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Achtsam durch den Alltag

Achtsamkeit ist ziemlich im Trend. Doch was genau ist damit gemeint? Und welche Chance beinhaltet sie für Familien? Von Melanie Schüer

Wer achtsam ist, konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt. Er schweift gedanklich nicht ständig ab in das, was gestern war, oder beschäftigt sich mit Sorgen um das, was morgen kommt. Er legt seinen Fokus ganz auf den gegenwärtigen Moment. Dieser wird sehr aufmerksam und intensiv, mit allen Sinnen wahrgenommen: Was sehe ich? Wie riecht es gerade? Wie fühlt sich mein Körper an? Was höre ich? Wie fließt mein Atem?
Diese verschiedenen Fragen werden nicht schnell „abgearbeitet“. Jeder Aspekt wird ruhig und langsam erkundet. Abschweifende Gedanken werden bewusst wahrgenommen, ohne sie zu bewerten – und wieder losgelassen, um sich erneut im Hier und Jetzt zu verankern.
In unserem hektischen Alltag ist uns diese Haltung häufig fremd. Bei der Menge an Aufgaben und Themen fühlen wir uns meist zu Multitasking gezwungen: Während wir putzen, denken wir darüber nach, wie wir das Seminar morgen gestalten. Während wir duschen, spüren wir weniger den angenehmen Wasserstrahl, sondern grübeln über das Gespräch mit dem Chef nach … Doch dieses ständige Multitasking fördert innere Unruhe und Stress – deshalb bergen Achtsamkeits- Übungen eine große Chance. Sie lassen sich einfach in den Alltag integrieren: Beim Zähneputzen bewusst den Kopf ausschalten und sich nur auf die Bewegungen der Zahnbürste konzentrieren. Beim Spazierengehen spüren, wie die Füße bei jedem einzelnen Schritt den Boden berühren.

ACHTSAMKEIT HILFT BEI WEHEN

Auch für Eltern ist Achtsamkeit ein wertvoller Ansatz – schon in der Schwangerschaft. Die Hebamme Nancy Bardacke hat mit ihrer Methode „Mindful Birthing“ das Konzept der Achtsamkeit auf Schwangerschaft und Geburt übertragen. Dabei geht es um die Fähigkeit, loszulassen und sich auf das, was geschieht, einzulassen – und daraus das Beste zu machen.
So dauert eine Wehe in der Regel 60 bis 90 Sekunden – das sind etwa sieben bis zehn Atemzüge. Wenn eine Wehe beginnt, kann die Frau sich bewusst machen: „Ich atme jetzt zehnmal ganz tief ein und aus, dann ist diese Wehe schon wieder geschafft“ als Gegenentwurf zu Gedanken wie: „Ich ertrage das nicht mehr!“ Eine gute Unterstützung ist es, Formulierungen wie „Loslassen“ oder „Zehn Atemzüge, dann ist es geschafft!“ auf Karteikarten zu schreiben und zur Geburt mitzunehmen.
Achtsamkeit bedeutet auch, nicht zu werten, und das, was ist, anzunehmen. Wenn uns etwas weh tut, neigen wir dazu, uns zu verspannen und gegen den Schmerz anzukämpfen. Dabei geht es viel besser, wenn wir tief in den Schmerz hineinatmen und ihn annehmen – als etwas, das jetzt eben sein muss, das aber vorübergeht.

