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Plötzlich gelähmt: Wenn der Sohn im eigenen Körper gefangen ist

Am 7. Juni 2015 verändert sich das Leben von Jutta Schmidt schlagartig. Ihr Sohn Max erleidet eine Hirnblutung. Die Ärzte geben ihn auf. Doch dann geschieht das Wunder.

Jutta Schmidt sitzt am Tisch eines Cafés. Ihre Ellenbogen hat sie auf den Tisch gestützt, ihre Hände umfassen ein Wasserglas. Sie schaut nach vorn. Ihre grünen Augen wirken müde, aber fokussiert. Cafébesuche wie dieser haben in ihrem durchgetakteten Alltag normalerweise keinen Platz. Gerade hat sie ihren Sohn Max zum Physiotherapeuten gebracht. In einer Stunde muss sie ihn abholen und zu den nächsten Therapiestunden fahren, Ergotherapie und Logopädie. Zwischendrin muss sie ihre anderen beiden Kinder versorgen, die von der Schule kommen. Für sie ein ganz normaler Tag – sofern man von normal sprechen kann. „Das Familienleben ist nicht mehr das, was es vorher war. In keinem Punkt.“, sagt sie, und ihr Blick verliert sich.

Vier Jahre sind inzwischen vergangen, seit die alleinerziehende Mutter ihre drei Kinder ins Auto gepackt hat und mit ihnen nach Holland gefahren ist. Eis essen, im Meer baden, am Strand liegen – es ist ein ganz normaler Familienurlaub, bis Max, ihr ältester Sohn, Kopfschmerzen bekommt, die immer heftiger werden. Als sein Zustand sich verschlechtert, fährt sie ihn ins nächstgelegene Krankenhaus. Die zwei jüngeren Geschwister Ben und Nora bleiben bei Freunden. „Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt.“ Nach einem CT ist klar: Es gibt eine Blutung in Max‘ Gehirn. Sofort wird er ins Klinikum nach Brügge verlegt. Dort können die Ärzte wenig für ihn tun. Eine OP ist zu riskant, die Ursache für die Blutung unklar. Als er anfängt zu krampfen, wird er in ein künstliches Koma gelegt. Jutta Schmidt sitzt hilflos an seinem Bett. Alles, was sie hört, sind das Piepen der Überwachungsmonitore und die Geräusche der Beatmungsmaschine, die ihren Sohn am Leben erhält.

„In dem Moment waren der Schmerz und die Angst, mein Kind zu verlieren, so groß. Er war doch gerade noch gesund und plötzlich lag er da und ich konnte einfach nichts machen“, sagt sie. Immer noch liegt Fassungslosigkeit in ihrer Stimme. Das Einzige, was Jutta Schmidt damals tun konnte, war, zu hoffen, dass die Blutung aufhört und keine weitere Nachblutung auftritt. Die Ärzte machen ihr jedoch wenig Hoffnung und legen ihr und ihrer Familie nahe, sich von Max zu verabschieden. Nacheinander treten sie an sein Bett, um Lebewohl zu sagen. „Das ist das Schlimmste, was man sich als Mutter vorstellen kann.“

WIE EINGESCHLOSSEN

Wie ein Wunder überlebt Max und erwacht wenige Wochen später aus dem Koma, ist aber fortan in seinem Körper gefangen. Als „Locked-in-Syndrom“ bezeichnen die Mediziner seinen Zustand. Max ist zwar bei vollem Bewusstsein, jedoch körperlich vollständig gelähmt und unfähig, sich durch Sprache oder Bewegungen verständlich zu machen – wie „eingeschlossen“.

„Das war schlimm. Max war ein richtiges Draußen-Kind, schon immer. Er hat nie Computer gespielt und wenig Fernsehen geguckt. Klettern, springen, laufen, das war seins.“ Nun muss Max gehoben, gewaschen, gefüttert und gefahren werden. Ihn so hilflos zu sehen, macht sie unendlich traurig.

