11 bis 15 – Vom Lesemuffel zum Bücherwurm

Elternfrage: „Mein Kind liest nicht gern. Wie kann ich es motivieren, ohne es unter Druck zu setzen?“

Lesen ist ein komplexer Prozess. Ein Buchstabe muss in einen Laut und der Laut in einen Sinn umgewandelt werden. Das erfordert Anstrengungsbereitschaft und ohne Freude bleibt das Lesen ein notwendiges Übel im Schulalltag. Digitale Medien wie Chatnachrichten, Anweisungen in Apps und Teasertexte sind kein Ersatz für Printmedien, denn sie fördern kaum Wortschatz, Konzentration, Kreativität und Empathie.

Leseneugier wecken

Bücherwürmer sind von Neugier getrieben, daher: Finden Sie heraus, welche Themen Ihr Kind spannend findet. Sind es Sachthemen, Anime, Gaming oder Fantasywelten? Sind es aktuelle Themen wie Umweltschutz oder Menschenrechte?

Für all diese Themen gibt es wunderbare Bücher. Vor allem Graphic Novels wagen sich an schwierige Geschichten (Maus – Die Geschichte eines Überlebenden, Biografie von Sophie Scholl oder Künstlerporträts). Diese Bücher sehen wie Comics aus, haben aber komplexe Handlungen. Selbst das „Lustige Taschenbuch“ mit Donald Duck und Micky Maus ist wertvoll. Erika Fuchs war die deutsche Übersetzerin der LTBs. Ihr ist ein Museum in Nordbayern gewidmet. Vielleicht weckt ein Besuch die Leseneugier?

In den letzten Jahren wurden Kinofilme und Serien aus dem Marvel-Universum immer beliebter. Nutzen Sie Spiderman, Avengers und Co., um in diese Welt einzutauchen. Zu den Filmen gibt es Nachschlagewerke und Biografien über die Macher (DK-Verlag). Stan Lee, Gründer von Marvel, bezog sich mit seinen Figuren auf Probleme seiner Zeit. „Black Panther“ hätte es nie ohne die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre gegeben. Es gibt Bücher, da kann man den Verlauf der Geschichte bestimmen (1.000-Gefahren-Serie) und die Jugendlichen haben das Gefühl, Teil der Handlung zu sein. Beliebt sind Bücher im Sketchnotes-Style (Tom Gates, Lotta-Leben). Die Wörter haben etwas Lautmalerisches. Die kreative Typografie erleichtert auch Teens, die wenig lesen, den Inhalt zu erfassen.

Anknüpfungspunkte finden

Ihr Kind will aber nur vor dem PC hocken und zocken? Dann lassen Sie sich die Story des Games erzählen. Es geht meistens um Gut gegen Böse und manche Jugendthriller greifen solche Themen auf („Erebos“ von Ursula Poznanski). Ihr Kind versinkt im Fifa-Spielemodus? Wie wäre es mit Zeitschriften rund um Fußball oder eine Sportlerbiografie? Auch Musik kann ein Anknüpfungspunkt zum Lesen sein. Hinter jedem Song verbirgt sich eine Geschichte. Was hat den Künstler bewegt, darüber zu singen? Das zu entdecken, kann eine große Motivation sein. Young-Adult-Literatur bietet oft die passenden Songs zu den Büchern auf Spotify an.

Werten Sie nicht, was Ihr Kind liest. Zeigen Sie Interesse. Lieben Sie selbst Bücher? Steckt Ihre Leselust an? Ein Besuch im Antiquariat, Musical, Workshop oder eine Ausstellung sind oft Türöffner in die Welt der Geschichten.

Susanne Ospelkaus lebt mit ihrer Familie in Zorneding bei München, bloggt unter susanne-ospelkaus.com und arbeitet als Autorin, Lektorin und Therapeutin.

3 bis 5 – Vorzeitig einschulen?

Elternfrage: „Unser Kind ist ein ‚Kann-Kind‘, das heißt, wir könnten es vorzeitig einschulen lassen. Wie finden wir heraus, ob es schulreif ist?“

Armin Krenz: Zunächst eine kleine fachliche Anmerkung: früher sprach man von „Schulreife“, heute werden die Begriffe „Schulfähigkeit“ beziehungsweise „Schulbereitschaft“ benutzt, weil einerseits der Teilbegriff „Reife“ die Vorstellung provoziert, mit zunehmendem Alter „reife“ jedes Kind körperlich und kognitiv heran. Andererseits wird Schulfähigkeit oder Schulbereitschaft seit Jahren sehr viel umfassender betrachtet.

Kann man denn sein Kind zu früh einschulen oder aber zu lange warten?

Krenz: Eine vorhandene Schulfähigkeit oder Schulbereitschaft ergibt sich immer aus vier Kompetenzfeldern: einer emotionalen, motorischen, sozialen und kognitiven Schulfähigkeit. Zu ihr gehören vor allem seelische Stabilität, Belastbarkeit, eine größere Portion Selbstsicherheit, ein grundsätzlich vorhandenes Regelbewusstsein, Lerninteresse und Neugierde, ein Bündel an sozialen Verhaltensweisen sowie Entspannungsfähigkeiten, Ausdauer, Zuversicht und ein gewisses Maß an Konzentrationsfertigkeit. Da jedes Kind ein „Unikat“ ist, das sich von anderen Kindern – auch unabhängig vom Alter – individuell unterscheidet, ist die Stichtagregelung in Deutschland nur bedingt hilfreich. Es kann festgehalten werden:

  • Nicht das Stichtagsalter ist entscheidend, sondern das Vorhandensein bestimmter Fertigkeiten!
  • Britische, US-amerikanische und deutsche Studien weisen deutlich darauf hin, dass die Schulfähigkeit bei 6-jährigen Kindern deutlich stärker vorhanden ist als bei 5-jährigen Kindern.
  • Vorzeitig eingeschulte Kinder wiederholen häufiger eine Klasse.
  • Bei zu früh eingeschulten Kindern ziehen sich nicht selten Fertigkeitsmängel durch die folgenden Schuljahre.
  • Wenn die Kita eine spannende, kommunikationsreiche und selbstständigkeitsfördernde, situationsorientierte Pädagogik mit handlungsaktiven Projekten anbietet, kann eine spätere Einschulung keine entwicklungshinderlichen Folgen hervorbringen.

Sollte ich mein Kann-Kind, wenn es noch ein Jahr länger in den Kindergarten geht, zusätzlich intellektuell fördern, zum Beispiel mit Musik- oder Sprachunterricht?

Krenz: Es geht bei einem Aufbau der Schulfähigkeit – im Gegensatz zur landläufigen Meinung vieler Erwachsener – nicht primär um eine intellektuelle Förderung. Das ist eine immer wiederkehrende Fehlannahme und würde am vorhandenen Problem vorbeiführen. Vielmehr muss es darum gehen, mit Kindern Rollen-, Musik-, Theater-, Fantasie-, Bewegungsspiele zu erleben, alltagsorientierte Gespräche zu führen, Umfelderkundungen zu unternehmen sowie die Selbstständigkeit der Kinder auszubauen, das Selbstwertgefühl von Kindern zu stärken und ihre Neugierde auf Neues anzusprechen! Die Schulbereitschaft setzt sich in erster Linie aus den Fertigkeiten Lernmotivation, Lernbereitschaft und Lernfreude zusammen. Es geht also um Persönlichkeitsmerkmale und nicht um Lernergebnisse.

Wie sollen wir damit umgehen, wenn unser Kind das erste Schuljahr wiederholen muss?

