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„Es genügt, dass man da ist“

Im Schweden-Urlaub habe ich passenderweise das neue Buch des schwedischen Autors Tomas Sjödin gelesen: „Es gibt so viel, was man nicht muss“. Schon den Titel finde ich sehr ansprechend. Und das Buch hält, was der Titel verspricht. Es besteht aus Kolumnen, die Sjödin in den letzten Jahren für verschiedene schwedische Zeitungen geschrieben hat. Diese Texte enthalten viele wertvolle Impulse. Meine Lieblingskolumne möchte ich gern mit euch teilen (danke an den Verlag SCM R. Brockhaus, der den Nachdruck genehmigt hat):

Das Schaffen-Müssen sein lassen

Ich treffe immer mehr Menschen, die von sich behaupten, dass sie den Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht genügen. Nicht als Eltern, nicht als Partner, weder zu Hause noch im Beruf. Und vor allem nicht gleichzeitig zu Hause und im Beruf. Wenn es an der einen Stelle funktioniert, dann ist an der anderen Not am Mann, und beim tiefen Ausatmen kommt der Seufzer: „Ich schaff’s einfach nicht.“ Die Frage muss also heißen: Wer hat uns den Gedanken eingepflanzt, dass wir „es schaffen“ müssen? Und wer hat überhaupt festgelegt und normiert, was „schaffen“ und „genügen“ heißt?

Neulich begegnete mir ein Text, der mir klargemacht hat, dass das Problem keineswegs neu ist, sondern sich bereits in einer Quelle beschrieben findet, die fast 3000 Jahre alt ist – im Buch des Propheten Jesaja. Der Prophet beschreibt das Gefühl, nicht zu genügen, so: „Das Bett ist zu kurz, um sich darin auszustrecken, die Decke zu knapp, um sich damit zuzudecken“ (Jesaja 28,29). Ein sehr sprechender Beweis dafür, dass der Mensch sich über die Jahrtausende wenig verändert und schon immer mit den eigenen Ansprüchen und denen der anderen herumgeschlagen hat.

Wer schon einmal versucht hat, trotz einer zu kurzen Bettdecke einzuschlafen, weiß, was der fröstelnde Prophet meinte. Wenn man es sich gemütlich macht und die Decke über die Schultern zieht, ragen die Zehen unbedeckt in die kalte Luft des Schlafzimmers. Wenn man sie bedeckt, friert man bis zur Brust.

Kann es sein, dass das eine menschliche Grundbefindlichkeit ist: Immer fehlt etwas? Und dass eine Idee dahintersteckt: dass wir uns nämlich zusammentun sollen, uns nicht mit den eigenen Ressourcen zufriedengeben und uns weigern, das Dasein auf die innerweltlichen Dinge zu begrenzen?

Wenn man erkennt, dass man es alleine nicht schafft, öffnet man sein Leben für die helfenden Kräfte, die verfügbar sind. Die Situationen, in denen mein Leben eine neue und unerwartete Wendung genommen hat, waren selten die, in denen ich mich zusammengerissen und es noch einmal versucht habe, sondern solche, in denen ich aufgehört habe, mich zusammenzureißen, die Zügel aus der Hand gegeben und Hilfe angenommen habe. Hilfe von Gott und von Menschen.

Es gibt ein Wort mit nur fünf Buchstaben, das diese Erfahrung beschreibt: Gnade. Gnade ist das, was die Decke verlängert, sodass man sich in seiner vollen Länge ausstrecken kann, ohne kalte Füße zu bekommen.

In der letzten Woche las ich über den Mathematiker und Physiker Blaise Pascal und wie er seine zentrale geistliche Erkenntnis in dem zusammenfasste, was seitdem Pascals „Mémorial“ heißt: in einer Sammlung von Glaubenssätzen. Ich will mich nicht mit Pascal vergleichen, aber noch am selben Tag habe ich mich hingesetzt und „Sjödins Glaubenssätze“ formuliert. Falls sie außer mir selbst auch jemand anderem von Nutzen sein sollten, würde mich das sehr freuen. Sie lauten wie folgt – und gelernt habe ich sie von meinen kranken Söhnen: „Man muss nicht genügen. Es genügt, dass man da ist. Alles, was darüber hinausgeht, ist ein Bonus.“

 

Wenn ihr gern mehr über Autor und Buch wissen wollt, schaut mal hier rein: https://www.scm-brockhaus.de/aktuelles/portraits/tomas-sjodin

Bettina Wendland, Redakteurin bei Family und FamilyNEXT