Symbolbild: TommL / E+ / Getty Images

Partnerschaft: Wir brauchen Vertrautheit und Überraschung

Beziehung, Liebe und Sexualität leben von Gegensätzen, die eine gesunde Spannung in das gemeinsame Leben bringen. Wir brauchen Routinen, aber auch Abwechslung, erklärt eine Psychologin.

Luise und Tom sitzen gemeinsam auf dem Sofa. Sie lieben diese Abende: Endlich schlafen die Kinder und sie haben Zeit zu zweit. Ihre Augen suchen den Insta-Feed ab, immer auf der Suche nach neuen lustigen Videos, die sie einander zeigen können. Dabei kuscheln sie, genießen die Gegenwart des anderen und tauschen sich über ihren Tag aus, bis Tom an diesem Abend auf die Toilette muss. Plötzlich springt die Tür auf. Tom stürmt herein mit dem Ritterhelm des Sohnemanns auf dem Kopf. Dabei schwingt er einen Besen und ruft: „Sinke vor Ehrfurcht nieder, Weib! Sir Tom Tomus ist mit dem gebührenden Respekt zu begegnen, wenn er seinen Minnesang vorträgt.“ Luise lacht, sie legt das Handy weg und lässt sich zurück auf die Couch sinken, die Hände ergebend erhoben.

Überraschende Momente, die die Vertrautheit unterbrechen, bringen uns schlagartig in die Gegenwart zurück und erregen unsere Aufmerksamkeit. Innerhalb von Sekunden verändern sie unsere Stimmung und reißen uns aus unseren Gedankenschleifen heraus. Wer mit Kindern zu tun hat, kennt diese Erfahrungen. Mit ihrer einzigartigen Logik überraschen sie uns oft und erhellen im Nu unsere Laune. Auch Witze leben von Überraschungseffekten. Humor, Unerwartetes, Neues – danach sehnt sich jeder und das ist es, was den Beginn einer Beziehung meist so schön und aufregend macht. In Langzeitbeziehungen zeigt sich das Neue nicht mehr täglich. Wir glauben, unsere Partnerin oder unseren Partner zu kennen und wissen bereits, was er oder sie denkt und möchte. Überraschungen sind wie ungewohnte, vielleicht sogar selbst ausgedachte Drehungen in einem Paartanz, die die Vertrautheit von Takt, Grundschritten und Lied durchbrechen. Beim Tanz achten beide Partner aufeinander, sind einander zugewandt und schenken einander ihre volle Aufmerksamkeit. Dabei erwartet der oder die Geführte das Unerwartete. Die Unvorhersehbarkeit der nächsten Figur bringt Leichtigkeit und Spaß in die routinierte Abfolge der Grundschritte. Das ist schön und lässt sich auch auf den Alltag übertragen. Sich

immer wieder einander zuzuwenden, den anderen anzusehen, zuzuhören und aufmerksam zu erspüren, wohin er oder sie im Gespräch möchte, sind Nebenwirkungen einer Beziehung, die Raum für Neues lässt. Ganz im Sinne von Oscar Wilde: „Das Unerwartete zu erwarten, verrät einen durchaus modernen Geist“ – einen Geist, der offen für Veränderungen ist, sich eine gewisse Flexibilität zur Anpassung bewahrt und eingefahrene Muster kritisch hinterfragt.

Gegensätze, die einander brauchen

Vertrautheit und Überraschung sind zwei Pole der Intimität. Während Neues und Überraschendes vor allem beim Kennenlernen und Verlieben eine große Rolle spielt, übernimmt mit der Zeit die Vertrautheit die Führung. Sie wird zum Rückzugsort, an dem beide Partner sie selbst sein können und sich angenommen fühlen. Vertrautheit stärkt die emotionale Bindung und das Gefühl inniger Liebe. Doch so tröstlich sie auch sein mag, ohne die Unterbrechung durch überraschende Momente wird Vertrautheit so spritzig wie eine abgestandene Cola. Langeweile macht sich breit und es fällt immer schwerer, einander die volle Aufmerksamkeit zu schenken. Ganz ehrlich: Warum auch? Denn wir verbleiben in unseren Mustern und der damit einhergehenden Vorhersehbarkeit von Abläufen und Verhaltensweisen, ähnlich einem Grundschritt ohne Figuren. Nur wenn wir mit dem Unerwarteten rechnen, bleiben wir offen dafür, dass der Partner beispielsweise wirklich etwas Unvorhersehbares zu erzählen hat und hören ihm oder ihr länger als acht Sekunden zu (so lange dauert es in der Regel, bis wir innerlich unsere eigene Antwort formulieren).