Krenz: Verschiedene Untersuchungen haben immer wieder zum Ausdruck gebracht, dass die Grundlagen der vier basalen Kulturtechniken (Sprache/ Lesen/ Schreiben/ Rechnen) von Anfang an ein sicheres Fundament besitzen müssen. Insofern ist bei starken Fertigkeitsdefiziten eine Klassenwiederholung angezeigt, damit sich fehlende Basiskompetenzen mit jedem Schuljahr nicht weiter potenzieren. Doch es sollte am besten gar nicht erst durch eine zu frühe Einschulung zu einer Wiederholungsnotwendigkeit kommen.

Prof. Dr. h.c. Armin Krenz ist Wissenschaftsdozent für Elementarpädagogik und Entwicklungspsychologie und Autor des Buches „Ist mein Kind schulfähig? Ein Orientierungsbuch“ (Kösel).

Die Fragen stellte Ruth Korte.

Eine schwere Geburt

Für Eva Sofia war es schrecklich. Nach der Geburt ihrer Tochter konnte sie sich nicht vorstellen, noch einmal ein Kind zu bekommen. Damit ist sie nicht allein. Für viele Frauen ist die Geburt ein schwieriges, manchmal sogar traumatisches Erlebnis. Sarah-Maria Graber zeigt Schritte, die beim Umgang damit hilfreich sind.

Unter Tränen versucht Eva Sofia Worte zu finden, um mit ihrem Mann den inneren Gefühlssturm zu teilen. Ihre Tochter ist gerade mal drei Tage alt. Wie soll sie es ihm nur sagen? Sie hatten doch von einer größeren Familie mit drei bis fünf Kindern geträumt. Aber jetzt ist alles anders. Nachdem die Schwangerschaft so schwierig verlaufen ist und mit einer traumatischen Geburt endete, kommen bei Eva Sofia große Zweifel auf. Das wird sie kein zweites, geschweige denn drittes Mal schaffen, weder körperlich noch emotional. Diese Ohnmachtsgefühle, ohne wirklich ohnmächtig zu werden, und diese lange Ungewissheit, wie alles werden wird. Und diese Sorge darum, ob es wohl dem Kind gut geht. Nein, das war dieses eine Mal schon zu viel.

„Ich weiß nicht, ob ich das nochmal schaffe“, gesteht Eva Sofia ihrem Mann. Es folgt eine längere Pause. Sie schweigen sich an. Irgendwann holt Eva Sofia eine Familienzeitschrift hervor mit dem Titel: „Ein-Kind-Familie ist auch Familie“ und drückt sie ihrem Mann in die Hand. Er schaut zuerst den Titel an, dann seine Frau, nickt verständnisvoll, streichelt ihr übers Haar. „Das ist okay so. Ein-Kind-Familie ist auch Familie.“ Mit diesen Worten und dem liebevollen Verständnis ihres Mannes fällt ein schwerer Stein von Eva Sofias Herz. Der Gedanke ist befreiend, dass sie das kein zweites Mal über sich ergehen lassen muss.

Eva Sofia hätte es in diesen Tagen und Wochen nach der Geburt nicht für möglich gehalten, dass die Zeit ihre Wunden heilt. Und dann passiert es doch. Die Zeit verstreicht und heilt. Die Erinnerungen verblassen langsam. Der Wunsch nach einem weiteren Kind gewinnt die Oberhand und lächelt der Angst ins Gesicht. Ihre Freundin Susanne, ebenfalls Mama, macht ihr Mut. Sie hat richtig schöne Geburten erlebt. Sie ermutigt Eva Sofia, es nochmal zu versuchen und sich den Traum einer größeren Familie nicht von diesem einmaligen Erlebnis nehmen zu lassen. Getragen von diesem Hoffnungsschimmer fasst sich Eva Sofia ein Herz und öffnet sich für eine weitere Schwangerschaft. Ein weiteres Mal macht sie sich verletzlich, lässt ihre Ängste zu und versucht, ihnen Hoffnung entgegenzuhalten. Sie bereitet sich intensiv auf die Geburt vor, fasst neues Vertrauen in den Geburtsprozess und in ihren Körper.

Und tatsächlich: Die zweite Geburt wird sogar ein heilsames Erlebnis für Eva Sofia und ihren Mann. Sie entscheiden sich für weitere Kinder. Auch die dritte und vierte Geburt verlaufen sanft und selbstbestimmt. Gemeinsam gebären sie in tiefer Verbundenheit mit Gott und erleben, dass Geburt sich wie ein besonderes Teamerlebnis anfühlen kann.

Wie Wunden heil werden

„Jede Geburt, egal, ob positiv oder negativ erlebt, ist eigentlich eine Überforderung für den weiblichen Organismus“, erklärt die Hebamme Carole Lüscher. „Nach der Geburt durchläuft deshalb jede Frau eine Phase der Verarbeitung, egal, wie die Geburt war.“ Die Verarbeitung ergibt im besten Fall ein stimmiges Bild, ein stärkendes Gefühl: Es hat sich gelohnt. Es war intensiv und ich habe das geschafft. Was für ein Wunder und was für eine Kraft!

Das ist aber längst nicht bei allen Frauen so, wie das Beispiel von Eva Sofias erster Geburt zeigt. Nach einer solchen Geburt bleibt die Erleichterung aus. Die Erinnerung wiegt schwer und löst immer wieder Trauer aus. Wie Wellen rollen Gefühle der Enttäuschung und Wut ins Bewusstsein, plötzlich und unangekündigt. Sie spülen Schmerz und Erinnerungen an die Oberfläche, die sich nach einer heilsamen Berührung sehnen. In der Verarbeitung können drei zentrale Erkenntnisse helfen:

1. Gegensätzliche Gefühle dürfen gleichzeitig in mir wühlen!

Ich darf mich freuen am Leben und an dem, was ich habe, und gleichzeitig trauern über das, was ich verloren habe oder vermisse. Ich darf wütend und trotzdem glücklich sein. Ich kann enttäuscht und trotzdem dankbar sein. Ich darf aber auch nur wütend sein. Ich darf zweifeln und jubeln. Ich darf danken und klagen. Oder nur klagen.

2. Meine Kreativität ist heilsam!

Gefühle und Gedanken aufzuschreiben, kann mir helfen, sie zu fassen. Auf dem Papier, schwarz auf weiß, werden sie sichtbar und begreifbar. Und irgendwann kann ich sie besser loslassen. Oder mich mit ihnen versöhnen und sie einordnen. Auch andere kreative Ausdrucksweisen können mir dabei helfen, das Innere zum Ausdruck zu bringen: Malen, Singen, Bewegen, Kochen, Tanzen. In der Kreativität schaffen wir Raum für die Begegnung mit dem Schöpferischen, mit dem Schöpfer. Es eröffnen sich neue Ideen oder Zusammenhänge oder Einsichten. Manchmal hilft es auch, mit anderen Menschen über Gefühle und Gedanken zu sprechen. Manchmal ist es aber auch hilfreich, eben nicht darüber sprechen zu müssen. Es darf sein, was gerade ist.

3. Gebet ist eine gute Entscheidung!

In diesen negativen Gefühlen kann die Tendenz entstehen, dass ich mich von Gott abkapsle und aus dem Gebet zurückziehe, um die unangenehmen Emotionen zu umgehen. Weil ich vielleicht auch über Gott enttäuscht bin, weil ich mich missverstanden fühle. Weil mein Glaube durch das Erlebte wackelt. Und gefühlt keinen weiteren Anstoß mehr verkraftet. Dann ist es eine bewusste Entscheidung, trotzdem zu beten und mich auf eine Begegnung mit Gott einzulassen. Wenn ich meine Fragen und meine Zweifel zulasse, werde ich offen für Antworten, für andere Perspektiven, für weiterführende Fragen, für eine heilsame Berührung. Das Hoffen und der Glaube an die Liebe und Güte Gottes, an seine heilsame Kraft und Treue kann in diesem Prozess eine grundlegende Ressource werden. Fragen bleiben offen und darin liegt Trost: Dass da Raum ist für unbeantwortete Fragen. Dass Gott so groß und herrlich ist, dass ich ihn nicht begreifen kann, nicht begreifen muss. Dass seine Wege anders sind als meine, aber dass er letztlich treu und heute noch lebendig ist. Seine Kraft wirkt in mir und an mir. Seine Sicht geht über das für mich Sichtbare hinaus.