Max am Strand in Holland, kurz bevor er die Hirnblutung erleidet. Foto: Privat

Max muss in die Reha. „Für mich war klar, dass ich ihn nicht allein da hinlasse. Er ist doch mein geliebtes Kind!“ Jutta Schmidt muss Anträge stellen, Formulare ausfüllen, Ben und Nora umschulen, eine Unterkunft suchen. „Ich habe so oft gedacht: Ich schaffe das nicht. Ich kam mir so vor, als stünde ich in einem Nebelschleier.“ In diesem Nebel tauchen immer wieder Menschen auf, die ihr helfen: Ihr Bruder, der sofort nach der Hirnblutung nach Brügge reist, um das Fachenglisch der Ärzte zu übersetzen, ihr Ex-Mann und Max‘ Vater, der ihr zur Seite steht, sie am Bett ablöst und mit Max im Rollstuhl spazieren fährt, einfühlsame Pfleger und Therapeuten, kompetente Sozialarbeiter, Menschen, die sich um ihre anderen Kinder kümmern. Viele Freunde mobilisieren sich in den kommenden Monaten und setzen sich für die Familie ein. „Während Max‘ Reha in Gailingen haben zwei Freundinnen von mir ihren Urlaub storniert und sind stattdessen zu uns nach Baden-Württemberg gekommen. Sie haben mit meinen beiden jüngeren Kindern Ausflüge gemacht, sodass ich mich voll und ganz auf Max konzentrieren konnte“, erinnert sie sich. Auch heute sei sie dafür noch unendlich dankbar.

Entgegen allen ärztlichen Erwartungen und dank intensiver Therapien kämpft sich Max allmählich ins Leben zurück. Heute ist er 18 Jahre alt. Er ist wieder zu Hause, kann sich im Elektrorollstuhl fortbewegen und dank intensiver Logotherapien auch wieder einigermaßen verständigen. Dennoch braucht er rund um die Uhr Betreuung und Pflege – er hat Pflegegrad vier. „Er wird von mir geduscht, angezogen, an den Frühstückstisch gefahren. Ich reiche ihm das Essen und Trinken, mache ihn für die Schule fertig. Ich fahre ihn zu 14 Therapien in der Woche, hole ihn wieder ab, schlage seine Schulbücher auf, schreibe seine Vokabeln groß, sodass er sie sehen kann. Gehe mit ihm zur Toilette. Nachts muss seine Urinflasche geleert werden.“ Jutta Schmidt zählt all die Aufgaben, die jetzt zu ihrem Alltag als Mutter gehören, an ihren Fingern ab. „Seit dem Tag, an dem die Blutung kam, funktioniere und renne ich nur noch und komme mir manchmal vor wie in einem stürmischen Meer: Die Wellen schlagen über mir zusammen.“ Sie nimmt einen Schluck Wasser. Viel Zeit zum Verschnaufen bleibt da nicht.

GESCHWISTERKINDER MÜSSEN ZURÜCKSTECKEN

„Es dreht sich zu 98 Prozent um Max. Und damit meine ich gar nicht unbedingt die Aufmerksamkeit, sondern die Zeit, die ich investiere“, erklärt sie. „Nora und Ben mussten total schnell selbstständig werden und sind beide ihrem Alter weit voraus. Für andere klingt das vielleicht positiv, aber mich macht das oft traurig.“ Sie schluckt. „Mein Herz wird schwer, wenn ich mich frage, wo die Jahre hin sind. Ich war nie mit ihnen im Schwimmbad oder im Kino, konnte nie das mit ihnen unternehmen, was Kinder in ihrem Alter mal mit ihrer Mutter unternehmen möchten.“ Tränen schießen ihr in die Augen. Wenn sie ihre Tochter, die inzwischen 15 Jahre alt ist, fragt, wie sie die letzten Jahre geschafft haben, antworte sie immer: „Mama, wir mussten ja.“ Erst vor kurzem hat sie in der Schule ihre mündliche Realschulprüfung über das Thema „Schattenkinder“ abgelegt – Kinder, die weniger Aufmerksamkeit bekommen, als ihnen zusteht, weil ein Geschwisterkind krank oder behindert ist. Das Beschaffen und Lesen der Literatur habe Mutter und Tochter dabei geholfen, das Geschehene Revue passieren zu lassen und miteinander über die Familiensituation ins Gespräch zu kommen.

