Ein Läufer an der Startlinie; Symbolbild: Getty Images / Rudi Silva / Getty Images

Startbereit für Neues

Durch einen Besuch bei Amazon hat Marcus Beier wichtige Einsichten gewonnen – und dabei geht es nicht um Bücher oder Business …

Als ich vor gut vier Jahren in den USA war, hatte ich das Glück, über Vitamin B eine kleine Führung im Amazon-Hauptgebäude in Seattle zu bekommen. Das Hochhaus, das ich mir ansehen durfte, war das sogenannte „Day-One-Building“ („Tag-Eins-Gebäude“). Es spiegelt die Mentalität von Amazon wider. Die Mitarbeiterin dort erklärte mir das so: Wenn man in einer neuen Firma eine Arbeitsstelle anfängt, ist alles neu, aufregend, man sieht alles mit einem neuen, frischen Blick. Oft erkennt man dadurch schneller Potenziale für Verbesserungen, nimmt Fehler besser wahr und entdeckt neue Chancen und Lösungen. Nichts ist wie bisher. Das eröffnet einen Blick in ungeahnte Möglichkeiten – in das Reich der Veränderung, der Potenziale und der großen Ideen.

„Alte Hasen“ sehen manchmal eher die Begrenzungen und das, was nicht geht, aber als „Neuling“ bemerkt man nicht die Hindernisse, sondern das, was geht. Das ist ein Blick in die Schatzkammer der Möglichkeiten. Für eine Firma, die sich Innovation zum Markenzeichen auserkoren hat, ist ein solches Denkmuster überaus produktiv, wenn nicht sogar unabdingbar. Aber nicht nur dort kann ein solches Denken sehr hilfreich sein. Es kann auch im „normalen“ Leben helfen, Dinge neu zu betrachten, die Uhren auf null zu stellen, um die Welt zu verstehen und auch dem Unausweichlichen besser zu begegnen: der Veränderung.

Kinder als Vorbild

Ich persönlich tue mich oft genug schwer mit Veränderung. Vieles ist doch gar nicht schlecht. Warum muss man etwas ändern, was gut funktioniert? Aber die Welt war noch nie vollkommen, und sie wird es wohl auch nicht. Daher ist Veränderung etwas, was uns immer in dem Wunsch nach Verbesserung begleiten wird. In jedem Tag liegt Potenzial dafür.

Wie das geht, lernen wir – faszinierenderweise – an kleinen Kindern. Wenn sie noch nicht zur Schule gehen und noch kein richtiges Gefühl für Zeiten und Tage haben, noch nicht planen, was morgen kommt und auch nicht zuordnen können, was gestern, vorgestern, später oder morgen genau ist, leben sie absolut im Moment. Vor Kurzem hatte ich diese Unterhaltung mit unserem Zweijährigen: Joas: „Papa, ich will das heute machen!“ Ich: „Ja, wir machen das später am Nachmittag.“ Joas: „Nein, heute!“

Das fand ich sehr lustig, und mir wurde bewusst, wie sehr er im Moment lebt. Er weiß nicht, was ich meine, wenn ich sage: „Morgen fahren wir zu …“ Er plant nicht, er schaut nicht auf die morgige Erfahrung und denkt nicht groß an gestern. Für ihn zählt: „Komm, wir gehen jetzt zum Bäcker!“ Und dann ist er glücklich.

Als mir das auffiel, wurde mir auch klar, dass Kinder wie er ständig die Welt neu entdecken. Natürlich kennen sie ihr Umfeld und sie brauchen Stabilität. Aber innerhalb dieses Rahmens entdecken sie die Welt jeden Tag neu. Jeder Tag ist besonders, jeder Tag hat Potenzial, an jedem Tag „geht was“. Man hört kaum: „Ach ne, das hab ich gestern probiert. War blöd!“ Es zählt der Moment. Und wenn es gestern nicht ging, kann es doch heute klappen. Warum auch nicht?

Nur ein Tag

Bei aller Stabilität scheint die Tatsache, jeden Tag etwas Neues zu erleben, das natürliche Lebensgefühl für Kinder zu sein. Das finde ich inspirierend! Und in gewisser Weise scheint auch hier zuzutreffen, was Jesus über den kindlichen Glauben sagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder …“ Und seien wir mal ehrlich: Manchmal tut uns ein frischer, unverbrauchter, kindlicher Blick auf die Welt einfach gut, oder? Der Chef war gestern stinkig – na und? Heute ist ein neuer Tag! Darin findet sich eben auch die Mentalität des ersten Tages wieder. Die Welt ist voller Möglichkeiten – machen wir etwas draus! An dieser Mentalität und dem kindlichen Vorbild sehe ich noch weitere Möglichkeiten zum Andocken. Der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway (1899-1961) schreibt in dem Buch „Whom the Bell Tolls“ (1940): „Heute ist nur ein Tag unter all den Tagen, die es jemals geben wird. Aber was in all den Tagen, die noch kommen werden, passieren wird, kann davon abhängen, was du heute tust.“ Mich inspiriert dieser Satz – insbesondere in Verbindung mit der „Tag-Eins-Mentalität“ – zu einem bewussten und verantwortungsvollen Leben. Und zu einem Leben, das Wünsche, Chancen und Möglichkeiten auf vernünftige Weise mit der Wirklichkeit in Beziehung setzt und sowohl kurzfristige Wünsche als auch langfristige Entwicklungen ausgewogen zusammendenkt. Das ist natürlich ein Ideal – und eines, von dem ich selbst ein gutes Stück entfernt bin. Dennoch ist es mir ein Ansporn, insbesondere vor dem Hintergrund der Veränderungen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt.