Wenn die Erinnerung überwältigend bleibt

Wenn diese Hilfestellungen nicht reichen, bleibt die Erinnerung an die Geburt überwältigend und belastend. In diesen Fällen kann ein Geburtstrauma vorliegen. Dass eine Geburt ein Trauma hinterlassen hat, erkennen betroffene Frauen oft daran, dass sie Flashbacks haben: Belastende Erinnerungsfetzen tauchen unkontrollierbar auf und stellen den Alltag auf den Kopf. Die Ressourcen reichen nicht, um die Geschehnisse rund um die Geburt zu verarbeiten. Die Betroffene kommt nicht mehr zur Ruhe. Der innere Stress baut sich nicht ab, sie kann schlecht schlafen, ist schreckhaft und gereizt. Denn der Organismus und das Nervensystem der Betroffenen sind ständig im Alarmzustand, bleiben stecken in der Überforderung. Wie ein Stausee, der das Wasser nicht mehr abfließen lässt. Erneuter Stress, auch in geringem Ausmaß, und kleine Erinnerungsfetzen triggern diesen Zustand und wirken überfordernd. Wegen eines Tropfens läuft der See über.

Betroffene vermeiden um jeden Preis, dass dieses Trauma getriggert wird, indem sie zum Beispiel das Spital meiden, den Namen des Arztes nicht mehr lesen, der Hebamme aus dem Weg gehen, nicht über die Geburt sprechen. Doch das Kind erinnert sie weiterhin an die Geburt. Insbesondere sein erster Geburtstag zeigt bei vielen Betroffenen die Belastung auf: Sie würde ihn am liebsten überspringen, um nicht mit den Erinnerungen an die Geburt konfrontiert zu werden. Einige Paare stellen sich wie Eva Sofia die Frage, ob sie weitere Kinder wollen, weil sie eine erneute derartige Erfahrung verhindern möchten.

Die Verarbeitung kann aber auch hier gelingen. Traumata können gelöst werden. „Durch einen Umweg“, sagt Hebamme Carole Lüscher. Sie arbeitet seit Jahren mit traumatisierten Frauen, die Mütter werden. Um die Wucht des Wassers im Stausee zu minimieren, gehe es zuerst darum, die Ressourcen der Betroffenen zu stabilisieren, indem sie eine sichere Beziehung zu Therapeuten oder Fachpersonen aufbauen können, die sie dabei unterstützen. So soll es den Müttern gelingen, zunächst ihren Alltag zu bewältigen und dann Schritt für Schritt Raum zu schaffen, um Stress abzubauen. Der erste Schritt sei oft der schwierigste und auch der wichtigste: die Entscheidung, das Erlebte zu verarbeiten und sich Hilfe zu suchen. Sei es durch ein Gespräch mit einer Vertrauten, durch das Kontaktieren einer Therapeutin oder kompetenten Hebamme. Denn im Fall eines Traumas brauchen Betroffene professionelle Hilfe.

Das Ziel einer Therapie ist es dann, dass die Mutter das Geburtsgeschehen in die eigene Biografie integrieren kann. Dass sie die Geschehnisse verstehen und nachvollziehen kann. Dass sie einordnen kann, was passiert ist und sie sich damit versöhnt. Dass die Geburt Teil ihres Lebens wird und dass das okay für sie ist. So findet sie wieder Kontrolle über ihre Gefühle. Die Angst vor der erneuten Überflutung treibt immer weiter weg.

Für eine weitere Geburt kann das bedeuten, dass eine betroffene Frau mehr Informationen einfordert. Genau so hat es Eva Sofia erlebt. Sie wollte selbst Entscheidungen treffen, gut informiert sein und in den Geburtsverlauf miteinbezogen werden. Das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit durch vertraute Beziehungen – und durch den Glauben an einen liebevollen, versorgenden Gott – ist dabei ein wichtiger Schlüssel.

Sarah-Maria Graber ist Journalistin, Mutter von drei Kindern und lebt in Bern.

0 bis 2 – Die passende Krippe

Elternfrage: „Ich bin alleinerziehend und suche nach einem Krippenplatz für meine Tochter (1). Worauf sollte ich achten, wenn ich mir eine Krippe anschaue?“

Wenn Sie Ihr Kind in einer Krippe betreuen lassen möchten, gibt es ein paar Punkte, die Sie im Vorfeld beachten können, damit der Start in die Fremdbetreuung gelingt. In den meisten Einrichtungen hat sich das Berliner Modell der sanften Eingewöhnung durchgesetzt, da es dem kindlichen Bedürfnis nach Bindung und Sicherheit am meisten entspricht. Über einen Zeitraum von zwei bis sechs Wochen, je nach Kind, wird das neue kleine Gruppenmitglied im Idealfall von einer festen Bezugserzieherin schrittweise in die Gruppe eingewöhnt. Die Eltern erhalten in dieser Phase viele Rückmeldungen und Informationen und arbeiten mit den Erzieherinnen zusammen. Wenn Sie also über einen Wiedereinstieg in den Beruf nachdenken, sollten Sie sich mindestens zwei Monate vor Arbeitsbeginn um den Start in die Krippe bemühen. Ein zeitgleicher Arbeits- und Krippenstart ist nicht möglich.

Spezielle Angebote

Nach der Eingewöhnung ist ein strukturierter Tagesablauf mit anregenden Angeboten für das Kind förderlich. Fragen Sie im Erstgespräch nach wiederkehrenden Abläufen, aber auch nach speziellen Angeboten wie Musik oder Kreativem, und ob die Gruppe regelmäßig nach draußen geht, zum Beispiel auf das Außengelände oder auf Ausflüge in die nähere Umgebung. Überlegen Sie sich, was Ihnen für Ihr Kind besonders wichtig erscheint: bilinguales Konzept, offene Gruppen, eine naturnahe Lage der Einrichtung …

Manchmal helfen auch Berichte von anderen Krippeneltern, um ein realistisches Bild einer Einrichtung zu bekommen. Trauen Sie sich ruhig, jemanden anzusprechen, den Sie kennen, und lassen Sie sich von den Erfahrungen berichten.

Da die Kinder meist bis zu drei Mahlzeiten täglich in der Krippe einnehmen, ist es sinnvoll, sich über das Verpflegungskonzept des Trägers zu informieren. Ein abwechslungsreicher, gesunder Speiseplan mit Mahlzeiten aus frischen Lebensmitteln sollte selbstverständlich sein.

Gutes Bauchgefühl

Bevor Sie Ihr Kind in Ihre favorisierte Einrichtung geben, prüfen Sie, ob der tägliche Anfahrtsweg (Zuhause – Krippe – Arbeit) auf Dauer zeitlich realistisch und finanziell machbar ist. Wer nicht in Krippennähe arbeitet oder wohnt, muss viel Wegezeit einrechnen, was die möglichen Arbeitsstunden deutlich reduziert. Auch ist der Anfahrtsweg wichtig, falls das Kind einmal außerplanmäßig früher abgeholt werden muss, zum Beispiel bei akuter Krankheit.

Selbst wenn Ihnen das schriftliche Konzept einer Einrichtung auf Anhieb gefällt, ist es das Beste, sich ein persönliches Bild zu machen. Was sich wie ein schwammiges Kriterium anhört, ist ein wichtiger Anhaltspunkt: das Bauchgefühl. Schnuppern Sie in der Gruppe, nehmen Sie die Atmosphäre wahr und die Art und Weise, wie Erzieherinnen und Kinder miteinander interagieren. Warmherzigkeit, Freundlichkeit und Zugewandtheit machen viel mehr aus als der beste bilinguale Förderkurs. Es braucht Vertrauen, sein Liebstes in fremde Hände zu geben, und ich bin mir sicher, dass Sie als Mutter das beste Gespür dafür haben, was für Ihr Kind das Richtige ist.

