesen Kreisen endlich das Gefühl hat, genug zu sein, dazuzugehören, ein Teil zu sein. Sie übertrugen ihm Aufgaben, er durfte dort Reden halten, sie haben ihm eine Stimme und eine Stellung gegeben. Die rechten Gruppen, in denen er verkehrt, haben es scheinbar geschafft, ihm das zu vermitteln, was unsere christlichen Gemeinden ihm nicht geben konnten. Das ist etwas, was mir immer wieder sehr weh-tut. Jesus hat es hinbekommen, genau für die Menschen attraktiv zu sein, die am Rand der Gesellschaft standen. Wieso fühlen sich diese Menschen in unseren Gemeinden nicht wohl?

Meine Eltern sind mit Organisationen im Kontakt, die Familien und Aussteigern aus der rechten Szene Unterstützung anbieten. Wir bleiben in Kontakt mit ihm. Mir passiert es immer wieder, dass ich mit ihm streite, weil er Behauptungen aufstellt, die ich nicht stehen lassen will. Ich versuche, an seine Logik zu appellieren, an seinen gesunden Menschenverstand. Aber das bleibt fruchtlos.
Ich wäre zwar gern für ihn da, aber gleichzeitig kann ich auch nicht gut damit umgehen, wenn er mir ungefiltert Dinge an den Kopf wirft, die mich verletzen, provozieren, aufwühlen und verunsichern. Vielleicht ist es seine Art, um Aufmerksamkeit zu bitten. Doch ich bin nicht unbegrenzt fähig, meine Gefühle beiseitezuschieben. Wenn es mir gut geht, lasse ich mich auf Gespräche mit ihm ein, setze dabei aber Grenzen. Manchmal habe ich aber das Bedürfnis, mich vor verbalen Angriffen zu schützen, und ziehe mich zurück. Ich versuchte zum Beispiel, ihn mit logischen Argumenten zu widerlegen, als er behauptete, Flüchtlinge würden 2.000 Euro und ein iPhone geschenkt bekommen, wenn sie ins Land kämen („Was für einen Umsatz Apple zusätzlich gehabt haben muss! Und Wahnsinn, wie reich die Kommunen plötzlich sind!“). Sobald er aber anfängt, Dinge zu sagen, die menschenverachtend sind, oder er mich persönlich (bewusst?) angreift, bremse ich das Gespräch aus.
Bis heute sind die Kontakte sehr ambivalent. Auf der einen Seite schickt er in den Familien-Chat einen Link zu einem christlichen Video, das ihn angesprochen hat. Im gleichen Chat schreibt er wenig später antisemitische Hetze.

Viel barmherziger

In manchen Momenten denke ich, dass die Welt doch einfacher wäre, wenn mein Bruder einfach „normal“ wäre. Aber es sind nur Momente. Stephan ist für mich ein persönlicher Check-Up für die Authentizität meines Glaubens. Durch ihn ist mein Bedürfnis groß geworden, dass Gemeinde ein Ort wird, an dem sich Menschen wie Stephan zu Hause fühlen können. Er fordert mich immer wieder heraus und zeigt mir, dass es eine Welt außerhalb meiner Blase gibt. Er ist und bleibt mein Bruder, ich habe ihn lieb, auch wenn ich so vieles nicht mit ihm teile. Als Familie haben wir viel gelernt. Wir sind vermutlich alle sehr viel barmherziger mit anderen Familien, die nicht ins Schema F passen. Meine Mutter hat einige Kontakte zu anderen Müttern, die Kinder im autistischen Spektrum haben.

Ich bete für ihn, dass er Menschen, vielleicht Christen findet, die ihn so annehmen, wie er ist und keine belastete Vorgeschichte mit ihm haben. Ich wünsche mir für ihn, wir könnten ihm als Familie mehr Rückhalt geben, und gleichzeitig will ich mich von seinen Vorstellungen und Aussagen deutlich abgrenzen. Die Frage, wie ich, wie wir am besten mit Stephan umgehen sollten, wie es aussieht, ihn bedingungslos und wie Jesus zu lieben, bleibt für mich ein Weg, auf dem noch einiges an Strecke vor mir liegt.

Die Autorin möchte anonym bleiben.