Und Max? „Max sagt immer: Glaubt an mich, schreibt mich nicht als behindert ab. Ich möchte laufen lernen, ich möchte gesund werden.“ Daran glaube sie und darum bete sie auch immer wieder. Trotzdem gebe es auch immer wieder ganz schwere Momente. Seine alten Schulfreunde machen jetzt ihren Führerschein, haben Freundinnen, machen ein Auslandsjahr oder Abitur. Das kriegt er natürlich mit und es macht ihn traurig, dass er nicht mehr dazu gehört. Er selbst wird jeden Morgen von einem Krankentransporter abgeholt, weil er nicht mal mehr einen Fuß vor die Tür setzen kann. Schon häufig sei er am Morgen deshalb in Tränen ausgebrochen. Es gebe aber auch viele Momente der Hoffnung und Freude. „Max war immer schon witzig, ironisch und schlagfertig. Er hatte immer schon diese Power, ihm war nie eine Hürde zu groß. Da hat er sich nicht verändert.“ Selbst die Ärzte und Therapeuten seien erstaunt gewesen, als sie gesehen haben, wie er in der Reha seine Therapien durchgezogen hat. „Er hat immer noch den Witz und Humor von damals. Das sind Dinge, die ich sehr an ihm bewundere. ‚Ich schaff das‘, sagt er immer. Da ziehe ich echt den Hut, er hat so eine Energie.“

WÜTEND AUF GOTT

Gerade hat er seinen Realschulabschluss absolviert und ganz nebenbei ein Buch über seine Erfahrung mit dem Locked-in-Syndrom geschrieben, das nun unter dem Titel „Tsunami im Kopf“ erschienen ist und innerhalb kürzester Zeit bereits viele Leser berührt hat. 18 Kapitel hat er dafür mühsam oftmals bis tief in die Nacht in sein Handy eingetippt, weil neben Unterricht, Therapien und Hausaufgaben tagsüber keine Zeit dafür war. Er hat jeden Buchstaben großgezogen, damit er sie trotz Sehschwäche besser sehen konnte. „Ich habe davon keinen einzigen Satz gelesen, bis es fertig war und er mich bat, nach Fehlern zu suchen“, staunt Jutta Schmidt. Es ist ein bewegender Bericht über seinen Kampf zurück ins Leben. Immer wieder berichtet er darin auch von seiner Mutter: „Ich habe wahre Liebe vor allem durch meine Mutter erfahren, die nicht eine Sekunde von meinem Krankenbett wich (…). Irgendwie bin ich überzeugt davon, dass ihre Liebe und Gebete in diesem Zimmer spürbar gegenwärtig waren und die Atmosphäre verändert haben“, schreibt er. Dabei habe sie sich selbst oft überhaupt nicht stark gefühlt, erklärt Jutta Schmidt. „Ich habe Gott so oft angefleht und um Hilfe gerufen. Oder ich war einfach nur wütend auf ihn und hab ihm geklagt: Du hast gesagt, du lädst nur so viel auf, wie wir ertragen können, aber eigentlich kann ich nicht mehr.“