Zu viele Überraschungen hingegen überfordern uns. Bestünde das Leben nur aus Überraschungen, würden wir nach kurzer Zeit erschöpft zusammenbrechen. Die Schönheit des Unerwarteten würde der Hässlichkeit des Willkürlichen Platz machen – begleitet von Angst und Stress. Der vertraute Gleichschritt und die Zeit, um die Überraschungen im Nachgang zu genießen, sind genauso wichtig.

Liebe sehnt sich nach der Sicherheit und Geborgenheit des Vertrauten, während die sexuelle Leidenschaft das Abenteuerliche der Überraschung liebt. Beide brauchen einander und bringen in ihrem Zusammenspiel Leichtigkeit und Lebendigkeit in eine Beziehung.

Das Dilemma

Überraschungen bringen Schwung in unseren vertrauten Alltag. Leider haben die meisten von uns die Tendenz, zu wenig zu überraschen und der Vertrautheit den Vortritt zu lassen. Denn zu überraschen bedeutet, sich aufzurappeln. Das kostet Energie, die wir nicht gerne verschwenden und oft einfach nicht haben. Wenn wir über längere Zeit kraftlos sind und die eingefahrenen Muster sich aufgrund des Energiemangels verstetigen, sinkt auch der Mut, die vertrauten Bahnen zu verlassen. Genauso, wie

das Verhalten unseres Partners uns Sicherheit gibt, wollen wir mit unserem Verhalten die Stabilität nicht gefährden. Leider auch dann nicht, wenn es sich um destruktive Muster handelt. Wie beim Tanz nehmen beide Partner eine Rolle ein. Und tappen dabei in eine Falle. Denn wie kann es sein, dass zwei Partner ein Problem lösen wollen und es dabei noch schlimmer machen? Beide Partner geben sich große Mühe und halten das Problem trotzdem am Leben oder machen es durch ihr Handeln noch schlimmer.

Luise und Tom kennen das. Je mehr Luise Tom bittet, seine Sachen wegzuräumen und je mehr sie demonstrativ für Ordnung sorgt, desto weniger räumt er auf und beteuert, dass ein bisschen Chaos nicht schade. Je öfter Tom Annäherungsversuche zum Sex unternimmt, desto bedrängter fühlt sich Luise und weist ihn noch öfter zurück. Was Tom als die Lösung sieht, wird für Luise zum Problem und andersherum. Beide nehmen die Probleme wahr und wollen ihnen auf den Grund gehen. Doch der Grund spielt bei der Lösung eines Problems meist eine untergeordnete Rolle. Er ist nur für die Schuldfrage relevant. Wenn wir aber wirklich eine Lösung anstreben, ist folgende Frage viel wichtiger: Will ich lieber recht haben oder verheiratet sein?

