#socialdistancing – was daran gar nicht neu ist

„Mich nervt das so sehr ….“, nörgelt meine Freundin mir per Sprachnachricht ins Ohr. „Am Wochenende hier rumhängen. Sonst bin ich mit unendlich vielen Menschen unterwegs. Und nun sind wir zu viert als Familie. Das kann ich nicht!“

Das geforderte #socialdistancing stresst viele. Aber ich finde ja, es hat sich gar nicht viel verändert.

Saßen wir nicht vor #socialdistancing auch zu oft allein vor dem Tatort? Brauchten wir nicht zum Runterkommen auch vorher schon ruhige Auszeiten im Wald oder Park? Vielleicht haben wir sie uns nicht genommen: die Konzentration auf uns persönlich und enge Menschen um uns herum. Mein Eindruck ist: Wir sind schon vorher nicht darin geübt gewesen, uns nah zu sein …

Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Frau – ich hätte sie als Freundin bezeichnet. Sie erklärte mir, was für sie tiefe und echte Beziehungen sind und wieso sie nur ein bis zwei Freundinnen habe. Ich nicke lächelnd, innerlich irritiert und kann dem Rest des Gespräches kaum folgen. Ich bin also nicht für tiefe Gespräche zu haben, verdiene keine Auszeichnung „Freundin“.

Wenn mein Mann telefoniert, lacht er gern über den Austausch des Wetterberichtes mit vielen Menschen. Anderen einen Einblick in Fragen und Sorgen, in stürmische Gebete oder stumme Ratlosigkeit zu geben, haben wir irgendwie verlernt. Oder haben wir es schon länger einfach zugelassen, in #socialdistancing zu leben?

Derzeit tapsen wir mit unseren erwachsenen Kindern in eine ähnliche Falle. Wir versuchen trotz #socialdistancing uns nah zu bleiben und plaudern über gekochte Köstlichkeiten und über andere. Aber uns ins Herz blicken lassen? Puh. Das ist schwer.

Vor ein paar Jahren haben wir jeden Sonntag Menschen an unserem Tisch gehabt. Nach dem Essen haben kleine und große Menschen dann die Frage beantwortet: „Was war dir heute im Gottesdienst wertvoll?“ Es war eine unspektakuläre Runde und hat doch gutgetan. Innere Themen gemeinsam zu reflektieren, mag als pädagogischer Schnickschnack abgewertet werden. Ich werde gern dafür belächelt, bin aber aus Erfahrung überzeugt: Erst durch das Teilen von persönlichen Gedanken entsteht Nähe. Ich kann als Familie jeden Tag sechs Stunden Kniffel-Turniere erleben oder als Paar jeden Tag drei Stunden wandern – ohne einen Einblick in innere Gedanken verfliegt Nähe wie ein billiges Parfum.

So erzählen wir uns als Familie beim Chatten also: Was haben wir von der Predigt, die wir gestreamt haben, mitgenommen. Wir fragen: Was macht dir Sorgen? Auf was oder wen bist du gerade stolz oder ärgerlich? Wem kannst du bewusst Gutes tun? Was kannst du an dir beobachten?

Über die angeordnete Distanz können wir Sehnsucht nach Worten, Tränen und glucksendem Lachen bekommen. Nutzen wir die Chance!

Stefanie Diekmann ist Pädagogin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Göttingen.