„ALS WÜRDE JESUS NEBEN MIR SITZEN“

Trotzdem ist sie sich sicher: „Ohne meinen Glauben an Jesus hätte ich das nicht überstanden. Er ist mein Anker, mein Rettungsschirm, mein Halt, mein Trost, mein Alles.“ Oft habe sie in der Zeit die Bibel aufgeschlagen und genau das gelesen, was sie brauchte. „In der akuten Phase brauchte ich gar nicht unbedingt Freunde zum Reden“, erzählt sie. „ Es war mir alles viel zu anstrengend. Ich hätte mich da nicht so mitteilen können. Ich wollte einfach nur bei Max sein. Mein Gespräch war mit Jesus. Er kennt mich, er kennt meine Situation. Ich muss nichts erklären, ich muss nicht beschreiben, wie ich mich fühle. Er weiß um uns. Es war für mich, als würde er neben mir sitzen, und das reichte mir. Auch heute noch.“

Ihre Angst ist immer noch groß. Die Angst, dass eine Nachblutung kommt, die Angst, wie sie es als Alleinerziehende in der Zukunft schaffen soll. Bevor Max die Hirnblutung bekam, war sie bereits fünf Jahre mit den Kindern allein, „der Mann im Haus“, wie sie sagt. Doch die neue Situation stellt sie vor ganz neue Herausforderungen. „Angst gehört zu meinem Leben dazu. Es gibt Christen, die sagen: Wenn man an Gott glaubt, dann kennt man keine Angst. Aber sie vergessen, dass Jesus auch Angst hatte. Wir sind nicht frei von Angst und Leid, aber Jesus geht mit uns hindurch. Und das macht mich wiederum stark“, betont sie. Auf dem Transporter, der Max jeden Morgen zur Schule abholt, steht auf dem Nummernschild neben dem Ortskürzel „MH“. „Wenn Max nach so einem traurigen Moment seinen Mut wiederfindet und mit seinem Elektrorollstuhl in dieses Auto fährt, sehe ich ihm immer hinterher. Und da steht MH für mich jedes Mal für ‚Mein Heiland‘. Dann gehe ich erst mal rein, heule eine Runde, lese in der Bibel, bete und lege Gott meinen Schmerz hin. Und dann geht‘s weiter.“

Ruth Korte ist freie Schriftstellerin und lebt mit ihrer kleinen Familie in Gießen.

Liebe lässt sich nicht erzwingen

Wenn die 16-jährige Tochter das Elternhaus verlässt, reißt sie ein tiefes Loch …

Wir haben vor knapp zwei Jahren von heute auf morgen den Kontakt zu unserer ältesten Tochter verloren. Sie hatte aus verschiedenen Gründen immer mehr Zeit außerhalb unserer Familie verbracht. Bedingt durch mehrere schwere gesundheitliche Ereignisse in unserer Familie hatten wir nicht genug registriert, dass sie sich auch emotional von uns distanziert hatte. Die Auslöser waren sehr unterschiedliche Auffassungen zu Themen wie Freiheit, Sexualität und Glaube. Ohne dass wir es geahnt haben, hat unsere Tochter sich entschieden, auszuziehen und den Kontakt zu beenden.

In den ersten Wochen standen wir völlig unter Schock. Ich konnte kaum schlafen. Ich habe alles hinterfragt, ständig lief das Kopfkino auf und ab. Ich habe versucht, für die anderen Kinder zu funktionieren. Abends saß ich oft im Zimmer unserer Tochter und habe laut geweint. Ich schrie zu Gott, dass ich diesen Schmerz, diese Ohnmacht, diese Sehnsucht und dieses Ausgeliefertsein nicht aushalte. Es waren Stunden der Verzweiflung, der Wut, des Zerbruchs. Und dazwischen immer wieder die Bilder aus glücklichen Zeiten, die im ganzen Haus an den Wänden hängen …

ZERREISSPROBE
Ich kann Gott nur von Herzen danken, dass er mir seine Engel in Form von anderen Christen geschickt hat. Sie hatten offene Ohren zum Zuhören und beteten für uns. Und es waren oft nicht die Worte, sondern das Händedrücken oder die Umarmungen, die uns großen Trost gespendet haben.

