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Die Farben des Schweigens

Die Kraft und die Macht des Schweigens werden häufig unterschätzt. Stefanie Diekmann, bekennende Extravertierte, hat die Stille in der Zweisamkeit für sich entdeckt – und warnt gleichzeitig davor.

Während im Hafen ein Segler sein Boot zum Auslaufen vorbereitet, blinzeln zwei Weggefährten in die Abendsonne und schweigen. Die Beobachter kommentieren das Geschehen nicht, sie plaudern auch nicht, sie schauen einfach zu und gewinnen innerlich Abstand vom Alltag. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich – als eine der beiden Schweigenden – im Nichtsprechen so geborgen fühlen könnte.

Als Henrik und ich heirateten, waren wir eine Wortwolke: kichernd und quatschend. Missbilligend durch den Lärm unseres Austausches musterte mich damals eine ältere Dame und legte mir ihre Hand aufs Knie: „Wenn ihr erst mal 15 Jahre verheiratet seid, habt ihr auch Funkstille. Dann ist es vorbei mit dem Reden.“ Wie ist das also mit dem Schweigen? Eine zwangsläufige Entwicklung in Beziehungen?

Seelische Gewalt

Ich halte das Schweigen nach wie vor für gefährlich: Nach einem Vortrag über Begleitung von Teenagern kommt ein Vater auf mich zu. Er wolle mir eine Rückmeldung geben: „Ich sage nichts mehr zu meinem Sohn. Er hat mein Schweigen verdient. Erst wenn er sich anders verhält, rede ich wieder mit ihm!“ In Sekundenschnelle erfasse ich, dass hier kein Kontakt unterbrochen ist, sondern ein Sender das Übermitteln von Signalen beendet hatte. Auch nach verschiedenen Fragen und dem Versuch, für den ringenden jungen Menschen Verständnis zu vermitteln, bleibt der Sender abgeschaltet. Mit verschränkten Armen und stetigem Kopfschütteln verändert sich vor meinem inneren Auge der 55-jährige Vater zu einem kleinen Jungen. „Kennen Sie Schweigen von Ihren Eltern?“, frage ich tastend. Ohne den Blick zu erwidern, nickt der Vater und beschreibt, wie er selbst nach einigen Tagen des Schweigens seiner Mutter alles versucht hatte, um Gnade zu erlangen. Noch bevor ich mein Mitgefühl für diese Erfahrung ausdrücken kann, dreht er sich um und geht.

Wir wissen heute, dass das Schweigen als Methode zur Zurechtweisung eine Form von seelischer Gewalt ist. Neben den aktiven Formen von psychischer Gewalt kann sie eben auch ausgeübt werden, indem man Dinge unterlässt. So wird der andere, das Opfer, beispielsweise über einen längeren Zeitraum gemieden, ignoriert und mit andauerndem Schweigen gestraft. Das Nicht-Teilen der Gedanken und Gefühle mit dem anderen, gerade wenn es emotional hoch hergeht, lässt den Suchenden im Labyrinth des Schweigens ohne Chance auf einen Ausgang zurück. Schweigen kann dann tiefschwarz wirken und im Gegenüber eine Eigendynamik mit Selbstgesprächen, Selbstzweifeln und Kummer auslösen. Wenn ich den anderen nicht mehr anspreche, nicht auf ihn reagiere, dann verweigere ich die Anerkennung, dass er existiert.

Als wir persönlich in einer großen Krise waren, hat uns das Schweigen vieler Menschen, aus welcher Motivation auch immer, sehr getroffen. Wie erdrückend schweres Grau hat sich durch das Schweigen eine Wand der Einsamkeit gebildet, die ich bis heute bekämpfe. Gerade in Kummer und Not dem anderen ein Signal zu senden, ist überlebenswichtig.

