Der Junge mit der Mundharmonika
Christof Matthias bläst sich aus dem Alltag.
Es war immer wieder schön an Omas Kaffeetisch. Ab und zu holte sie bei diesen Gelegenheiten für uns Enkelkinder die Mundharmonika heraus, spielte alte Volkslieder und tanzte dabei mit uns um den Tisch. Bis heute erinnere ich mich gern an diese Momente, den besonderen Omageruch im Wohnzimmer und den einzigartigen Klang der Harmonika. 45 Jahre später fand ich unter meinen Weihnachtsgeschenken eine Mundharmonika. Meine Frau hatte gut zugehört, als ich die schönen Begebenheiten aus meiner Kindheit erzählte. Was für eine Freude! Natürlich waren die versammelte Familie und die Gäste an den kommenden Tagen dann mein Publikum und mussten sich meine ersten Versuche anhören. Inzwischen sind noch einmal einige Jahre vergangen. Allerlei Verwandte fanden die Idee gut, mir eine Mundharmonika zu schenken, und aus dem einen Exemplar ist eine Sammlung von 20 verschiedenen geworden. Für jede Dur die passende, manche mit eher klassischem Klang, andere gehen in die Blues-Richtung. Meine ersten Bemühungen waren eher laienhaft. Aber durch fleißiges Üben wurden der falsch angespielten Töne immer weniger. Irgendwann habe ich den Mut gefasst, den Setkasten zu einem unserer Seminare mitzunehmen und beim gemeinsamen Singen im Hintergrund leise zu begleiten. Glücklicherweise waren die Reaktionen fast immer sehr ermutigend! Zumindest blieb ich dran. Einmal meinte ein Teilnehmer, das Beste am Lobpreis sei die Mundharmonika gewesen. Das war natürlich ein persönliches Highlight für mich. Vielleicht hatte ich auch bei ihm eine schöne Erinnerung wachgerufen. Die Mundharmonika ist so schön klein und handlich, sie passt in jede Hosentasche und es ist nur ein Griff, um sie über die Lippen gleiten zu lassen und ein paar Töne zu erzeugen. Schon das allein reicht für mich, um meinen Alltag reicher zu machen und innerlich zur Ruhe zu kommen. In diesen Augenblicken kann ich in gutem Sinne alles andere aus den Augen verlieren und bin ganz bei mir. Im Alltag fange ich oft an zu spielen, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Verlieren kann ich mich, wenn ich über einen Onlinekanal Mundharmonikamusik laufen lasse und dann selber dazu die Luft durch die Membranen presse. „Banks of Ohio“ ist gerade mein Hit. Dann ist es weniger ruhig, eher emotional heftig, der Hammer und die Computerboxen fangen an zu klirren. Ich muss dann auch mal ins Treppenhaus gehen, damit meiner Frau das nicht entgeht. Wir Männer (zumindest für mich trifft das zu) sind manchmal eher verkopft, rational und gefühlsverarmt. Mit einer großen Welle fühle ich mich dann mitgerissen, der Ratio bleibt zurück. Es braucht danach ein wenig, um mich am Schreibtisch wieder auf die Korrespondenz einzustimmen. Ich wünschte jedem Mann, dass er seine Welle findet, von der er sich ab und zu mittragen lässt. Ich bin nach wie vor kein Virtuose, meine Mucke sehe ich eher als Hausmannskost. Aber mir tut es gut.
Christof Matthias ist freiberuflicher Supervisor und Regionalleiter von Team.F, Vater von drei leiblichen Söhnen, einem mehrfach behinderten Pflegesohn, zwei Schwiegertöchtern und Opa von zwei Enkeltöchtern.
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