Friederike Schwencke ist Diplom-Sozialpädagogin bei den „Flotten Bienchen“ im CJD Wolfsburg.

Auf eigenen Füßen

Elternfrage: „Mein Sohn reibt sich in der Gemeinde auf und vernachlässigt die anderen Aufgaben im Beruf und Privaten. Einerseits freue ich mich ja über sein christliches Engagement. Andererseits sorge ich mich aber darum, dass ihn diese Aufgaben ‚auffressen‘. Sollte ich mich einmischen und ihn stoppen?“

Warum Kinder Grenzen brauchen…

… und sie für uns Eltern noch wichtiger sind.

Von Anna Koppri

Wegen sowas muss man doch nicht weinen.“ „Jetzt stell dich nicht so an.“ „Iss deinen Spinat, die Kinder in Afrika haben gar nichts zu essen.“ „Weil ich das sage.“ „Nichts passiert, steh wieder auf.“ „Gib Opa einen Kuss.“ – Diese Liste könnte ich ewig fortführen. Als ich Kind war, gehörten solche Sätze in vielen Familien selbstverständlich zur Erziehung – genau wie körperliche Züchtigungen. Permanent wurde über uns Kinder und unsere Körper bestimmt. Die Erwachsenen wussten am besten, was gut für uns war und wie wir uns zu fühlen oder zu verhalten hatten. Man war der Überzeugung, dass Kinder erst zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden müssten. Sie sollten sich möglichst gut anpassen und wenig auffallen. Heute fällt es mir noch immer schwer, meine Bedürfnisse wahrzunehmen, mich selbst ernst zu nehmen und meinen Empfindungen zu trauen.

Ich möchte, dass meine Kinder anders aufwachsen. Sie sollen frei ihre individuelle Persönlichkeit entfalten können und sich angenommen und geliebt wissen. Die intuitive Wahrnehmung für ihre Bedürfnisse und ihre individuellen Emotionen möchte ich ihnen nicht abtrainieren. Trotzdem sollen sie mich als Autorität wahrnehmen, an der sie sich orientieren können und die im Zweifelsfall die Richtung vorgibt. Deshalb habe ich jede Menge Ratgeber über beziehungs- und bedürfnisorientierte Erziehung gelesen, über Begleiten ohne Strafen und unverbogene Kinder. Doch weshalb fällt es mir oft so schwer, das alles in die Tat umzusetzen? Warum sage ich trotzdem Wenn-dann-Sätze und weiß mir manchmal nicht anders zu helfen, als mit Belohnung zu locken oder mit Einschränkungen zu drohen? Warum werde ich laut oder nutze meine körperliche Überlegenheit, um meine Kinder zu etwas zu bringen, das sie nicht wollen

Mehr Grenzen setzen

Nach der Geburt meines zweiten Kindes bekam ich die Rückmeldung von einer weisen Mutter, der ich vertraue, dass ich meinem willens- und gefühlsstarken Großen (damals 3) nicht genug Grenzen setzen würde. Zuerst war ich innerlich empört: „Ich will ihm ja auch gar keine Grenzen setzen!“ Doch dann habe ich mich auf eine Reise begeben zu Grenzen und zu mir, und ich habe erfahren, welche Art von Grenzen meine Kinder von mir brauchen.

Nora Imlau schlüsselt in ihrem Buch „Mein Familienkompass“ auf, wie unterschiedlich das Wort Grenzen von verschiedenen pädagogischen Strömungen gefüllt wurde und wird. In der autoritären Erziehung sind Grenzen Regeln, die Erwachsene mehr oder weniger willkürlich setzen und denen Kinder Folge zu leisten haben, um Disziplin zu erlernen.

In der autoritativen Erziehung werden Grenzen und Regeln gemeinsam mit den Kindern ausgehandelt. Sind sie einmal gesetzt, müssen sie eingehalten werden, um dem Kind Halt und Orientierung zu geben. Ausnahmen gibt es nicht, es sei denn, die Regel wird im Dialog neu verhandelt und verändert. Ich denke, dass wir alle diese Art von Grenzen in unsere Familiensysteme aufgenommen haben, und ich bin überzeugt, dass sie vieles erleichtern. So muss nicht jeden Abend neu darüber diskutiert werden, dass sich alle die Zähne putzen. Damit diese Grenzen die Kinder jedoch nicht entmündigen oder in ihrer Entwicklung einschränken, halte ich es für wichtig, festgesetzte Regeln immer wieder zu überprüfen: ob sie dem Alter und Entwicklungsstand der Kinder noch angemessen sind, ob alle einen Konsens darüber haben und ob sie eine sinnvolle Funktion erfüllen. Grundsätzlich halte ich es für wertvoll, wenn wir dialogbereit sind und Regeln situativ anpassen, anstatt diese stur durchzusetzen, um unseren Alltag zu erleichtern.

Die eigenen Grenzen wahren

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hielt gar nichts davon, Kindern Grenzen in Form von starren Regeln zu setzen. Stattdessen empfand er es als essenziell, die eigenen Grenzen zu wahren und auch dem Kind dieses Recht zuzugestehen.

Das war für mich ein „Aha-Erlebnis“. Meinen Kindern tut es gut, wenn ich ihnen meine eigenen Grenzen aufzeige. Nicht um sie zu begrenzen oder ihnen vermeintlichen Halt durch einen „Gartenzaun von Regeln“ zu geben. Sondern um ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch Grenzen hat, die geachtet werden sollen. Kinder orientieren sich an uns, besonders, wenn sie noch klein sind. Deshalb ist es kein Wunder, dass mein Großer bei Tisch immer auf meinen Schoß geklettert kam, sobald er aufgegessen hatte. Ständig habe ich ihm gesagt, dass ich selbst noch in Ruhe aufessen will und er mich so lange in Ruhe lassen soll. Doch er hat gespürt, dass ich mir innerlich gar nicht so sicher war, ob es okay ist, meine eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Die Glaubenssätze, die tief in mir eingebrannt sind, flüsterten mir etwas anderes zu: „Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger als deine eigenen Grenzen. Wenn du etwas nicht magst, musst du es halt aushalten.“

Im Arbeitskontext mit Kindern habe ich immer wieder Bewunderung von Kolleginnen und Kollegen für meine scheinbar nie versiegende Geduld geerntet. Dass ich häufig schon längst innerlich gekocht habe, konnten sie ja nicht sehen. Damals im Job ist es selten vorgekommen, dass mein Geduldsfaden riss. Umso stärker bin ich nun mit meinen eigenen Kindern herausgefordert. Denn jetzt kann ich nicht mehr nach einer Schicht nach Hause fahren und mich ins Bett legen, um wieder zu mir selbst zu finden. Jetzt muss ich, wenn es hart auf hart kommt, 24 Stunden am Tag „funktionieren“. So anstrengend das manchmal ist und so bestürzt ich bin, wenn ich wieder einmal anders reagiere, als ich eigentlich möchte, so dankbar bin ich für diese „harte Schule zu mir selbst“.

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Manchmal, wenn ich vor Müdigkeit oder Stress nicht mehr klar denken kann und mein großer Sohn wiederholt über meine Grenzen trampelt, gerät alles aus dem Gleichgewicht. Ich verliere aus dem Blick, dass mir ein gefühlsstarker Fünfjähriger gegenübersteht und fühle mich wie das kleine Mädchen, dessen Grenzen mutwillig übertreten werden. Das tut weh, und im Kurzschluss habe ich meinen Sohn einmal an den Schultern gepackt und geschüttelt. Das geht natürlich gar nicht. Ich hätte früher nie geglaubt, dass ich zu so etwas in der Lage wäre. Gewaltfreiheit war immer schon mein höchstes Erziehungsideal. Umso wichtiger ist es zu lernen, endlich gut für mich zu sorgen und für solche Situationen ein Frühwarnsystem mit entsprechenden Handlungsstrategien zu finden.