Funkstille

Schweigen kann ein bedrohliches Zeichen von Funkstille zwischen zwei Sendern sein. Sie haben durch eine lange zehrende Wegstrecke oder Differenzen den Kontakt zueinander verloren. Sie senden keine Signale mehr. In Begegnungen mit wortkargen Senioren, frustrierten Eltern, erschöpften Pastoren fühlt es sich bei mir so an, als würde das grau wirkende Schweigen auf eine verstummte Seele hinweisen.

Keine Worte mehr zu finden, heißt vielleicht aber auch, keine passenden wählen zu können, weil das Heute zu fordernd ist. Man ist so ausgelaugt, dass jeder Satz viel Überwindung kostet. Als unsere Kinder klein waren, haben wir es mit einem Eheabend außer Haus versucht. Für viele scheint das das große Heilmittel zu sein. Unsere Ehezeit war jedoch von Erschöpfung und farblosem Schweigen geprägt. Wir hatten einfach keine Worte mehr. Dabei wollten wir so gerne ein „gutes“ Paar sein, eines, das durch sorgfältige Pflege der Kommunikation Krisen vorbeugt. Die Enttäuschung darüber, dass wir uns nichts zu sagen hatten, erstickte den Rest unserer Gesprächsideen. Als wir in einem Kreis von Paaren davon erzählten, erwischte mich eine Rückmeldung dazu hart: „Das ist uns nie passiert. Wir nehmen uns so wichtig, dass wir uns Tage vorher schon Themen notieren. So ein Abend reicht für uns kaum aus, um alles zu besprechen.“ Erst viel später erfuhr ich, dass die anderen Paare sich nicht mehr aus der Deckung trauten, um von ihren wortlosen Abenden zu berichten. Wir haben es damals als hilfreich erlebt und erleben es immer noch, durch einen Film, einen Artikel oder andere Impulse von außen ins Gespräch zu kommen. Dabei spüren wir eine große Verbundenheit beim Humor der englischen Krimis oder dem täglichen Kaffee zwischendurch, wo wir uns von Telefonaten oder dienstlichen Situationen berichten. Wir sind am anderen interessiert – auf unsere Art.

Verbale Streicheleinheiten

Es ist keine Schande, wenn die Worte ausgehen und man sich anschweigt. Das bedeutet aber nicht, dass man sich mit diesem Zustand abfinden muss. Vor einigen Jahren begleitete ich eine Freundin in einer schweren Ehekrise. Sie beschrieb, wie sehr sie den Geruch ihres Mannes mag, wie sie es liebt, wenn er kocht oder mit den Kindern diskutiert. „Und, was sagt er, wenn du ihm das mitteilst?“, fragte ich. Irritiert sah sie mich an: „Er würde ziemlich verstört gucken und mich für gefühlsduselig halten. Das habe ich noch nie gesagt!“ Mir zog sich der Magen zusammen, als mir die Folgen dieser Antwort bewusst wurden. Alle lobenden Worte für seinen Fleiß, für ihren Mut, für gelungene Absprachen des Alltags wurden vom Schweigen erstickt.

Wie selten sagen wir uns im Alltag, was wir an unseren Freunden, Partnern und Kindern mögen. Wenn wir kleine Aufmerksamkeiten wie den liebevollen Gruß zum Geburtstag, eine hilfreiche E-Mail, die reparierte Lampe oder das frisch bezogene Bett nicht nur wahrnehmen, sondern auch würdigen, dann passiert etwas. Das Schweigen zu überwinden ist so, als wenn wir den Sender und Empfänger neu aufeinander eichen. Es ist vielleicht ungewohnt, hat aber wundervolle Wirkungen in unseren Beziehungen. Ich bin überrascht, wie sehr auch Lehrer, Polizis-ten und Ärzte strahlen, wenn ich etwas Gutes ausspreche.