DAS FAMILIENLEBEN ACHTSAM GESTALTEN

Der Ansatz von Nancy Bardacke bezieht auch die Zeit nach der Geburt mit ein, zum Beispiel wenn das Baby weint. Eltern können sich bewusst werden, welche Gefühle das Schreien in ihnen auslöst: Traurigkeit? Wut? Hilflosigkeit? Es gilt, diese Gefühle zuzulassen, ohne sie zu bewerten – sie einfach anzunehmen, zu fühlen und dann loszulassen und sich auf den eigenen Atem zu konzentrieren. Tief in den Bauch einatmen, als würde man ganz viel Frieden und Ruhe einatmen und lange wieder ausatmen, als würde man allen Stress und alle Anspannung hinausatmen. Bauchatmung reduziert die eigene Körperspannung. Das spürt auch das Baby und hilft ihm, sich sicherer zu fühlen.
Auch im Umgang mit älteren Kindern ist Achtsamkeit eine wertvolle Haltung. Sie beinhaltet, unsere Kinder so wertzuschätzen und anzunehmen, wie sie sind – und auch mit den eigenen Fehlern barmherzig umzugehen. Die Achtsamkeitslehrer Myla und Jon Kabat-Zinn erklären: „Wir sehen dies als einen Prozess, der nicht nur beinhaltet, dass wir unsere Kinder so annehmen, wie sie sind, sondern auch uns selbst –, dass wir nicht nur mitfühlend mit unseren Kindern umgehen, sondern auch mit uns selbst. Es ist sehr heilsam, wenn wir unsere Kinder und uns selbst nicht ständig beurteilen.“
Myla Kabat-Zinn versteht unter achtsamer Erziehung, „zu versuchen, die Dinge aus den Augen des Kindes zu sehen. Für mich ist damit ein Großteil dessen abgedeckt, was wirklich wichtig ist. Wenn Eltern anfangen, die konkrete Erfahrung ihres Kindes zu beachten, wenn sie versuchen, wirklich aus der Sicht des Kindes zu schauen, können sich die Dinge ändern.“ Das ist ein guter Rat – bewusst die Perspektive des Kindes einzunehmen, zu überlegen und zu erfragen: Wie erlebt er oder sie diese Situation?

AUFMERKSAM DURCH DEN TAG

Ganz konkret umfasst ein achtsamer Familienalltag auch das Einrichten von regelmäßigen Zeiten, in denen die Eltern sich ganz dem Kind zuwenden, ohne nebenher zu putzen, zu lesen oder aufs Handy zu schauen. Dazu gehört aufmerksames Zuhören und eine Form der Anerkennung, die eher ermutigt als lobt. Das bedeutet, dass man sein Kind nicht mit einem schnell dahergesagten Lob wie „Gut gemacht!“ abspeist, sondern dass man wirklich hinschaut und konkret sagt, warum man sich über etwas freut.
Eng verbunden mit Achtsamkeit ist eine dankbare Haltung: Die Überzeugung, dass nicht alles selbstverständlich ist, sondern dass der Alltag voller kleiner Wunder und Geschenke ist. Im Familienleben kann man Kindern wunderbar Achtsamkeit und Dankbarkeit vorleben, indem man selbst aufmerksam durch den Tag geht.
Auch die Beziehung zum Partner ist ein Bereich, der Achtsamkeit verdient: Wirklich hinhören, was meinen Partner beschäftigt und nicht gleich urteilen, sondern meinem Partner auch in Konflikten mit einem offenen Herzen begegnen. Den anderen nicht als selbstverständlich betrachten, neugierig aufeinander bleiben und regelmäßige Paarzeiten einplanen.

ALLES IM FLUSS

Achtsamkeit in der Familie kann auch helfen, schwere Zeiten besser zu bewältigen. Wer achtsam ist, fragt sich nicht ständig, wie das wohl weitergeht und wie lange man das noch aushalten kann. Stattdessen übt man, im Hier und Jetzt zu bleiben – mit dem Wissen, dass alles eine Phase ist, die vorbeigeht. Diese Herangehensweise ist auch in der Bibel zu finden:
„Alles hat seine Zeit, alles auf dieser Welt hat seine ihm gesetzte Frist:
Geboren werden hat seine Zeit wie auch das Sterben. Pflanzen hat seine Zeit wie auch das Ausreißen des Gepflanzten. Töten hat seine Zeit wie auch das Heilen. Niederreißen hat seine Zeit wie auch das Aufbauen. Weinen hat seine Zeit wie auch das Lachen. Klagen hat seine Zeit wie auch das Tanzen. Steine zerstreuen hat seine Zeit wie auch das Sammeln von Steinen. Umarmen hat seine Zeit wie auch das Loslassen. Suchen hat seine Zeit wie auch das Verlieren. Behalten hat seine Zeit wie auch das Wegwerfen. Zerreißen hat seine Zeit wie auch das Flicken. Schweigen hat seine Zeit wie auch das Reden. Lieben hat seine Zeit wie auch das Hassen. Krieg hat seine Zeit wie auch der Frieden.“ (Prediger 3,1-8)
Die Erkenntnis, dass alles seine Zeit hat, hilft, sich auf das, was gerade ist, einzulassen – ohne innerlich noch am Gestern zu hängen oder erwartungs- oder sorgenvoll in die Zukunft zu blicken. Heute ist der einzige Tag, den wir gestalten können. Gestern ist unwiderruflich vorbei – und wer weiß schon, was das Morgen bringt? Jesus selbst lebt uns diese Fokussierung auf die Gegenwart vor, wenn er sagt: „Sorgt euch nicht um morgen, denn jeder Tag bringt seine eigenen Belastungen. Die Sorgen von heute sind für heute genug.“ (Matthäus 6, 34).
John Kabat-Zinn formuliert es so: „Ich würde sagen, dass man sich vergegenwärtigen sollte, wie schnell diese ganze Sache vorbeigeht. Wenn man Vater oder Mutter wird, hat man das Gefühl, eine unendliche Geschichte vor sich zu haben, aber bevor man sich versieht, sind die Kinder aus dem Haus und stehen auf eigenen Beinen.“