Seit ich weiß, dass es am wichtigsten ist, meine eigenen Grenzen zu kennen und zu verteidigen, mache ich mir immer häufiger bewusst, dass ich genauso wichtig und ernst zu nehmen bin wie jeder andere Mensch. Ich muss dafür sorgen, dass meine Bedürfnisse befriedigt und meine Grenzen geachtet werden. Anstatt allzu hart mit mir ins Gericht zu gehen, wenn ich meinen eigenen Ansprüchen nicht genüge, versuche ich immer wieder eine gütige Haltung mir selbst gegenüber einzunehmen.

Eine Stunde Rückzug mit einem Buch kann Wunder wirken oder auch nur ein paar bewusste tiefe Atemzüge am Fenster. Wenn ich bei mir angekommen und in meiner Kraft bin, kann ich meinen Kindern ein viel stärkeres und klareres Gegenüber sein.

Ich erlaube es mir, mir Zeit zu lassen und zu überlegen, ob ich etwas möchte oder nicht, wenn meine Kinder mich etwas fragen. Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, die fünfte Geschichte zu erzählen, sage ich das ganz klar. Und es hilft mir zu wissen, dass ich damit nicht nur zu mir selbst und meinen Bedürfnissen stehe, sondern meine Söhne dadurch lernen, dass sie auch Grenzen setzen und Nein sagen dürfen.

Die Wut aus dem Körper tanzen

Mit kleinen Kindern ist es natürlich nicht immer so einfach, gut für sich zu sorgen. Manchmal muss ich stundenlang ein schreiendes Kind wiegen, obwohl ich viel lieber endlich „Feierabend“ hätte. Da hilft es, mir innerlich bewusst zu machen, dass es mich gerade echt nervt, dass der Kleine schon zum fünften Mal aufgewacht ist. Ich fühle mich in meiner kostbaren Zeit für mich selbst beschnitten. Darüber darf ich traurig oder wütend sein. Anstatt die Wut runterzuschlucken und weiter tapfer auszuhalten und über meine Grenzen zu gehen, mache ich Musik an und tanze die Wut aus meinem Körper, bevor sich das Babyfon das nächste Mal meldet. Das hilft mir, bei mir zu bleiben. Oder ich gönne mir zur Belohnung bewusst etwas Besonderes, um mir zu zeigen, dass ich auch wichtig bin: ein Eis, einen Film oder eine geplante Auszeit am nächsten Tag.

Wäre es nicht schön, wenn wir – die Kinder, die allzu viel aushalten und sich anpassen mussten – es durch unsere Kinder endlich schaffen, zu dem zu finden, was uns ausmacht? Wenn wir zu unseren individuellen Empfindungen, Interessen und Begabungen durchdringen und damit unseren Platz in der Gesellschaft finden würden? Wenn wir unseren eigenen Raum einnehmen, werden wir es auch besser schaffen, unseren Kindern den Raum zu geben, den sie brauchen, um sich frei zu entfalten. Wenn sie schon in ihren ersten Lebensjahren erleben dürfen, dass sie mit ihrem individuellen Wesen angenommen sind, wir wirkliches Interesse an ihnen haben und ihre Grenzen respektieren, brauchen sie in ihrer Jugend viel weniger Grenzen zu übertreten, um sich selbst zu finden – so eine These von Susanne Mierau aus ihrem Buch „Frei und unverbogen“.

Anna Koppri lebt mit ihrer Familie in Berlin. Sie arbeitet als Autorin und bei der Berliner Stadtmission.

3 bis 5 – Wenn Kinder Krieg spielen

Elternfrage: „Unser Sohn (4) spielt momentan gern Krieg. Es kommt sogar dazu, dass er mit seiner Kindergartengruppe (Ukraine) gegen eine andere Gruppe (Russland) kämpft. Er möchte gern ‚Kriegsmann‘ werden und gegen Putin kämpfen. Wir wissen nicht so recht, wie wir uns verhalten sollen.“

Dass Kinder sich in diesem Alter auch spielerisch miteinander messen und „kämpfen“, oder, wie im Fall Ihres Sohnes, „Krieg spielen“, ist erstmal nicht ungewöhnlich. Zum einen ermöglichen ihnen solche Raufspielchen, die eigenen Kräfte und Grenzen zu entdecken und auch Erfahrungen mit den Kräfen und Grenzen anderer Menschen zu machen. Zum anderen verleiht ihnen das Schlüpfen in eine Rolle, in der sie als Superheld oder Krieger mit Waffen oder besonderen Kräften auftreten können, ein Gefühl von Macht und Stärke, das ihnen im normalen Alltag oft verwehrt bleibt.

Kinder verarbeiten im Spiel

So ist auch der Wunsch, „Soldat“ zu werden einzuordnen. Es geht dabei nicht darum, wirklich einmal in den Krieg zu ziehen und Menschen zu töten, sondern der eigenen Hilflosigkeit, die Kinder in dieser Krise spüren, etwas entgegenzusetzen. Was man hier beobachten kann, ist Teil einer spielerischen Verarbeitung von Realität, die die Kinder gerade miterleben müssen.

Wir alle spüren ja im Moment ein Gefühl von Machtlosigkeit, wenn wir den Krieg in der Ukraine beobachten. Nur haben wir als Erwachsene andere Möglichkeiten, damit umzugehen. Kinder finden hier einen Ausweg über Spiel und magisches Denken. Da wird ein kriegsführender Diktator auf einmal besiegbar wie eine Gruppe anderer Vierjähriger und ein kleiner „Soldat“ kann kommen und ihn stoppen.

Die Bedürfnisse dahinter

Vor diesem Hintergrund wäre ein reines Verbot dieses Spiels nicht zielführend. Wenn Eltern oder das pädagogische Personal in der Kita trotzdem ein ungutes Gefühl bei diesem Spiel haben – was ich angesichts der Lage nachvollziehen kann –, ist es besser, die dahinterstehenden Bedürfnisse auf andere Art zu füllen: Zum einen sollte es Raum zum Toben, Raufen und Kämpfen geben, der von den Erwachsenen so gestaltet wird, dass sich die Kinder darin möglichst frei ausleben dürfen. Erwachsene und Kinder können sich gemeinsam Fantasiegestalten ausdenken, die dort aufeinandertreffen.

Zum anderen muss aber auch Raum da sein, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen: Hier geht es vor allen Dingen darum, den Blick der Kinder auf das zu lenken, was sie tun können, um zu helfen, und wo ihre tatkräftige Unterstützung wirklich nützlich sein kann. Es geht darum, der Machtlosigkeit Selbstwirksamkeit entgegenzusetzen.

Daniela Albert ist Erziehungswissenschaftlerin und Eltern- und Familienberaterin (www.familienberatung-albert.de).

Sicher und geborgen die Welt entdecken

Was brauchen Kinder für eine seelisch gesunde Entwicklung? Die Therapeutin Dorothea Beier erklärt die fünf Grundbedürfnisse und wie Eltern darauf eingehen können.

Jeder Mensch hat Bedürfnisse, wie zum Beispiel Hunger und Durst, die rein körperlicher Art sind. Darüber hinaus gibt es wichtige seelische Bedürfnisse. Sie zu sehen und zu befriedigen, legt entscheidende Grundlagen für eine seelisch gesunde Entwicklung. Anhand eines fiktiven Beispiels sollen die fünf Grundbedürfnisse kurz erklärt werden.