Hier kommt Überraschung ins Spiel: Zu überraschen bedeutet, sich so zu verhalten, wie es unsere Partnerin oder unser Partner nicht erwartet. Die größte Überraschung passiert somit dort, wo wir uns selbst überraschen. Denn damit rechnet der Partner bestimmt nicht. Für Tom und Luise bedeutet das, jeweils das Gegenteil von dem zu tun, was sie bisher taten. Tom müsste abends all seine herumliegenden Sachen aufräumen. Luise müsste aushalten, dass sie nicht für Toms Sachen verantwortlich ist und sie kommentarlos liegen lassen. Alternativ könnten sie als Kompromiss „Toms Minnekiste“ aufstellen, in die Luise alles werfen darf, was sie stört, und Tom die Verantwortung überlassen kann, wichtige Rechnungen unter den Socken trotzdem auf dem Schirm zu haben. Des Weiteren müsste Tom aufhören, Annäherungsversuche zu unternehmen, bis Luise freiwillig die Initiative zum Sex ergreift. Alternativ könnten die beiden einen Deal vereinbaren, dass Luise auf jeden seiner abgelehnten Annäherungsversuche selbst innerhalb von drei Tagen auf ihn zugeht. So können beide ihre Bedürfnisse wahren, ohne Vorwurfs-Rechtfertigungs-Pingpong.

Vier Stellschrauben, um die Leichtigkeit in der Beziehung durch Überraschungen zu erhalten:

1. Überrasche deinen Partner:
Kleine Überraschungen lockern den Alltag auf und teilen deiner Partnerin oder deinem Partner mit: Ich sehe dich. Du bist mir wichtig. Ich mag unsere Beziehung.

Get active: Fertige eine Liste mit Dingen an, die deine Partnerin gernhat, sowie Aufgaben, die sie überhaupt nicht gern mag und beginne, diese Aufgaben anzugehen. Überrasche sie damit am nächsten Tag wieder und den Tag darauf auch. Lade deinen Partner zu einem kurzen Abendspaziergang ums Haus ein, zünde abends mal wieder eine Kerze an oder bring deiner Partnerin morgens einen Kaffee ins Bad. Tun es bei ihr eher Worte der Anerkennung, dann verstecke kleine Botschaften in Jackentasche, Brotdose oder Geldbeutel. Oder schreibe mal wieder eine Mail, am besten in einer anderen Sprache.

2. Überrasche dich selbst:
Was könnte eine größere Überraschung sein, als sich so ungewohnt zu verhalten, dass man über sich selbst staunen muss?

Get active: Frage dich, worauf du wirklich gar keine Lust hast, und dann mache es. Wenn du beispielsweise nicht magst, dass dein Partner abends gerne am PC spielt, überrasche ihn, indem du mitspielst. Wenn du ein hingebungsvoller Langschläfer bist, stelle deinen Wecker zu einer Unzeit und mach euch einen Kaffee. Falls du dich zu den Warmduschern zählst, stell dich unter die eiskalte Dusche. Dabei darfst du gern kreischen, dann hat dein Partner direkt etwas zu lachen.

3. Bewahre einen „modernen Geist“:
Die Fähigkeit, sich flexibel an Bedingungen anzupassen und offen für Unbekanntes zu bleiben, kann geübt werden.

Get active: Wechselt jeden Monat ein paar Aufgabenverteilungen und am besten auch gleich die Bettseite. Plant jede Woche etwas zusammen, was ihr noch nie gemacht habt: eine gegenseitige Handmassage, Sex an einem neuen Ort, ein Eisbad, einen Fallschirmsprung… Je mehr Adrenalin dabei ausgeschüttet wird, desto verliebter werdet ihr danach wieder sein. Erstellt eine Traumliste, was ihr noch alles gemeinsam erleben wollt. Entlarvt typische „Das macht man halt so“ und macht das Gegenteil.

4. Mach Sport:
Ja, richtig gelesen. Sport stärkt Körper und Psyche und liefert langfristig Energie, die wir wiederum brauchen, um uns gegenseitig zu überraschen.

Get active: Schon eine einzige, schwere Wiederholung einer Liegestütze liefert messbare Effekte. Absurd einfach, oder? Falls du dich nur schwer motivieren kannst, dann kopple den Sport an feste Routinen im Alltag, wie beispielsweise eine einzige Kniebeuge nach dem Spülmaschine-Anschalten.

Viel Freude beim Blick über den vertrauten Tellerrand auf der Suche nach Alltagsabenteuern!

Tabea S. Müller ist Psychologin. Sie coacht bei „Micro Sabbaticals“ und „Friede deiner Hütte“.