Melanie SchüerMelanie Schüer ist Erziehungswissenschaftlerin und bietet Onlineberatung für Eltern von Babys und Kleinkindern sowie für Schwangere an: www.neuewege.me

„Wie geht’s weiter?“

„Unsere Tochter Caya hat die Prüfung nach der 10. Klasse nicht bestanden. Wie sollen wir damit umgehen?“

Das ist hart: Trotz aller Vorarbeit und Unterstützung hat Ihre Tochter diese wichtige Prüfung nicht bestanden. Ich kann mir vorstellen, dass sich ein Gefühl von Ohnmacht in Ihnen ausbreitet. Und dass Sie sich viele Fragen stellen: Wie konnte das passieren? Hat Caya nicht genug gelernt? Oder ist sie zu dumm? Was denken die Leute? Und Caya? Sie ist wahrscheinlich sehr verunsichert und fragt sich: „Was mache ich denn jetzt?“

GRENZERFAHRUNG
Eltern und Jugendliche verarbeiten so ein Scheitern unterschiedlich. Während Eltern oft die nächsten 20 bis 30 Jahre vor Augen haben, schmilzt im Kern des Jugendlichen der eigene Wert zusammen. Wieso schaffen es alle anderen? Bin ich unfähig? Oder sind doch die Lehrer schuld? In solchen Situationen sind Eltern oft am Limit. Weil sie ihr Kind lieben, wünschen sie ihm ein gelingendes Leben: einen guten Schulabschluss, eine qualifizierte Ausbildung, private und berufliche Erfolge … Je nach Beziehungstyp können Eltern auf Distanz gehen – „Dein Problem, Kind!“ – oder auch zu viel Verantwortung übernehmen und den Jugendlichen entmündigen – „Wie konnten wir nur durch die Prüfung fallen?“. Die Bibel bietet am Beispiel des verlorenen Sohnes nicht nur einen Hinweis, wie Gott als Vater reagiert, sondern auch, wie wohltuend es ist, zurückkommen zu dürfen. Scheitern zu dürfen. Neu anfangen zu dürfen.

FRAGEN UND ERMUTIGEN
Sie als Eltern stehen vor der Herausforderung, Ihre Tochter zunächst mal an ihren „Kern“, ihre Persönlichkeit zu erinnern. Verzichten Sie auf Vorwürfe und Anklagen. Es geht um eine tiefe Erfahrung von Annahme und Gnade. Ihre Tochter soll spüren, dass sie auch ohne Zertifikat geliebt wird. Weinen Sie zusammen mit Ihrer Tochter, aber lachen Sie auch zusammen. Ihre Rolle als Eltern ist es, Mitdenkende, Fragende und Ermutiger zu sein. Aus dieser an sich negativen Erfahrung kann Ihre Tochter etwas Wertvolles ziehen, wenn sie sich mit Fragen wie diesen auseinandersetzt: Was kann ich über mich in der Vorbereitung der Prüfung sagen? Was brauche ich jetzt? Neben dem Blick zurück ist der Blick in die Zukunft wegweisend: Welche Berufsperspektiven passen zu Caya? Wie kann sie Schritte auf dem Weg dahin gehen? Hier hilft eine fachliche Orientierung durch einen Berufsberater oder ein Gespräch an der Schule. Hilfreich ist es auch, wenn Sie für und – wenn Caya dazu bereit ist – auch mit Ihrer Tochter beten. Das macht Ihnen und Ihrer Tochter bewusst: Auch wenn wir nicht alles in der Hand haben – wir können uns und unsere Kinder in Gottes Hände legen.

Stefanie Diekmann ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Ingelheim am Rhein.

