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„Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank“

Elena Digiovinazzo ist Heilpraktikerin für Psychotherapie und in einer psychosomatischen Klinik für Menschen mit Persönlichkeitsstörung therapeutisch tätig. Sie erklärt, was eine Narzisstin oder einen Narzissten ausmacht.

Frau Digiovinazzo, was ist ein Narzisst?

Es ist ein Mensch, der tief in sich ein unterentwickeltes Selbstwertgefühl hat. Er muss andere Menschen dominieren, kontrollieren und abwerten, um sich besser zu fühlen. Man geht davon aus, dass die narzisstische Persönlichkeitsstörung eine Selbstwert-Regulations-Störung ist. Das DSM-5, das amerikanische Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen, definiert es so, dass mindestens fünf von neun Punkten zutreffen müssen: Die Person ist sehr arrogant. Sie hat wenig Empathie. Sie ist neidisch oder glaubt, andere seien neidisch auf sie. Sie hält sich für sehr wichtig. Sie ist eingenommen von Fantasien grenzenloser Macht, Schönheit, idealer Liebe und Erfolg. Sie glaubt, einzigartig und besonders zu sein. Sie verlangt übermäßige Bewunderung. Sie hat Ansprüche auf eine Sonderbehandlung. Sie nutzt andere zum Erreichen der eigenen Ziele aus.

Das ist die Definition für einen krankhaften Narzissmus. Gibt es auch einen gesunden Narzissmus?

Ja. Ein gesunder Narzissmus ist wichtig dafür, dass wir ein gutes Gefühl für unsere Grenzen und unseren Wert haben, dass wir uns behaupten können und zielstrebig sind. Auch das Streben nach Erfolg ist normal, solange ich in der Lage bin, Rücksicht auf die Gefühle anderer Menschen zu nehmen. Problematisch ist es, wenn ein Mensch kein Selbstwertgefühl hat und die Sichtweise anderer Menschen nicht nachvollziehen und ihre Grenzen nicht respektieren kann. Ein krankhafter Narzisst giert nach Aufmerksamkeit und Bewunderung. Er nutzt andere Menschen aus, um gut dazustehen. Auf Kritik reagiert er übermäßig empfindlich, wohingegen ein Mensch mit einem gesunden Narzissmus nicht gleich aus der Bahn geworfen wird, wenn er Kritik bekommt.

Wie viele Menschen sind denn von einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung betroffen?

Es sind ungefähr ein Prozent, bei Frauen etwa 0,7 Prozent, bei Männern etwa 1,2 Prozent. Wobei es hier sicher eine Dunkelziffer gibt. Denn Narzissten suchen sich in der Regel keine Therapie.

In unserem Family-Artikel einer betroffenen Frau kommt der Begriff des verdeckten Narzissmus vor. Was versteht man darunter?

Die Definition aus dem DSM-5 bezieht sich auf den sogenannten grandiosen oder offenen Narzissmus. Der verdeckte Narzisst agiert subtiler und ist schwerer zu erkennen. Er zeigt sich nach außen selbstlos und ist oft in Hilfsorganisationen oder der Kirche tätig. Aber eigentlich nur deshalb, weil er das Ansehen braucht und nicht, weil er anderen helfen möchte. Einen grandiosen Narzissten kann man leichter erkennen, weil er das offen zur Schau trägt. Der verdeckte Typ stellt sich als wohlwollender, altruistischer Mensch dar, hat aber genauso wenig Mitgefühl anderen Menschen gegenüber. Er macht das alles nur für sich.

Welche Auswirkungen kann es für Kinder haben, wenn ein Elternteil Narzisst ist?

Ein narzisstischer Vater oder eine narzisstische Mutter sind nicht in der Lage, auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen, Liebe zu zeigen oder eine sichere Bindung herzustellen. Eine Folge kann sein, dass das Kind selbst auch eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder starke narzisstische Züge entwickelt. Bei betroffenen Kindern kann man beobachten, dass sie nur schwer anderen Menschen Grenzen setzen, Nein sagen oder für sich selbst sorgen können. Sie haben oft starke Insuffizienzgefühle, also Gefühle von Wertlosigkeit. Weitere mögliche Auswirkungen sind Angststörungen, Süchte, Essstörungen, Depressionen und psychosomatische Beschwerden. Betroffene sind häufig anfällig für Sekten oder andere toxische Beziehungen, wo sie wieder manipuliert werden.

Wenn jemand den Verdacht hat, dass ein Elternteil eine narzisstische Persönlichkeitsstörung hat – muss man den Kontakt abbrechen?

Das kommt auf den Schweregrad der Persönlichkeitsstörung an und wie resilient die betroffene Person nach dem emotionalen Missbrauch noch ist. Es gibt Fälle, in denen Betroffene in der Lage sind, mit beschränktem Kontakt ein glückliches Leben zu führen. Dann wiederum gibt es Konstellationen, in denen ein Kontaktabbruch unumgänglich ist. In beiden Fällen kann psychotherapeutische Unterstützung sehr hilfreich sein.

Aber wenn die Eltern schon alt sind und Unterstützung brauchen, stelle ich mir das schwierig vor, den Kontakt abzubrechen.

Es kann passieren, dass Betroffene sich schuldig fühlen. Aber noch schlimmer, als die Eltern im Stich zu lassen, ist, sich selbst und seine eigene Familie im Stich zu lassen. Es muss noch genügend Energie da sein, sich um sich selbst, seine Kinder und seinen Partner zu kümmern. Narzisstisch gestörte Menschen machen andere Menschen krank, körperlich und psychisch. Das sollte man nicht unterschätzen. Wenn die Eltern pflegebedürftig sind, kann es helfen, möglichst viel Unterstützung für die Eltern an andere zu delegieren: Pflegedienst, Nachbarn, Menschen aus dem Freundeskreis oder der Gemeinde der Eltern, wenn vorhanden.

Die Fragen stellte Bettina Wendland.

BUCHTIPPS:

  • Elena Digiovinazzo: Narzissmus in der Familie. Untersuchung eines Verbrechens
  • Elena Digiovinazzo: Verlorenes Ich. Ein Essay zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung

Beide Bücher und weitere Infos sind hier erhältlich.

  • Jörg Berger: Stachlige Eltern und Schwiegereltern. Wie Sie Konflikte befrieden und versöhnt leben (Francke)
  • Annika Felber: Wenn die Familie nicht guttut. Toxische Beziehungen erkennen und lösen (Junfermann)
  • Reinhard Haller: Die Narzissmusfalle (ecoWing)

Facebook-Gruppe: „Christen helfen Christen im Umgang mit Narzissten“, moderiert von Elena Digiovinazzo (Link)