Gesprächspausen zulassen

Manchmal allerdings wünschte ich mir die Erlaubnis zu schweigen. Auf einem Geburtstag von Bekannten fiel es mir unangenehm auf, wie Gesprächspausen als peinlich vermieden wurden und das zartgrüne hoffnungsvolle Schweigen unterdrückt wurde. Den ganzen langen Abend sprachen alle in Plattitüden über den schlimmen Einfluss von Social Media, Klimawandel und Schuldruck. Hätten wir das Schweigen ausgehalten, wer weiß, vielleicht wäre eine persönlichere Note in diesem Geplänkel möglich gewesen.

Auch in Kleingruppen und Gesprächskreisen meiner Kirche wünsche ich mir den Genuss, zusammen zu schweigen, wenn wir Bibel lesen. Das Nachspüren der Worte und der Relevanz für mich gelingt mir nicht, wenn sofort jemand eine druckfertige Antwort liefert und mich mit Klugheit blendet.

Als unsere Kinder ihre Entscheidungen trafen, wie es nach der Schule weitergehen sollte, habe ich viele blubbernde Wörter in mir gehabt, die als Empfehlungen unbedingt raus wollten. Das Schweigen zu bestimmten Hürden oder Hoffnungen ist aber rosa wie zarte Liebe. Ich gehe nicht bewusst als Mutter auf Distanz und schweige, sondern ich bleibe nah und zugewandt und behalte dennoch meine Kommentare und Hinweise erst mal für mich.

Vertrautes Schweigen

Schweigen dürfen ist Luxus, der wie ein goldener Schimmer Freundschaft und Ehen veredelt. Der Weg, um das zu lernen, hat wortreiche Konflikte gebraucht. Ich bin immer gern mit Henrik Auto gefahren. Früher haben wir jeden Satz und jedes Erlebnis der letzten Woche geteilt, heute können wir schweigen. Das Schweigen bedeutet nicht: Kontaktabbruch. Die Stille ist nicht gegen mich gewandt, sondern es ist sogar ein Gönnen der Ruhe und der Entspannung im alltäglichen Gestalten unserer Liebe. Und irgendwann sagt mein Mann in diesen Ehe-Moment der Ruhe meine Lieblingsworte: „Du, ich hab’ mir was überlegt!“ Ich liebe diese Worte, weil so mein Zutrauen in ihn für mich hörbar wird: Auch wenn er manchmal wenig spricht, trägt er sehr wohl Verantwortung für uns und unsere Kinder, und er bringt zum Ausdruck, wie sehr er seine Kirche liebt und unsere Freunde schätzt. Oft kommen dann erstaunliche Ideen zum Vorschein, wie eine neue Terrasse zum morgendlichen Kaffeetrinken und Beten, ein Kurzurlaub mit Freunden oder eine Unterstützung für eines unserer Kinder. Und wo ich mich gerade schreibend so freue: Ich müsste ihm dringend mal sagen, wie gern ich mit ihm schweige.

Stefanie Diekmann ist Gemeindereferentin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.

„Ja, weißt du das denn nicht?“

Christian Rommert merkt, dass man nie genug miteinander reden kann..

„Nein!“, „Doch!“, „Ohhh!“ Seit zwanzig Minuten diskutieren wir nun schon und kommen keinen Schritt weiter! Ich versuche zu rechtfertigen, warum ich das dritte Wochenende in Folge unterwegs bin. Katrin hält hartnäckig dagegen. Ich fühle mich verletzt, weil ich mit dem an den Wochenenden verdienten Geld doch das Auto, das Haus und den Urlaub bezahle. Katrin sitzt auf der Palme, und ich spüre: Gleich eskaliert es. Da- mit meine ich nicht, gleich fliegt Geschirr. Das passiert nie, wenn wir uns streiten. Die höchste Eskalationsstufe ist bei uns: das Schweigen.

