Familie Strobel, Foto: Privat

Kinderwunsch: Nach drei Fehlgeburten kämpft sich Julia zurück ins Leben

Julia Strobels Traum vom Familienglück zerschlägt sich immer wieder. Heute sagt sie: „Wir leben unser bestes Leben.“

Wir haben ein Kissen zu Hause, ein Spontankauf vor vielen Jahren. Mein Mann und ich waren frisch verheiratet, der Wunsch nach einem Kind wurde zunehmend stärker. Als ich das Kissen im Schaufenster erblickte, hat dessen Aufdruck der diffusen Sehnsucht in mir einen Namen gegeben: „Nestwärme.“ Es hat meine Vorstellung vom Kinderkriegen auf den Punkt gebracht als Ausdruck von Glück, Geborgenheit und Nähe, von Heimat und Zuhause.

Voller Zuversicht sind wir schon kurze Zeit später unser „Projekt Nestwärme“ angegangen. Doch statt des ersehnten Familienglücks durchlebten wir Monat für Monat bittere Enttäuschung. Anfangs waren wir noch voller Zuversicht. Wir beteten und glaubten fest daran, dass sich schon bald ein kleines Wunder auf den Weg zu uns machen würde. Zunehmend wurden wir allerdings von Gefühlen wie Wut, Angst und Ratlosigkeit geflutet. Da, wo vorher Vorfreude und Hoffnung waren, schlich sich immer mehr ein Gefühl von innerer Distanz und Verzweiflung ein.

Drei Fehlgeburten innerhalb von drei Jahren

Drei Jahre und drei Fehlgeburten später hatte ich spürbar die Kehrseite meiner Vorstellung von „Nestwärme“ kennengelernt: Ich hatte Verlust und Schmerz, Loslassen und Leere dort erfahren, wo eigentlich Geborgenheit und Liebe gelebt werden sollten. Das Ringen um einen kleinen Menschen in unserer Mitte hat meinen Mann und mich schleichend einsam werden lassen in unserer Zweisamkeit. Wir mussten uns immer wieder bewusst entscheiden, Nähe zu suchen, um uns als Paar nicht zu verlieren. Schöne Momente zu erschaffen und miteinander zu teilen, gemeinsam zu lachen, neue Pläne zu entwickeln, nach anderen Perspektiven Ausschau zu halten – das hat uns geholfen, am anderen dranzubleiben und zu erkennen: Ein Gefühl von Nestwärme entsteht nicht nur dann, wenn aus einem Paar eine Familie wird. Aber diese Erkenntnis war hart.

Als wir am absoluten Tiefpunkt waren, hat Gott uns unser erstes Wunder geschenkt. Da war die Entscheidung, weiter zu vertrauen, fast schon schmerzhafter als das einsame Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Als die Ärztin uns verkündete: „Sie sind dieses Mal auf einem guten Weg, es könnte besser nicht sein“, hat es mich innerlich fast zerrissen, die Verbundenheit zu diesem kleinen Wesen zuzulassen. Wenn man so lange wie wir an einem Ort war, an dem Nähe und Hoffnung Synonyme für Verletzlichkeit und Verlust waren, dann muss man Bindungsbereitschaft und Vertrauen neu lernen.

Die Tochter ist da

Unsere Tochter wurde geboren und wir waren im Glücksrausch: gelebte Nestwärme in aller Intensität. Plötzlich waren die neuen Synonyme für Nähe: Dankbarkeit, Verliebtheit und Körperkontakt. Jeden Tag wuchs unsere Bindung zueinander ein kleines Stück mehr. Bis zur totalen Erschöpfung und darüber hinaus.

Dies waren zwei weitere Mosaiksteine von Nähe für mich: Auf der einen Seite wollte ich meinem Kind ein Gefühl von Geborgenheit schenken, eine sichere Bindung als Motor erschaffen, der die gesunde Entwicklung am Laufen hält. Auf der anderen Seite war die Erschöpfung manchmal so groß, dass ich am Rande der Verzweiflung war. Und erkennen durfte: Familie ist mehr als ein reiner „Nähe-Spender“. Familie zu sein bedeutet auch, eine Balance zu finden zwischen Gemeinschaft und eigenen Freiräumen. Die Grenzen auszuloten zwischen dem Wir und dem Ich. Nähe zu leben, heißt, Veränderungen anzunehmen und zu gestalten. Zu empfangen und loszulassen. Manchmal in kleinen Schritten und manchmal in überwältigend großen.

Eine neue Familie für die Pflegetochter

Unsere Familie ist in den folgenden Jahren auf unterschiedliche Weise gewachsen. Nach unserer Tochter wurden wir mit zwei weiteren leiblichen Kindern gesegnet. Wir haben aber auch weitere Verluste durchlebt. Einer davon war besonders hart: Wir mussten unser erstes Pflegekind aus unserer Familie verabschieden: unser Babymädchen, mit dem wir innige Momente der Nähe leben durften. Die Bindung und das Vertrauen, das zwischen uns und unserer Pflegetochter gewachsen war, wurden jäh durchtrennt. Wir hatten sie aus einer Notsituation heraus bei uns aufgenommen. Das Jugendamt hat nach einigen Monaten entschieden, dass der Altersabstand zwischen unserem Jüngsten und der Kleinen mit 15 Monaten auf Dauer zu gering war. Sie wurde innerhalb von zwei Wochen in eine andere Pflegefamilie vermittelt. Sie gehen zu lassen, hat uns zutiefst erschüttert. Danach waren wir monatelang haltlos, haben mitten im Leben erneut mit diesem ohnmächtigen Gefühl der Leere zu kämpfen gehabt.

Unsere Erkenntnis war: Wer Nähe zulässt, macht sich verwundbar. Es hat eine Weile gedauert, bis wir sagen konnten: Das war es wert. Unsere Verzweiflung über den Abschied sollte uns nicht daran hindern, dankbar zu sein für das, was wir erleben durften. Es war ein Prozess, den wir mit vielen Tränen und Gebeten durchgestanden haben. Zweieinhalb Jahre später ist unser zweites Pflegekind, wieder ein Babymädchen, bei uns eingezogen. Sehr eng begleitet, mit vielen Worten der Zuversicht vonseiten unseres neuen Jugendamts und von Familie und Freunden.

Voller Vertrauen und Verletzlichkeit

Unsere Erfahrungen mit den zwei Seiten der Nähe haben bei jedem von uns Spuren hinterlassen. Und doch können wir voller Überzeugung sagen: Wir leben gerade unser bestes Leben. Es hat uns vier wunderbare Kinder auf unterschiedlichen Wegen geschenkt. Den Balanceakt von Nähe und Distanz, Festhalten und Loslassen, Vertrauen und Verletzlichkeit, von erfüllten, übertroffenen und zerbrochenen Erwartungen inklusive.

Der Stoff der Kissenhülle ist nach fünfzehn Jahren rissig geworden, die Farben sind verblasst. Auch mein inneres Bild von „Nestwärme“ hat über die Jahre Blessuren davongetragen und sich so manchem Wandel unterzogen. Vor Kurzem habe ich in einem kleinen Laden ein Kissen mit der Aufschrift „Herzensangelegenheit“ erblickt. Unnötig zu erwähnen, dass ich es mitgenommen habe.

Julia Strobel ist Diplom-Pädagogin und lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in der Nähe von Mainz.