Wir haben natürlich versucht, unsere Tochter zurückzugewinnen. Ein großes Problem war, dass mein Mann und ich sehr unterschiedliche Sichtweisen hatten. Ich bin eher der geradlinige Sturkopf, er der kompromissbereite Grenzenöffner. Was sich bisher ergänzt hatte, wurde nun zur Zerreißprobe. In diesem Punkt mussten wir viel lernen, hatten Kämpfe und Tiefschläge zu tragen und wissen heute, dass wir auch die kleinsten Entscheidungen nur gemeinsam treffen.

Ein großes Gefühl war auch die Hilflosigkeit, nichts tun zu können. Ich bin der Typ von Frau, die immer alles im Griff zu haben scheint. Hier war es an der Zeit einzugestehen, dass nichts mehr läuft und ich nur Gott alles vor die Füße werfen kann. Trotz unseres Kampfes bleibt am Ende nur eine Einsicht: Liebe, Dankbarkeit und Zugehörigkeit lassen sich nicht erzwingen. Trotz ihres minderjährigen Alters und obwohl wir nicht wissen und wussten, welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, blieb als einzig vernünftige Wahl, unsere Tochter loszulassen.

Wir haben sie losgelassen im Wissen, dass sie in Gottes Hand ist, und das ist unser gewaltiger Trost. Er lässt ihre Hand niemals los. Und er kann sie tausendmal besser führen, als wir es je hätten tun können. Dadurch wuchs unsere Zuversicht. Und wir konzentrierten uns auf die Aufgaben, die Gott für uns bereithielt. Wir haben dem Groll keinen Raum in unsere Herzen gegeben, auch wenn die Traurigkeit ein Teil unseres Lebens geworden ist. Aber die Gewissheit, dass Jesus größer ist und alles zum Guten wendet, hat uns eine tiefe innere Ruhe gegeben.

WEIHNACHTSWUNDER
Ende letzten Jahres hat sich Erstaunliches getan. Nach anderthalb Jahren stand unsere Tochter kurz vor Weihnachten überraschend vor unserer Tür. Unbeschreiblich schön und zugleich fern und befremdlich. Balsam fürs Mutterherz, das sich sofort ganz weit macht, obwohl man die Gefahr der Verletzlichkeit nur zu gut kennt. Mittlerweile reagiert sie auch auf Whats-App-Nachrichten und nimmt Einladungen an. Es gäbe viel aufzuarbeiten, und wir befinden uns auf einer vorsichtigen Reise in die gemeinsame Zukunft. Wir sind gespannt, wie Jesus uns führt und klammern uns an seine Hand.

Die Autorin möchte anonym bleiben.

Schimmer im Scherbenhaufen

Eine Mutter stirbt bei der Geburt. Solche Schicksale hinterlassen oft große Fragezeichen – auch im Umfeld der Betroffenen. Stefanie Diekmann erzählt vom Zerbrechen, Verarbeiten und einer neuen Hoffnung.

Zu meiner Arbeit als Pädagogin gehört auch die Gestaltung einer Eltern-Kind-Oase in unserer Gemeinde. Es ist ein wilder, fröhlicher Haufen von Kindern zwischen null und sechs Jahren, ihren Geschwistern und Eltern. Diese Nachmittage sind Zeiten, in denen die Eltern mit unserer Fürsorge und einem guten Kaffee verwöhnt werden, während die Kinder beim Toben, Singen und Basteln auf ihre Kosten kommen. In der letzten Zeit haben wir als Oase immer wieder Kinder und ihre Mütter in die nächste Lebensphase verabschiedet. Besonders aber haben wir neue Schwangerschaften gefeiert und mit den Eltern mitgefiebert. Ein Geburtstermin nach dem anderen stand an. Inzwischen schleppten sich nur noch zwei Mütter in die Oase. Eine davon war Anett*. An einem Nachmittag wirkte sie angeschlagen und ich überredete sie, mit mir an den Büchertisch der Gemeinde zu gehen. Zu Beginn ihrer Zeit in der Oase hatte Anett nicht viel mit dem „Religiösen“ anfangen können. Für ihren Sohn Tom hatte sie nach Abendgebeten gefragt, da ihr hierfür die Worte fehlten. Nun, zwei Jahre später, stöberte sie durch das Angebot des Büchertisches: „So wie ihr kann ich es nicht. So viele Worte um meinen Glauben finden. Das ist mehr etwas für mich persönlich.“ Mit dem Bauch voller Hoffnungen stand sie vor mir. Ich verabschiedete sie an diesem Tag mit einem Gebet.

