Klosterbier im Plattenbau: Wie junge Familien in Amsterdam ein modernes Kloster bauen

Es gibt Orte, die sind schön und schrecklich zugleich. So wie das Amsterdamer Viertel Bijlmermeer. Ein Viertel voller Geschichten und Mythen. Wer dorthin zieht, muss einen guten Grund haben. So wie die Familien, die in eines der Hochhäuser gezogen sind, um ein modernes Kloster zu errichten. Das Porträt einer besonderen Gemeinschaft an einem besonderen Ort.

Der See und die Stadt

Das Wasser war eine ständige Bedrohung. Als wieder ein mal ein Tropfen das Fass zum Überlaufen brachte und die Deiche dem Druck nicht mehr standhielten, legte man den See trocken. Doch der bahnte sich immer wieder seinen Weg zurück, Jahrhundertelang. Wegen drohender Überflutungen wollte niemand dort wohnen. Der nasse Boden war für Bauern nutzlos. Schließlich schüttete man eine meterdicke Sandschicht über die traurige Landschaft und gründete ein neues Stadtviertel von Amsterdam, das „Bijlmermeer“.

Vor 50 Jahren kamen die ersten Bewohner. Sie sollten den „modernen Menschen“ in der „Stadt der Zukunft“ verkörpern. Plattenbauten, die wie Honigwaben in einer grünen Wüste lagen, streng getrennt von Arbeitsplätzen, Einkaufsmöglichkeiten und Autoverkehr. Wohnen im Naherholungsgebiet, das hatte der Architekt sich ausgemalt. Doch wer wollte ernsthaft aus dem zehnten Stock nach unten laufen, um stundenlang seine Füße im Teich baumeln zu lassen und unter den Pappeln im Schatten zu liegen? Außer dem: Die parkähnlichen Anlagen waren so groß, dass die Landschaftsgärtner mit der Pflege nicht hinterher kamen. Nach Feierabend verzogen sich die Bewohner in die eigene Wohnung oder blieben im Zentrum von Amsterdam. Bijlmer, wie der Stadtteil auch genannt wird, verkam zur Geisterstadt. Erst nur nach Sonnenuntergang, bald auch tagsüber. Wer konnte, zog weg. Es blieben die Drogen, die Kriminalität, der Verfall.

Der Baum und das Flugzeug

Wie viele Menschen am 4. Oktober 1992 starben, ist nie geklärt worden. 43 Todesopfer fand man, aber vielleicht lag unter dem Schutt noch ein Mensch ohne Aufenthaltserlaubnis begraben. Bijlmer war ein beliebter Zufluchtsort für Leute, die anonym bleiben wollten. In der Abenddämmerung stürzte ein israelisches Frachtflugzeug über dem Viertel ab. Wie ein großer Finger bohrte es sich vertikal durch ein Hochhaus und machte es buchstäblich dem Erdboden gleich. Chaos brach aus. Während Einsatzkräfte versuchten, das zu retten, was nicht mehr da war, kam es zu panikartigen Ausschreitungen und Plünderungen. Zwanzig geheimnisvolle Männer in weißen Anzügen ließen Beweismaterial verschwinden. Anwohner klagten über Gesundheitsbeschwerden, die auf Radioaktivität zurückgeführt wurden. Über die Ladung des Frachtflugzeugs wird bis heute spekuliert. Heute erinnert „der Baum, der alles gesehen hat“ an das Unglück. Anwohner haben in seinem Schatten selbstgemachte Mosaike in den Grund gelegt. Auf einer Mauer neben dem Baum liest man Zitate von Augenzeugen: „Eine schwarze Wolke mit Sternen drin“ oder „Ich sah sie eine Woche vor dem Unglück noch auf dem Spielplatz“.

Auch 25 Jahre nach dem Unglück bleiben Spaziergänger dort stehen und werden still. Einmal im Jahr fliegen keine Flugzeuge über Bijlmer und müssen einen Umweg nehmen, um Amsterdam-Schiphol zu erreichen. Neben dem Denkmal liegt eine dreckige Matratze. Wahrscheinlich hat ein Obdachloser sie dort liegen gelassen.

