Einzelkind: Sind wir eine „richtige Familie“?
Familien mit einem Einzelkind fühlen sich oft als Eltern zweiter Klasse. Dabei sind viele Klischees schon seit langem widerlegt. Familienberaterin Anna Hofer erklärt, warum sich Familien mit Einzelkind nicht rechtfertigen müssen.
Familien mit zwei Kindern bilden die größte Gruppe unter den Familien mit Kindern und sind maßgeblich für die Wahrnehmung in unserer Gesellschaft. Obwohl Familien mit einem Kind die zweitgrößte Gruppe darstellen, halten sich negative Klischees zu Einzelkindern weiterhin sehr hartnäckig. Dazu zählt zum Beispiel, dass Einzelkinder weniger sozial seien oder sich egoistischer verhalten, was damit erklärt wird, dass sie ohne Geschwister nicht richtig teilen lernen könnten. Auch werden Einzelkind-Eltern von der Annahme verunsichert, dass ihre Kinder einsam seien, sowohl in jungen Jahren als auch im späteren Erwachsenenleben in Bezug auf die Pflege oder Trauer um ihre Eltern.
Gut eingebunden
Diese Klischees lassen sich jedoch nicht belegen. Tatsächlich sind die Vorurteile gegenüber Einzelkindern schon seit den 1980er-Jahren widerlegt. Denn Einzelkinder wachsen in vielen Bereichen gar nicht so viel anders auf als Kinder mit Geschwistern. Sie haben ab dem frühen Kleinkindalter die Möglichkeit, mit anderen Kindern in der Kita oder bei einer Tagesmutter zu spielen. Sie verbringen Zeit gemeinsam mit Gleichaltrigen auf dem Spielplatz oder in Eltern-Kind-Kursen.
Ihre sozialen Fähigkeiten scheinen in einem Punkt sogar stärker ausgeprägt zu sein: Sie wissen um die Bedeutung von Freundschaft und zeigen hier ein hohes Maß an Geduld, Nachsicht und die Fähigkeit zu Kompromissen. Auch wenn wir uns heute mit unseren kleinen Kindern nicht vorstellen können, dass sie eines Tages erwachsen und selbstständig sind, dürfen wir uns darauf verlassen, dass sie gut eingebunden sein werden. Nämlich in das soziale Netzwerk, dass sie sich aus Partnern, Freundinnen und Kollegen geschaffen haben. Sie werden nicht allein sein, wenn ihre Eltern sterben.
Eine richtige Familie!
Leider fühlen sich Familien mit einem Kind nicht selten als Eltern zweiter Klasse. Sie sind die, die noch keine richtige Familie sind. Diejenigen, die es sich mit „nur“ einem Kind leicht machen. Es sind die, die egoistisch sind, weil sie ihrem Kind kein Geschwister schenken. Familie, Freunde, Arbeitskollegen oder Bekannte gehen häufig davon aus, dass auf ein erstes Kind auf jeden Fall ein weiteres folgen wird – und zwar so selbstverständlich, wie auf das Einatmen ein Ausatmen folgt.
Wir müssen uns nicht davon verunsichern lassen, wenn unser Gegenüber überrascht darauf reagiert, dass wir uns als Familie mit einem Kind komplett fühlen. Es ist jedoch mehr als verständlich, dass sich Eltern davon irritieren lassen. In einem solchen Fall hilft es, für sich klar zu wissen, warum man sich für dieses Familienmodell entschieden hat.
Niemand muss sich rechtfertigen
Die guten Gründe für mehr als ein Kind liegen zum Beispiel nicht mehr so selbstverständlich auf der Hand, wie es in der Vergangenheit mal war. Unser modernes Leben stellt sehr hohe Anforderungen an Familien. Außerdem gibt es zahlreiche individuelle Gründe, bei einem Kind zu bleiben – für keinen davon muss man sich rechtfertigen!
Wir dürfen uns also nicht nur die Frage stellen, was besser für unser Kind ist, sondern sollten uns fragen, was sich gut für unsere Familie anfühlt. Durch diese Frage wird deutlich, was es für alle Familienmitglieder bedeuten würde, wenn ein weiteres Kind hinzukommt. Und diese Frage ist entscheidend, damit wir uns bewusst machen, was wir als Eltern wollen.
Anna Hofer ist Familienberaterin und Autorin des Buches „Mein fabelhaftes Einzelkind. Warum Kinder auch ohne Geschwister glücklich groß werden“ (Kösel).