VOM SCHICKSAL ÜBERRANNT
Dann hörten mein Team und ich nichts mehr von Anett. Gar nichts. Ich konnte die aufkeimenden Sorgen nicht wegscheuchen und wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich versuchte, mich selbst zu ermutigen: Wie gut, dass sie als Heilerzieherin ein Profi ist! Sie wird sicher klarkommen. Doch meine Sorgen wollten sich nicht vertreiben lassen. Ist etwas mit dem Baby? Dann bekam ich einen Anruf von Anetts Mann: „Hallo … Ist da die Steffi von der Spiel-Oase? Ich wollte Bescheid sagen, dass Ida geboren ist.“ Wie aus der Pistole geschossen fragte ich: „Und … ihr habt Sorgen?“ „Ja. Ich muss dir sagen … Anett ist gestorben.“ Vor meinem inneren Auge erschien in diesem Moment ein schreiend großes „SIEHST DU!“ Mein Bauchgefühl hatte mich nicht betrogen. Es stimmte etwas nicht. Alles stimmte nicht. Obwohl mein Kreislauf wegzusacken drohte, schaffte ich es, dem Vater zuzuhören. Er beschrieb mir, dass Anett zu viel Blut verloren hatte und operiert werden musste. Nach einem Herzstillstand konnte sie nicht wiederbelebt werden. Trotzdem schaffte es der Vater, von seiner kleinen Ida zu schwärmen und begeisterte mich mit.

GEMEINSAM DEM SCHMERZ BEGEGNEN
In den nächsten Wochen rangen alle Mütter aus der Spiel- Oase darum, einen Weg des Trauerns zu finden. Nach der ersten Welle voller Fragen kamen wir in der bitteren Realität an. Einer Realität ohne Anett. Wenn der klassische Lebensverlauf unterbrochen wird und vor unseren Augen das Bild einer heilen Welt zerfällt, löst das in uns Schmerz und Trauer aus. Wir Mütter reagierten in dieser Situation sehr verschieden: Einige bezogen Anetts Schicksal auf das eigene Leben und wollten auf keinen Fall noch einmal schwanger werden. Andere suchten die Schuld beim Arzt. Die Mütter mit den Neugeborenen konnten es kaum aushalten, ihren Säugling zu wiegen und zu stillen, ohne an Ida zu denken und Anett zu vermissen. Wir versuchten gemeinsam, für die großen Geschwisterkinder der Gruppe, die zwischen fünf und elf Jahre alt sind, Worte zu finden. In einer der Familien war der Family- Kalender eine Hilfe. Im Monat Dezember ist dort ein Zitat von Friedrich von Bodelschwingh zu finden: „Advent und Weihnachten ist wie ein Schlüsselloch, durch das auf unsren dunklen Erdenweg ein Schein aus der Heimat fällt.“ Dieses Bild half dabei, der kleinen Frida zu erklären, dass Anett Heimat gefunden hat. Das Mädchen konnte das Bild gut aufnehmen, stellte viele Fragen und konnte trotz aller Trauer verstehen, dass es gut ist, bei Jesus zu sein. Ein anderes Mädchen wollte gerne mit zur Trauerfeier, um Anett zu verabschieden.