Noch immer macht Bandenkriminalität das Viertel unsicher – Anwohner erzählen beim Spaziergang von bewaffneten Überfällen, Liquidationen und Razzien und weisen die Tatorte wie Sehenswürdigkeiten an. Gleichzeitig gibt es auch positive Entwicklungen. Über 150 christliche Gemeinschaften sorgen für Licht im Dunkel. Unter oft ärmlichen Umständen versammeln sie sich, auch in Kellern und Parkhäusern. Dort empfangen sie Junkies, vermitteln bei häuslicher Gewalt, beten für die Nöte in ihrer Umgebung. Die Polizei weiß diese Nachbarschaftshilfe zu schätzen, die Christen unkompliziert und ohne großes Publikum leisten. Etwas mehr Aufmerksamkeit bekommt ein echtes Kloster, das seit zwei Jahren hier angesiedelt ist.

Die Burg und das Kloster

Das „Kleiklooster“ liegt in der „Kleiburg“, einem Hochhaus, das direkt neben der Absturzstelle des Flugzeugs steht. Es überstand das Unglück unbeschadet, doch der Zahn der Zeit nagte so sehr am Beton, dass der Abriss drohte. Bis ein Team von Architekten den hässlichen Riesen für einen symbolischen Euro kaufte. Die Fassade wurde renoviert und die Wohnungen günstig verkauft. Einzige Auflage an die Käufer: die Wohnungen innerhalb eines Jahres wieder bewohnbar machen. Wer wollte, durfte mehrere Einheiten neben- oder übereinander aufkaufen, die Zwischenwände rausbrechen und Treppen bauen.

Das Interesse übertraf alle Erwartungen. Das Hochhaus war vor dem Abriss gerettet und verwandelte sich in ein echtes Schmuckstück. Kleines Sahnehäubchen auf der Erfolgsstory: Nach der Oper in Oslo, dem Neuen Museum in Berlin und der Nationalbibliothek in Paris ging der Mies-van-der-Rohe-Preis, immerhin der wichtigste europäische Architektenpreis, 2017 an die unscheinbare Kleiburg in Bijlmer.

Der Balkon und das Bier

Auf dem sechzig Meter langen Balkon des Kleikloosters wuchert ein provisorischer Gemüsegarten. Kinderspielzeug liegt wild verstreut herum. Acht erwachsene Bewohner versuchen, Farbe ins Grau zu bringen – sechs Kinder helfen Ihnen erfolgreich dabei. Seit sie die Trennwände auf dem Balkon rausgebrochen haben, ist der Zutritt zum Alltag der Klosterbewohner nur eine Terrassentür entfernt. Ihre Privatzimmer kuscheln sich an ein gemeinsames Wohn- und Esszimmer, eine Kapelle und drei Gästezimmer, die zurzeit als Notunterkunft fungieren.

Eine der hier lebenden Frauen sitzt mit ihrer Sozialarbeiterin am riesigen Esstisch und redet beschwörend auf sie ein, ihre beiden kleinen Kinder turnen gelangweilt auf dem Sofa rum. Ein „Geburtskollektiv“ gesellt sich zu ihnen: Hebammen sprechen mit ein paar Frauen aus der Nachbarschaft über Tragetücher, Probleme beim Stillen, Erziehungsfragen. Andere Organisationen bieten Sprachunterricht und Hausaufgabenhilfe an, klären über gesunde Ernährung auf oder über den Ausstieg aus der Prostitution. Im noch leeren Erdgeschoss wird bald ein kleiner Laden eingerichtet, in dem Bauern aus dem Umland ihre Waren anbieten können. Bisher stehen hier nur erstaunlich viele Kisten mit Bier.

Bier?