Grundlagen für das Morgen schaffen

Wie gesagt bin ich selbst nicht gerade ein Fan von Veränderungen. Ich kann sie nicht verhindern, aber es kann entscheidend sein, wie ich mich dazu verhalte. Will ich mich der Veränderung widersetzen? Unmöglich. Das geht vielleicht eine Weile gut, aber dann bleibt mir letztlich nur, mich den Veränderungen irgendwie anzupassen und mich bestmöglich damit zu arrangieren und mich durchzulavieren. Wie wäre es stattdessen mit einer Prise „Tag-Eins-Mentalität“? Und dazu das Bewusstsein, dass ich heute die Grundlagen für das Morgen schaffen kann.

Das Leben ist voller Überraschungen und immer wieder tun sich unverhofft Gelegenheiten, Chancen und auch teils schwere Herausforderungen auf. Nun fragt sich, wie wir damit umgehen. Natürlich kann man durch das Leben gehen wie Indiana Jones – ständig auf der Suche nach Schätzen, ständig auf der Jagd nach der „Goldenen Ananas“, immer dem eigenen Vorteil folgen, immer auf der Lauer, doch noch das beste Schnäppchen abzugreifen. Persönlich bin ich davon auch kein Fan. Das wäre mir auch viel zu anstrengend, weil eine dauerhafte Lauerstellung nicht unbedingt entspannend ist und nicht dazu führt, den Moment genießen zu können.

Man muss jedoch nicht auf Dauerjagd sein und kann trotzdem mit einem wachen Blick durch das Leben gehen. Jeder Tag kann das Leben verändern. Aber erkenne ich das Veränderungspotenzial überhaupt? Nehme ich eine Chance wahr, wenn sie auf einem Silbertablett vor meiner Nase liegt? Ich muss wissen, was ich langfristig möchte, was meine Ziele sind – persönlich, beruflich, für uns als Familie, als Gemeinde etc. Und dann brauche ich Offenheit, neue Wege zu gehen – auch auf die Gefahr hin, dass es nicht so klappt. Manchmal ist das Nichtstun schlimmer, als etwas zu tun. Daher glaube ich, dass es wichtig ist, langfristige Wünsche im Blick zu behalten und gleichzeitig jetzt schon zu bedenken, wo Veränderungspotenziale liegen, die vielleicht erst später wirklich greifen.

Das Leben in die Hand nehmen

Für mich persönlich ergibt sich daraus eine entscheidende Wahl: Lasse ich die Dinge geschehen, renne aber letztlich eher den Veränderungen hinterher, die „einfach passieren“? Oder gestalte ich bewusst mein Leben und habe selbst (so gut es eben geht) die Veränderungsprozesse in der Hand? Selbstverständlich geht das nicht immer. Unfälle, Katastrophen, gesellschaftliche Prozesse können jederzeit passieren und brechen über uns herein. Dann müssen wir reagieren und sind nicht immer vorbereitet. Aber in vielen anderen Dingen haben wir selbst in der Hand, wie wir das gestalten wollen. Und ich glaube, dass wir da mehr Gestaltungsspielräume haben, als uns manchmal bewusst ist.

Unsere Kinder werden größer. Wir können diesen Prozess als Eltern begleiten und diese Zeit für uns und die Kinder gestalten. Auch für uns als Paar können wir rechtzeitig Veränderungsprozesse einleiten, mit denen wir uns zum Beispiel darauf vorbereiten können, dass es eine Zeit nach dem Auszug der Kinder gibt. Wie oft hört man von Paaren, dass sie sich „auseinandergelebt“ haben, was ich immer sehr traurig finde. Mir ist das immer eine Erinnerung, gegenzusteuern und die Ehe entsprechend zu gestalten. Darin liegt eine große Chance, aber auch eine Herausforderung. Möchte man sich eingestehen, dass Dinge vielleicht nicht so gut laufen, um dann etwas zu verändern? Aber genau das sollten wir tun. Wir können immer wieder schauen, ob alles gut läuft oder ob man nachjustieren sollte – sei es im privaten Bereich oder im Job oder in der Gemeinde. Ich darf wissen, dass Gott in allen Veränderungen bei mir ist, sodass ich keine Angst davor haben muss. Ihn kann ich um Rat fragen und ihm meine Sorgen anvertrauen.

Auch, wenn ich kein Freund von Veränderung bin, motiviert mich der Gedanke, selbst zu gestalten und hin und wieder einen Blick auf das Leben zu werfen, als wäre es mein erster Tag.

 

MARCUS BEIER hatte vor Kurzem seinen ersten Tag als Redakteur bei Family und FamilyNEXT. Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt er in Wiesloch.