Johann, gerade acht Monate alt, jauchzt vor Vergnügen. Mama beugt sich über seine Wippe, hat eine Quietscheente in der Hand und spielt ihm etwas vor. Das ganze Szenario geht nun schon fünf Minuten und der kleine Kerl ist immer noch begeistert. Nun greift er nach der Ente und wirft sie auf den Boden. Mama hebt sie auf, gibt sie zurück. Und aus Runterwerfen und Aufheben entsteht ein neues Spiel.

Johann spürt: „Mama kennt meine Bedürfnisse und antwortet darauf.“ In seinen ersten Lebensmonaten hat sie sogar prompt auf seine Laute reagiert und ist auf ihn eingegangen. Sie hat erspürt, was er braucht, das Bedürfnis ausgesprochen und seinen Wunsch erfüllt. Nicht immer war es die Brust, manchmal wollte er einfach beschäftigt werden.

Auf Bedürfnisse einzugehen, bedeutet nicht nur, sie zu erfüllen, sondern auch, sie verbal und nonverbal zu spiegeln. Das gibt Sicherheit und das Gefühl, verstanden zu werden. Johann hat bereits gelernt: „Meine Welt ist sicher, ich kann mich auf andere verlassen, ich bin liebenswert – ich bin wertvoll.“ Ein wichtiges Grundbedürfnis wurde bereits durch das feinfühlige Antworten der Mutter auf seine Signale gestillt: das Bedürfnis nach Bindung. Das Wahrund Ernstnehmen schafft eine Verbindung, die gleichzeitig hilft, ein gesundes Selbstwertgefühl auszuprägen.

Freiheit entdecken

Inzwischen hat Johann sich auf die Beine gestellt. Es war für ihn ein großer Tag, als er sich zum ersten Mal allein durch den offenen Türspalt bewegen konnte. Sein Lieblingswort ist nun: „leine“. Begeistert greift Johann zum Beispiel nach den Kartoffeln, Karotten, Nudeln und Wurststückchen auf seinem Teller, denn er möchte nicht mehr gefüttert werden.

In seinem Verhalten zeigt sich ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis: das Bedürfnis nach Autonomie. Die Bedürfnisse nach Bindung und Autonomie stehen in einem Wechselverhältnis: Eine sichere Bindung ist für das Erkundungsverhalten (Autonomie) eines Kindes sehr wichtig. Hieraus schöpft es seinen Entdeckermut, braucht aber auch noch weiterhin den „sicheren Hafen“, zu dem es immer wieder zurückkehren kann.

Grenzen erfahren

Johann ist nun schon fast zwei Jahre alt und er entdeckt die Welt. Das Leben ist so schön! Er probiert vieles aus, doch manchmal sagen Mama und auch Papa „Nein!“. Das mag Johann nicht, aber es gehört dazu; denn auch angemessene Grenzen sind nötig, um sich gesund entwickeln zu können. Tatsächlich gehört es auch zu den fünf wichtigen seelischen Grundbedürfnissen: das Bedürfnis nach realistischen Grenzen und Selbstkontrolle. Die Entwicklungspsychologie spricht davon, dass Kinder (nicht Säuglinge!) hin und wieder auch die Erfahrung von „Vergeblichkeit“ machen müssen. Indem ein Kind manchmal etwas nicht (gleich) bekommt, lernt es, in gemischten Gefühlen zu denken und aus dem Schema des Schwarz-Weiß-Denkens herauszufinden. Das ist ein wichtiger Reifeschritt, der im späteren Erwachsenenleben viele Vorteile hat, zum Beispiel im Treffen von Entscheidungen. Auf der Basis einer sicheren Bindung kann ein angemessenes „Nein“ sogar helfen, einen weiteren wichtigen Entwicklungsschritt zu machen. Nicht zuletzt erlangt das Kind hierdurch auch eine gesunde Frustrationstoleranz.

In diesem Prozess ist es wichtig, sich immer wieder gut in das Kind einzufühlen und ihm seine Gefühle zu spiegeln. Kinder können erst ab dem fünften Lebensjahr ihre Gefühle allmählich selbst regulieren. Werden sie damit wiederholt alleingelassen, erschwert das die Emotionsregulation, was häufig zu unerklärlichen Gefühlsausbrüchen führen kann. Indem Eltern ihren Kindern Gefühle spiegeln, helfen sie ihnen, sie wahrzunehmen und einzuordnen. „Du bist gerade wütend, mein Schatz! Mama/Papa versteht dich, Mama/Papa ist bei dir …“ Solche und ähnliche Sätze helfen dem Kind und bringen das Gefühlschaos wieder zur Ruhe.

Spielen und Spaß haben

Johann ist jetzt drei Jahre alt. Er liebt es zu spielen und hat eine ausgeprägte Fantasie. Mama und Papa helfen ihm, in ein Spiel hineinzufinden, um ihn dann auch wieder vergnüglich allein spielen zu lassen. Manchmal sitzen sie auf dem Fußboden des Kinderzimmers, spielen mit Playmobil und Mama oder Papa denken sich dabei viele Geschichten aus. Johann liebt es, wenn die Eltern ihn in seiner Fantasiewelt anregen und abholen. Jeder Gegenstand beginnt zu leben: Der Ball wird Dickie, ein Buntstift ist Olga und eine Zahnbürste ist Jolante. Am Abend fällt das Zähneputzen gar nicht schwer, denn Jolante ist neugierig und möchte gern Johanns Zähne sehen.

Kinder haben in diesem Alter eine ausgeprägte Fantasie, die ihnen dabei hilft, sich in der Welt zurechtzufinden. Diese Fantasiewelt ernst zu nehmen und sie darin abzuholen bzw. anzuregen, ist sehr hilfreich und kann auch genutzt werden, um brenzlige Situationen im Alltag zu entschärfen, wie zum Beispiel das Zähneputzen oder Schuheanziehen.

Kindergartenkinder wie Johann lieben das Rennen, Balancieren und Klettern. Neben den körperlichen entwickeln sich auch die kognitiven Fähigkeiten. Kinder lernen, sich immer besser auszudrücken. Die beste Unterstützung dieser Fähigkeiten ist das Vorlesen – am Abend, aber auch zwischendurch.

Lob und Anerkennung

Mit fünf Jahren ist Johann nun schon richtig selbstbewusst. Er weiß, was er möchte, und kann das seinen Eltern mitteilen. Mama und Papa haben entdeckt, dass Johann sehr musikalisch ist. Er wünscht sich eine Geige und möchte gemeinsam mit den Eltern musizieren. Sie bestärken ihn darin und zeigen ihre Freude darüber. Auf solche Weise wird das Bedürfnis nach Autonomie, zu dem auch Identität und Kompetenz (Selbstwert und Anerkennung) gehören, gestärkt. Auch beim Fußballspielen mit Papa wird dieses Bedürfnis immer wieder befriedigt; denn Papa staunt jedes Mal über Johanns Geschicklichkeit mit dem Ball.

Resilienz durch Spiel und Spaß

Inzwischen geht Johann gern zur Schule. Er hat Freunde gefunden, mit denen er sich häufig trifft. Einmal in der Woche ist Geigenunterricht. Mama und Papa sorgen dafür, dass Johann neben den Schulaufgaben und dem Geige-Üben genug Zeit findet, um seinem Bedürfnis nach Spiel und Spontaneität nachgehen zu können. Das macht Kinder stark und fördert ihre Resilienz (Widerstandsfähigkeit). Kinder brauchen für ihre seelisch gesunde Entwicklung genug Ruhezeiten, in denen sie ganz bei sich selbst sein dürfen.