WO IST GOTT?
Und Gott? Wie gestaltet sich Nähe zu Gott in diesem Scherbenhaufen? Am Tag ihres Sterbens hatten wir unsere Oasen- Gruppenstunde gehabt, und ich hatte einen Impuls vorbereitet. Dabei ging es um das perfekte Bild, das wir so oft vom Leben haben. So rund und makellos wie eine schöne Glaskugel. Unsere Hoffnungen sind dann vielleicht: Mein Mann könnte und sollte … Ich wünsche mir von meinen Kindern mehr dies und das … Wenn es Sommer wird, dann renovieren wir erst hier, dann dort … Doch manchmal wird aus dem rundherum Perfekten ein Scherbenhaufen. Vorstellungen zerplatzen und ich erkenne, dass mein Mann als Vater doch nicht so entspannt ist, wie ich dachte. Mein Kind braucht vielleicht mehr Nähe, als ich geben kann. Oder mein Gehalt reicht nur zu einem Topf Farbe. Gott ist dabei kein Spaßverderber. Er will uns nicht innerlich zerbröseln. Er kann aus den Scherben meiner Vorstellungen Glimmer machen, indem er die Scherben so fein zerreibt, dass sie dem Leben einen neuen glitzernden Schimmer geben. Diese Gedanken gelten auch im Abschiednehmen von dieser fröhlichen jungen Frau: Gott bleibt gleich, auch wenn der Schmerz groß ist. Die Mütter in unserer Oase formulierten ihren Schmerz und kamen sich auf diese Weise näher. Sie forderten sich in einer WhatsApp-Gruppe gegenseitig auf zu beten, sich bewusst über den Tag zu freuen und den Glimmer Gottes wahrzunehmen. Wir alle sind gewiss und sehr neugierig darauf, wie dieser Segensglitter im Leben von Tom und Ida deutlich wird. Noch fällt es schwer, sich das auszumalen. Doch Gottes Geheimnisse sind sehr oft unvorstellbar für uns.

*Alle Namen wurden geändert.

family_16_6_ds-pdf-adobe-acrobat-pro-dcStefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

Schrecklicher Abend in Paris und bei uns …

Es sollte ein gemütlicher Abend werden, mit Chips und Fußball im Fernsehen. Mein Sohn freute sich, dass das Länderspiel am Wochenende stattfindet und er es gucken darf. Doch schon während des Fußballspiels gestern wurde deutlich, dass dies kein gemütlicher Fußballabend wird.

Nach dem Spiel konnten die Kinder nicht, wie eigentlich geplant, ins Bett gehen. So wie wir wollten und mussten sie wissen, was in Paris passiert ist. Die Nachrichten wurden immer schlimmer. Irgendwann haben wir einen Schlusspunkt gesetzt und sie ins Bett gebracht.

Es hat mich bewegt, wie verstört die Kinder waren, obwohl sie die Ereignisse in Paris „nur“ indirekt durch die Bilder vom Stadion in Paris mitbekommen haben. Und ich habe gedacht: Wie muss es einem Kind gehen, dass dies und Ähnliches „live“ miterlebt – in Paris, aber auch in Syrien, in Nigeria, in Afghanistan?

Wie gehen wir damit um, wenn solche schrecklichen Ereignisse passieren? Wie vermitteln wir sie unseren Kindern? Ich habe mich an einige Ratschläge erinnert, die ich in verschiedenen Artikel gelesen habe:

  • Kinderfragen nicht abwiegeln: Wir müssen die Ängste und Fragen unserer Kinder ernst nehmen. Auch wenn wir nicht alle Antworten haben, selbst verunsichert sind, sollten wir versuchen, wahrheitsgemäß zu antworten. Wir sollten nichts beschönigen, allerdings sollte man – vor allem bei jüngeren Kindern – auch nicht die Tragweite der Ereignisse ausbreiten. Und man sollte nur die Fragen beantworten, die die Kinder auch stellen.
  • Hintergründe erklären: Ab dem Grundschulalter ist es für Kinder wichtig zu verstehen, warum etwas passiert. Soweit uns das möglich ist, sollten wir die Hintergründe der Ereignisse erklären.
  • Zuhören: Kinder müssen die Möglichkeit haben, ihre Gefühle und Gedanken zu formulieren. Deshalb sollten wir ihnen dazu die Möglichkeit geben und ihnen zuhören.
  • Nähe zeigen: Ereignisse wie die in Paris lösen Angst aus. Nähe und Zuwendung kann helfen, mit dieser Angst umzugehen. Auch wenn wir den Kindern nicht versprechen können, dass ihnen niemals etwas Schlimmes passiert, können wir ihnen durch unser Da-Sein Sicherheit geben.
  • Eigene Gefühle zeigen: Auch wir Erwachsenen sind erschüttert von dem, was passiert ist. Das müssen wir vor den Kindern nicht verbergen. Auch wir können Angst oder Trauer ausdrücken.
  • Medienkonsum kontrollieren: Wir sollten unsere Kinder mit den Bildern von Anschlägen oder Katastrophen nicht allein lassen. Auch die größeren nicht. Schauen Sie zusammen Nachrichten, aber lassen Sie den Fernseher nicht nebenbei oder im Dauerbetrieb laufen!
  • Alltag gestalten: Was passiert ist, ist schlimm. Aber es hilft niemandem, wenn die Kinder nun auf ihr Fußballspiel oder ihre Verabredung verzichten. Auch wenn es Ihnen komisch vorkommt, lassen Sie den geplanten Ausflug nicht ausfallen. Kindern hilft es, wenn ihr Alltag (halbwegs) normal weiterläuft.
  • Und der liebe Gott? Auch Kinder fragen sich möglicherweise, warum Gott das zugelassen, warum er es nicht verhindert hat. Auch hier ist unsere Ehrlichkeit gefragt, wenn wir die Frage selbst für uns nicht beantworten können. Das ist besser als irgendeine fromme Phrase. Wir können unser eigenes Unverständnis zugeben, aber auch das Vertrauen in Gott ausdrücken.
  • Beten: Im Gebet können wir unsere Fragen und Gefühle Gott gegenüber formulieren. Eine gute Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten und Dinge abzugeben.

Bettina Wendland

Family-Redakteurin

Die Schuldfrage

In Bochum ist am Freitag ein Junge von einer Straßenbahn erfasst worden und gestorben. Er war zehn Jahre alt – ein schrecklicher Unfall. Die Betroffenheit in der Stadt und in den sozialen Netzwerken ist groß. Was ich aber unglaublich finde: Viele meinen, nun die Schuldfrage diskutieren zu müssen. Ist der Junge über eine rote Ampel gelaufen? Hat die Bahnfahrerin nicht aufgepasst? Haben die Eltern die Verkehrserziehung vernachlässigt?

Ich finde es schrecklich, wenn angesichts eines solchen Ereignisses immer sofort über Schuld gesprochen wird. Und vor allem wie. Manche Kommentare bei Facebook zerreißen mir das Herz. Und machen mich so wütend!

„Wer von euch schuldlos ist, der werfe den ersten Stein!“ – dieses Jesus-Zitat kommt mir in den Sinn. Wer von den Schuldzuweisern ist noch nie über Rot gegangen? Wer war beim Autofahren noch nie unkonzentriert? Welche Eltern haben keine Erziehungsfehler gemacht?

Natürlich muss bei Unfällen irgendwann auch mal die Schuldfrage geklärt werden. Aber das können wir getrost der Polizei und den Gerichten überlassen. Ich finde angesichts eines solchen Unglücks sollte man sich aller Urteile enthalten. Und dafür lieber innehalten, mitfühlen, mittrauern und für alle Betroffenen beten.

Bettina Wendland, Family-Redakteurin

„Überlebt ohne Papa“

Seit einem Jahr lebt Anne Noll getrennt von ihrem Mann allein mit ihren drei Kindern. Sie gibt Einblick in ein Jahr voll Trauer, Schmerz und neuer Herausforderungen.

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