DEN INNEREN KOSMOS MITTEILEN

Gleich ist es sicher wieder soweit. Mich macht das total fertig. Schweigen bedeutet für mich die Höchststrafe. Und Katrin beherrscht das Schweigen perfekt. Aber auch ich kann das gut! Ich bin darin mindestens genauso geübt wie sie. „Nein!“, „Doch!“, „Ohhh!“ Ich will gerade Arme verschränken und beleidigt schauen, da höre ich, wie Katrin mich fragt: „Was macht dir denn solchen Druck?“ Als Reaktion schaue ich sie blöde an. „Ja, weiß sie das denn nicht?“, frage ich mich. „Weißt du, du bist mein bester Freund! Ich brauche dich zum Reden!“, sagt sie. Ich schlucke meinen ersten Impuls herunter und vermeide eine Aufzählung der Gespräche und Spaziergänge, bei denen wir meiner Meinung nach doch ausreichend Zeit zu zweit hatten. Ein Artikel aus einer Zeitschrift kommt mir in Erinnerung. Dort stand: „Deine innere Welt ist für deine Partnerin unsichtbar. Du musst sie ihr mitteilen. Du musst ihr deinen inneren Kosmos mitteilen, damit er verstanden werden kann.“ Reden, sich verständlich machen, damit ich verstanden werden kann und zuhören, hinhören, nachfragen, damit ich verstehe … Das ist so schwierig. Schweigen ist definitiv einfacher!

DAS RICHTIGE MASS

Doch ich starte einen Versuch und erzähle ihr von der Herausforderung, als Selbstständiger und Freiberufler nie genau zu wissen, wieviel genug ist. Soll ich das Wochenende verkaufen und damit den wichtigen finanziellen Puffer für den Sommer aufbauen oder nicht? Ich verkaufe Lebenszeit für Geld. Das ist die Spannung, in der ich mich ständig befinde. Denn beides – Zeit und Geld – sind wertvolle Güter. Und es sind widerstrebende Interessen. Dinge, die miteinander konkurrieren. Das richtige Maß zu finden, fällt mir einfach schwer. Im Verlauf des Gespräches zeige ich Katrin meine Jahresplanung. Wir bauen uns ein paar Inseln der gemeinsamen Zeit, und einen Termin sage ich dafür ab. Dabei geht es noch ein paar Mal hin und her. Aber es scheint, als seien wir wieder auf einer heilsamen Spur. „Und bei dir so?“, frage ich Katrin und merke auch in ihrem Blick eine Irritation. Auf ihrer Stirn meine ich lesen zu können: „Ja, weißt du das denn nicht?“ Also sage ich: „Ich habe eine Fantasie, was es bei dir ist, aber ich weiß nicht, ob ich damit richtig liege. Ich will dich wirklich verstehen! Erzählst du mir, was dich beschäftigt?“

WIE HUSTENLÖSER

Im weiteren Verlauf unseres Gespräches bestätigt sich: Meine Bilder, von dem, was in meiner Frau vorgeht, sind meine Fantasien. Wie es wirklich aussieht, erfahre ich nur über Gespräch. Mein innerer Kosmos bleibt für Katrin ein Geheimnis, so lange ich ihn nicht zeige. Ihre innere Welt bleibt ein Geheimnis, wenn ich mich nicht darum bemühe, sie wirklich zu begreifen. Das klingt so banal und ist doch eine Erkenntnis, die für unsere aktuelle Situation wie Hustenlöser wirkt. Schließlich fragt Katrin mich: „Wie wäre es, wenn ich mir an dem Montag nach diesem Wochenende freinehme und wir etwas gemeinsam unternehmen?“ Als sie merkt, wie ich zögere, sagt sie verschmitzt. „Nein? Oder: Doch?“ Und ich antworte fröhlich: „Ohhhhh JAAA.“

Christian Rommert ist Autor, Redner und Berater und Fan des VfL Bochum. Er ist verheiratet mit Katrin und Vater von drei erwachsenen Kindern. Regelmäßig spricht er das Wort zum Sonntag in der ARD.