Bedürfnisse und schlechte Gefühle

Die Bedürfnisse sind ein Schlüssel zur Gefühlswelt unserer Kinder, denn hinter schlechten Gefühlen oder auch hinter auffälligen Verhaltensweisen stecken immer ungestillte Bedürfnisse. Indem wir auf die Bedürfnisse achten, sie benennen und anerkennen, können wir uns selbst und unsere Kinder besser verstehen lernen. Oft sprechen wir von „schwierigen Kindern“ und geben ihnen damit einen Stempel. Erkennen wir das Bedürfnis hinter einem offensichtlich auffälligen Verhalten des Kindes, können wir angemessen helfen.

Marshall Rosenberg, der Begründer der gewaltfreien Kommunikation GFK, zeigt Strategien auf, die besonders in konfliktreichen Situationen sehr hilfreich sind: In einem ersten Schritt ist es wichtig, auszusprechen, was ich als Erwachsener sehe, ohne dies zu bewerten. Im zweiten Schritt geht es darum, das Gefühl in der jeweiligen Situation zu benennen – das eigene oder das des Kindes. Im dritten Schritt hilft es, das Bedürfnis der Beteiligten zu verbalisieren. Ein vierter Schritt in der GFK ermutigt dazu, eine Bitte des Erziehenden zu äußern. Hiermit wird ein weiteres wichtiges Grundbedürfnis erfüllt: das Bedürfnis nach Freiheit im Ausdruck von Bedürfnissen und Emotionen. Diese Freiheit führt dazu, dass Kinder einen positiven Zugang zu sich selbst und zu ihren Gefühlen finden.

Unsere Kinder müssen übrigens nicht immer mit uns einer Meinung sein! Sie haben auch das Recht, Nein zu sagen. Dadurch nehmen sie nicht gleich eine Herrscherrolle in der Familie ein. Stattdessen entwickelt sich ein respektvoller Umgang im Miteinander, der die Selbstwirksamkeit fördert und das Bedürfnis nach Autonomie stillt.

In dem Beispiel von Johanns Entwicklung sehen wir, was Kinder brauchen. Natürlich läuft es nicht immer perfekt im oft stressigen Alltag. Da hilft es zu wissen: Auch Eltern dürfen Fehler machen! Ja, diese sind normal und sogar wichtig; denn hierdurch können Kinder lernen, wie man sich verhalten sollte, wenn man etwas falsch gemacht hat. Fehler anzuerkennen und sich dafür bei den Kindern zu entschuldigen, stärkt die Beziehung im Miteinander, schafft einen noch engeren Zusammenhalt und ein positives Familienklima.

Auch Erwachsene haben Bedürfnisse, die gestillt werden müssen. Daher ist ein achtsamer Umgang mit den Kindern genauso wichtig wie der achtsame Umgang mit sich selbst.

Dorothea Beier ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Selbstbehauptungs- und Resilienztrainerin, Spiel- und Bewegungstrainerin sowie Coach für Kinder und Jugendliche. Sie lebt und arbeitet in Uelzen. www.praxis-dbeier.de

Jetzt müssen die Kinder selbst entscheiden

Gut gemeinte Ratschläge der Eltern kommen nicht immer gut an. Denn die Kinder müssen ihren Weg finden – nicht die Eltern. Von Birgit Ortmüller

Als die Kinder klein waren und unseren täglichen Alltag bestimmten, habe ich immer wieder den Satz gehört: „Die Kinder werden so schnell groß.“ Im Stillen habe ich mich dann müde und erschöpft gefragt: „Wann wird das denn endlich sein?“ Ich fühlte mich Lichtjahre von diesem Zeitpunkt entfernt und spürte gleichzeitig eine gewisse Sehnsucht nach Freiheit. Und dann ging doch alles so schnell. Und ich komme gedanklich und emotional kaum hinterher. Ich weiß, es ist an der Zeit. Wenn ich unsere Kinder so betrachte, dann überragen sie mich längst mit ihrer Körpergröße. Sie sind zu jungen Menschen herangewachsen, von Kindern keine Spur mehr. Meine jüngste Tochter meinte kürzlich: „Mama, wir sind doch beide aus dem Alter raus!“ Ehrlich, deutlich und unmissverständlich.

Steine aus dem Weg räumen

Ein neues Lebenskapitel für uns Eltern und auch für die Kinder beginnt. Sie suchen ihren Lebensweg und ihre berufliche Zukunft. Viele Entscheidungen sind abzuwägen und zu treffen. Welche Ausbildung, welcher Studiengang ist richtig? An welchem Ort kann man eine selbstbestimmte Heimat finden? Das Bildungsangebot ist vielfältig und die Fragen berechtigt. In so manchen Gesprächen versuche ich, eine Antwort zu finden und weiterzuhelfen. Mehr geht nicht, entscheiden müssen die Kinder selbst. So mancher gut gemeinte Ratschlag trifft auf Unverständnis. Ich muss lernen, ruhig zu bleiben. Eigene Erfahrungswerte können wertvolle Lebensbegleiter der Kinder sein. Es fällt mir nicht leicht, ihre Gedanken und Ziele anzunehmen. Zu gern möchte ich auch jetzt mögliche Steine aus dem Weg räumen und mich schützend vor sie stellen. Doch ich kann sie nicht mehr vor allem bewahren.

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden“, sagte Søren Kierkegaard. Ich spüre: So manche Entscheidung meiner Lieben könnte in die falsche Richtung gehen. Das kann nicht gut gehen, denke ich. Die gesteckten Ziele und Vorstellungen der Kinder sind nur schwer realisierbar. Mein Herz sagt ziemlich laut „Nein“. Doch dann schreit mein Verstand ein lautes „Ja“. Ich muss es einfach aushalten! Die Kinder müssen ihren Weg finden, nicht ich.

Ohne Groll und Vorhaltungen

In diesen Situationen kommt mir immer meine Lieblingsgeschichte aus der Bibel vom „verlorenen Sohn“ in den Sinn (nachzulesen in Lukas 15). Der Vater lässt seinen Sohn ziehen. Er versorgt ihn finanziell und materiell mit allem, was er benötigt, er ist großzügig im Geben. Ein letztes Mal nimmt er ihn fest in die Arme. Welche Gedanken werden ihm durch den Kopf gegangen sein? Ob er da schon ahnte, dass dieser Weg der falsche ist? Dennoch macht er keine Vorhaltungen, er lässt seinen Sohn ziehen. Lange schaut er ihm nach und schickt seine Liebe und seinen Segen mit auf dessen Lebensreise. Nach vielen Wochen kehrt der Sohn heim, er ist nicht mehr der, der er bei der Abreise war. Abgemagert, am Ende und mit leeren Händen kehrt er zurück. Wie oft wird der Vater nach seinem Sohn bereits Ausschau gehalten haben, vielleicht sogar täglich? Und dann ist der Tag da und er sieht ihn von ferne. Ohne Groll und Vorhaltungen läuft er ihm mit offenen Armen entgegen, so schnell seine alten Beine ihn noch tragen. Der geschundene und gezeichnete Körper seines Sohnes hindert ihn nicht, er drückt ihn fest an sein Herz. Diese tiefe Vaterliebe überstrahlt alle Vorwürfe und Fehler. Der Sohn ist auf- und angenommen. Ein großes Festmahl mit feierlicher Kleidung bringt die Freude des Vaters über diesen verlorenen und wiedergefundenen Sohn zum Ausdruck.

Offene Arme und Türen

Von dieser bedingungslosen Annahme und Liebe will ich lernen, auch wenn alles „schiefgelaufen“ ist und die Befürchtungen des Vaters sich bewahrheitet haben. Und auch wenn unsere Kinder Wege einschlagen, die wir als Eltern nicht befürworten oder bei denen wir Zweifel haben, will ich sie fürsorglich verabschieden, sie ziehen lassen. Im Gebet befehle ich sie meinem Gott an, halte Ausschau nach ihnen und erkundige mich. Und egal, wie sich ihr Weg und ihre Entscheidung gestalten, möchte ich sie stets aufnehmen. Ohne ein „Ich habe es doch gewusst …“ stets die Türen offenhalten und meine Arme entgegenstrecken.