Die Qual der Wahl

Wie Eltern bei der Berufsfindung helfen können

Jahr für Jahr stehen Jugendliche vor der Frage, welchen Beruf sie ergreifen sollen. Eine schwierige Frage, denn nur ein Beruf, der den eigenen Fähigkeiten und Interessen entspricht, macht langfristig glücklich. Wesentlich bei der Berufswahl ist also, sich seiner Stärken und Schwächen bewusst zu sein. Falls nicht schon die Schule das Thema angestoßen hat, kann ein Gespräch mit den Eltern helfen.

Doch Vorsicht: Hier ist Neutralität gefragt. Eltern neigen dazu, sich um die Zukunft ihrer Kinder zu sorgen und empfehlen daher oft vermeintlich sichere, gut bezahlte Jobs. Mitunter spielen auch unerfüllte Träume eine Rolle oder unbewusste Eigeninteressen. Dem Jugendlichen müssen aber persönliche Wünsche erlaubt sein – und scheinen sie noch so illusorisch. Besser, als das Kind in eine ungewünschte Richtung zu drängen, ist es, aus seinen Äußerungen eine realistische Perspektive zu entwickeln.

Stärken entdecken

Neben der Eigencharakterisierung des Jugendlichen, die in der Regel aus Lieblingsfächern und Hobbys resultiert, kann es helfen, sich mit der Beurteilung anderer auseinanderzusetzen: Sporttrainer, Lehrer, Freunde oder Vereinsmitglieder. Am wichtigsten aber ist es, nach aussagekräftigen Situationen zu forschen: Wann geht das Kind wirklich auf in einer Sache? Wann kam es zu außergewöhnlichem Engagement? Vielleicht bei der Organisation eines Festes, der Aufführung eines Theaterstücks, beim Reparieren defekter Geräte, einem Marathonlauf? Je konkreter die Beispiele, desto besser.

Außerdem sollten Persönlichkeitsmerkmale berücksichtigt werden, die bei der Berufsfindung allzu oft im Hintergrund bleiben. Hält sich das Kind zum Beispiel lieber drinnen oder draußen auf, zieht es Ruhe oder Bewegung vor, arbeitet es  lieber allein oder mit anderen, kann es sich gut unterordnen, ist es freiheitsliebend oder folgsam, braucht es Herausforderungen? Ein quirliger Jugendlicher, der die meiste Zeit draußen in Bewegung ist, wird eventuell später Schwierigkeiten haben, zu festen Zeiten einem Angestelltenjob nachzugehen. Egal, wie gut seine Noten im kaufmännischen Rechnen sind.

Praxis statt Theorie

Ein Einblick in den Berufsalltag ist unersetzlich. Eltern sollten nicht nur detailliert alle Facetten ihres eigenen Jobs darlegen – Arbeitszeiten, Kleidung, Tagesablauf –, sondern auch ihre Kontakte spielen lassen. Freunde, Verwandte und Bekannte können aus ihrem Arbeitsleben berichten oder bei der Vermittlung eines Praktikums helfen. Auch der Apotheker oder Buchhändler, bei dem man Stammkunde ist, kann vielleicht interessante Einblicke gewähren. Wichtig ist, dem Jugendlichen ein umfassendes Bild zu verschaffen von Arbeitsinhalten und -bedingungen.

Dasselbe gilt für die Frage: Studium oder Lehre? Ein Geographiestudium unterscheidet sich sehr vom Erdkundeunterricht in der Schule und mancher Sprachenfreund wäre mit einer Dolmetscherausbildung besser bedient als mit einem Romanistikstudium. Sinnvoll ist, sich vorab genau über Inhalte und Ablauf eines Studiums zu informieren und auch einmal Vorlesungen live mitzuerleben und mit Studenten vor Ort zu sprechen. Was auch immer Sohn oder Tochter am Ende beschließen: Die Eltern sollten stets im Hinterkopf behalten, dass es das Kind ist, das letztlich mit seiner Entscheidung leben muss. Eltern können – und sollten – nichts weiter tun, als alle notwendigen Informationen zu beschaffen, die das Kind braucht, um eine wohl überlegte Entscheidung zu treffen.

Silke Mayer arbeitet im Bereich Weiterbildung und Training, daneben ist sie als freiberufliche Autorin tätig. Sie lebt mit ihrer Familie in Duisburg.

Illustration: Thees Carstens