Tatsächlich braut man hier Klosterbier. So wie die Augustiner, Paulaner, Franziskaner in Deutschland. Jetzt wird auch in Amsterdam ganz traditionell Lebensfreude und Betriebswirtschaft zusammengebracht – irgendwie muss sich das Kleiklooster ja finanzieren. Der Geschäftsführer Martijn ist ehemaliger Pastor, der aus Leidenschaft für das Handwerk seinen alten Job an den Nagel gehängt hat. Der Braumeister Thomas ist Liebhaber, der schon lange in seiner kleinen Küche Bier braute – jeweils 200 Liter für Festivalbesuche mit seinen Freunden. Inzwischen ist sein Hobby zu einer professionellen und erfolgreichen Angelegenheit geworden. Zwar wirkt die kleine provisorische Lagerhalle mit Braukesseln und Lokal ein bisschen verloren zwischen den Hochhäusern. Doch die Bewohner von Bijlmer sind stolz auf „ihr“ Bier. In der Mittagspause und nach Feierabend ist die Brauerei gut besucht. Aus dem Zapfhahn an der Theke fließen die Sorten „Licht“ und „Finsternis“ zusammen – wenn man zu tief ins Glas schaut, kann man die Schöpfungsgeschichte nachlesen. Und man schmeckt die Atmosphäre dieses abschreckenden und anziehenden Viertels.

Das Leid und der Trost

Auch in dem Kleiklooster vermischen sich viele Lebensentwürfe. Die Singles sind nicht alleinstehend. Die Kinderlosen kümmern sich mit um den Nachwuchs der anderen. Zölibat und Mönchskutten kennt man hier nicht. Abt Johannes kichert beim Gedanken daran. Auch ein Gelübde zur lebenslangen Bindung ist noch nicht gesprochen worden. Was macht das Kloster dann zum Kloster? Gottesdienst, Gemeinschaft und Gastfreundschaft. Leute aus der Nachbarschaft kommen hierher und finden Hilfe – manchmal nur, weil sie ihren Schlüssel abgeben wollen, um nicht auf den Monteur warten zu müssen. Manchmal aber auch, weil sie Schutz vor der Welt da draußen suchen, die es nicht gut mit ihnen meint. Gemeinsame Gespräche, Mahlzeiten und Gebete helfen ihnen genauso viel wie den Klosterbewohnern selbst. Denn auch sie sind in gewisser Hinsicht Bedürftige. So wie Johannes, der eine Lebensform suchte, in der er seinen Glauben leben konnte, oder besser gesagt musste. Denn als introvertierter Mensch war er nicht automatisch gastfreundlich, und seine Gebete gingen oft im Lärm seines eigenen Lebens unter. Also erschuf er sich mit dem Kloster einen Kontext, der ihm half, so wie Jesus in enger Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zu leben.

Auch für Jefta ist das Kloster zu einem Zufluchtsort geworden. Er weist auf eine brachliegende Wiese, auf der bis vor kurzem ein Parkhaus stand. Mehr als 100 Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis hausten hier unter erbärmlichen Zuständen. Zusammen mit Freunden wusch er ihre Wäsche, brachte sie zu Ärzten, suchte nach besseren Wohnräumen. Jetzt, da das Parkhaus weg ist, sitzt er auf dem Klosterbalkon und starrt in die Bäume, in denen der Wind rauscht. Neben ihm steht eine Kerze von Amnesty International, die bis zum Stumpf runtergebrannt ist. Jeftas Bedürfnis nach Gottes Hilfe brennt währenddessen mächtiger denn je. In der Kapelle des Klosters hat jemand die Tageslosung aus dem 2. Korintherbrief auf eine Tafel geschrieben: „Gepriesen sei Gott, der uns in all unserer Not tröstet. Wie uns nämlich die Leiden Christi überreich zuteil geworden sind, so wird uns durch Christus auch überreicher Trost zuteil.“

Das Fenster ist mit Holzbrettern zugenagelt. Nur ein ausgefrästes Kreuz ermöglicht den Blick nach draußen: auf die Bierbrauerei; auf die leerstehenden Gebäude, in denen Gottesdienste abgehalten werden; auf den Baum, der alles gesehen hat auf den zugeschütteten See. Hoffnung schimmert aus der Kapelle in die Nachbarschaft.

Anna-Maria Fennema hat das Kleiklooster besucht und den besonderen Charme dieses Ortes in sich aufgesogen.