Wir alle leben täglich von der Vergebung und Annahme unseres himmlischen Vaters. Auch er lässt uns laufen, selbst wenn er wie kein anderer unseren Lebensweg schon lange kennt. Er lässt seine Kinder ziehen, selbst wenn wir gar nicht nach seinem Rat fragen. Gott bleibt ruhig, bedrängt nicht und drängt sich nicht auf. Doch er verliert uns nicht aus seinem Blick. Er ist aufmerksam, wenn wir ihn suchen, und er liebt uns bedingungslos. Mit Freude und tiefer Liebe öffnet er seine Arme und drückt uns an sein Vaterherz.

Dieses Bild will ich mir immer wieder vor Augen halten. Auch wenn mein Herz anders denkt und fühlt, möchte ich ebenso wie der Vater den Weg frei machen. Und egal, wie sich die Kinder entscheiden und welche Erfahrungen sie auf ihrem Lebensweg machen: Die Türen und Arme sind immer geöffnet.

Birgit Ortmüller ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Buchenau. Sie ist als Dozentin an der Hochschule und in der Erwachsenenbildung tätig.

Secondhand am Straßenrand

Kleidung neu zu kaufen ist oft teuer und wenig nachhaltig. Anna Koppri berichtet, wie sie es schafft, auf neue Kleidung zu verzichten.

In den letzten Jahren habe ich mich vermehrt mit meiner Verantwortung für unseren Planeten und meine Mitgeschöpfe beschäftigt. Ich finde, dass uns die Themen „Schöpfung bewahren“ und „unseren Nächsten lieben“ gerade als Christen ganz viel angehen. Jesus sprach vom „Reich Gottes“, das auf der Erde bereits angebrochen ist. Daran möchte ich gerne mitbauen. Mit jeder kleinsten Konsumentscheidung, die ich treffe, entscheide ich auch über das Wohlergehen der Natur und meiner Mitgeschöpfe. Ich trage mit meinem Lebensstil dazu bei, ob die endlichen Ressourcen dieser Erde weiter schonungslos geschröpft, Menschen ausgebeutet und Lebensräume für Tiere zerstört werden. Ich war ganz schön geschockt, als ich erfahren habe, dass etwa 40 Menschen in Entwicklungsländern ausgebeutet werden, um meinen westlichen Lebensstil zu ermöglichen. Das ist fast so, als würde ich 40 Sklaven für mich schuften lassen (https://slaveryfootprint.org). Später habe ich noch gehört, dass nicht nur Näherinnen in Asien meine günstige Kleidung nähen, sondern für die Herstellung eines einzigen T-Shirts ca. 15 Badewannenladungen voll Wasser verbraucht werden. Wow, das ist heftig. Vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Millionen Menschen auf der Welt keinen Zugang zu ausreichend Trinkwasser haben.

Keine Shopping-Queen

Ich bin ehrlich: Ich war noch nie die begeisterte Klamotten-Käuferin. Ich kenne Frauen, die nach einem stressigen Arbeitstag shoppen gehen, um sich zu entspannen. Oder Frauen, die sich freiwillig am Wochenende zum Bummeln verabreden. So war ich noch nie. Kleidung kaufen war für mich immer schon vor allem Stress, wegen viel zu vieler Reize: helles Licht, viele Menschen und viel zu viel Auswahl.

Deshalb fiel es mir nicht sonderlich schwer, als ich vor etwa acht Jahren den Entschluss gefasst habe: „Ich werde nicht mehr dazu beitragen, dass Näherinnen sich 14 Stunden täglich die Finger blutig nähen und trotzdem nicht genug zu essen für ihre Kinder mit nach Hause bringen können. Ich werde auch nicht verantworten, dass zig Tonnen kostbaren Wassers verbraucht werden, weil ich jeden Monat ein neues T-Shirt haben möchte. Ich steige aus diesem System aus und betrete fortan keine Bekleidungsgeschäfte mehr.“

Was war das für eine Befreiung, als ich angefangen habe, mir den Blick in die Schaufenster von H&M und C&A zu sparen, weil ich sie sowieso nie wieder betreten würde. Ich habe das die ersten Jahre auch sehr konsequent durchgehalten, bis auf ungefähr einmal im Jahr, um Unterwäsche zu kaufen.

Ansonsten habe ich in den Zu-verschenken-Boxen gewühlt, die hier in Berlin überall am Straßenrand stehen, und nicht selten neue Lieblingsstücke mit nach Hause genommen. Da bin ich als Großstädterin natürlich verwöhnt. Ab und zu gehe ich auch in ein Secondhand-Geschäft, oder ich stöbere auf diversen Plattformen im Internet (Vinted, eBay Kleinanzeigen etc.). Meine Mutter hat mir eine Nähmaschine geschenkt, und ich habe festgestellt, dass Nähen nun wirklich kein Hexenwerk ist. Mit ein paar einfachen Nähten lässt sich problemlos ein neues Shirt zaubern oder ein altes aufhübschen. Außerdem habe ich mich auf Baby-Pumphosen spezialisiert und jedem neuen Erdenbürger in meinem Umfeld eine genäht.

Tauschen statt kaufen

Inzwischen habe ich selbst zwei dieser neuen Erdenbürger bei mir wohnen, für deren Einkleidung ich zuständig bin. Ich nähe immer noch, wenn es die Zeit zulässt. Allerdings achte ich dabei nicht konsequent darauf, woher der Stoff kommt (Notiz an mich: Das sollte ich tun!). Oft tut es tatsächlich auch eine alte Strickjacke oder ein Pulli, denen ich zu einem neuen Leben als Kinderhose oder Mütze verhelfe. Hier auf dem Markt gibt es ein Tauschmobil. Das ist toll. Man kann dort hinbringen, was man nicht mehr möchte, und findet immer wieder genau die Sachen für die Kinder, die man gerade braucht. In der Kita habe ich eine Tauschbox ins Leben gerufen, deren Reste ich entweder zum Tauschmobil oder in den Altkleidercontainer bringe.

Ich bin beim Einkaufen inzwischen nicht mehr ganz so dogmatisch, sondern genehmige es mir manchmal sogar, einen der „verbotenen“ Läden zu betreten, um mir auch mal ein neues Kleidungsstück zu gönnen. Am liebsten natürlich Fairtrade, doch immer klappt das nicht.

Und dann gibt es ja auch noch diverse Freundinnen, die regelmäßig ihre Kleiderschränke aussortieren und mir mitbringen, was mir gefallen könnte. Oder jemand organisiert eine Kleidertauschparty. Ich genieße es selbst total, wenn ich mit den heiß geliebten Klamöttchen, aus denen meine Kinder herausgewachsen sind, einer Freundin oder Cousine eine Freude machen und ihr Kindlein dann darin bewundern kann. Es ist also nicht nur wesentlich ressourcenschonender, wenig neue Kleidung zu kaufen, sondern macht auch glücklich, entlastet das Konto und fördert Gemeinschaft.

Noch finden meine Kids es total cool, mit mir in den Kisten am Wegesrand oder beim Tauschmobil zu wühlen und sich etwas auszusuchen. Ich hoffe natürlich, das hält noch eine Weile an. Doch ich mache mir keine Illusionen, dass nicht auch sie in den nächsten Jahren angesagte neue Sneakers und Shirts mit den richtigen Markennamen haben wollen. Ich werde ihnen dann erklären, weshalb ich ihnen die gern, allerdings zum Großteil secondhand besorge. Und auch, wie sie ihren Freunden klarmachen können, weshalb das wesentlich cooler ist, als neu zu kaufen.

Anna Koppri arbeitet für die Berliner Stadtmission, wo monatlich mehrere Tonnen Altkleider sinnvoll umverteilt oder upgecycelt werden.