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Nicht einfach, aber doch schön: Familienalltag mit Autismus

Autismus ist bekannt, aber mit vielen Klischees behaftet. Wie groß die Bandbreite der Krankheit ist, wissen nur Wenige. Am 2. April ist Welt-Autismus-Tag. Eine vierköpfige Familie erzählt, wie sie ihren Alltag mit zwei autistischen Teenagern erlebt.

Schon beim morgendlichen Anziehen gehen die Schwierigkeiten los: Wenn an einem Kleidungsstück ein Schildchen oder eine Naht drückt, fühlt sich der 13-jährige Daniel (Namen geändert) nicht wohl. Eine Zeit lang mussten Hosen und Schuhe bei ihm aber auch ganz eng geschnürt werden. „Damit er sich besser spürt“, erklärt Mutter Katja. Daniels Schwester Laura (15) mag es nicht, wenn man sie mit nassen Händen anfasst und auch sonst mag sie es kaum, berührt zu werden. Beide haben Autismus.

Autismus-Spektrum-Störung (ASS), so lautet die Diagnose von Daniel und Laura, die sie vor zwei Wochen von einer Psychotherapeutin bekommen haben. Eins von hundert geborenen Kindern ist heute von dieser komplexen neurologischen Entwicklungsstörung betroffen. Menschen mit Autismus nehmen Dinge anders wahr und haben Schwierigkeiten im sozialen Miteinander. Viele sind zum Beispiel besonders empfindlich gegenüber Licht, Geräuschen oder Berührungen. Oft können sie sich nicht gut in ihre Mitmenschen einfühlen und es fällt ihnen schwer, Beziehungen aufzubauen. In der Kommunikation verstehen sie das Gesagte häufig wörtlich, Zwischentöne oder sogar Ironie sind für sie schwer zu deuten.

Schnelle Überforderung

Dass Daniel und Laura Autismus haben, hatte die Familie schon seit Jahren geahnt. Jetzt endlich haben sie es auch schwarz auf weiß. Das macht es für sie einfacher, ihre Kinder zu erklären, zum Beispiel gegenüber der Schule oder Verwandten. Denn ihr Alltag ist auch so schon herausfordernd genug. Zum Beispiel beim gemeinsamen Essen: Die Teenager essen kein Fleisch, Gemüse nur roh. Laura bekommt bei der Konsistenz von Kartoffelbrei Würgereiz, Salzkartoffeln gehen wiederum. Vater Jark, der für die Familie kocht, ist bei der Essensauswahl sehr eingeschränkt. Und so wiederholt sich der Familienspeiseplan alle zwei Wochen.

Auch Ausflüge als Familie sind nicht spontan möglich, sondern müssen vorher gut geplant werden. Denn wenn die Kinder nicht wissen, was auf sie zukommt, macht sie das nervös. Ein Besuch im Freizeitbad oder bei Ikea geht eher nur selten – die vielen Menschen und die wenigen Ruhe-Oasen führen bei Laura und Daniel schnell zu Überforderung. Und der Besuch von neuen Städten kann auch herausfordernd sein. Letztens waren sie am Wochenende in Oldenburg. „Da hat Daniel mitten in der Stadt einen Zusammenbruch bekommen und losgeheult, weil ihm alles zu viel war – er ließ sich kaum beruhigen“, erzählt Jark. Woanders übernachten sei für Daniel schlimm. Das andere Bett, die fremden Gerüche – alles große Herausforderungen für ihn.

Das ist häufig so bei Menschen mit Autismus: Sie haben feste Rituale und brauchen geregelte Abläufe und Strukturen im Alltag. Die genauen Ursachen von Autismus sind bis heute nicht geklärt. „Klar ist: Autismus ist hochgenetisch, aber auch biologische Umweltfaktoren können einwirken und mit Genen interagieren“, sagt Sven Bölte, Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Seit dem Jahr 2000 steigen die Autismus-Spektrum-Störungen weltweit. Sven Bölte vermutet, dass das unter anderem mit der besseren und schnelleren Diagnostik zusammenhängt, die es heute gibt. Und mit unserer Anforderung an Gesundheit: „Die Menschen haben heute unglaublich hohe Ansprüche daran, was es heißt, gesund zu sein.“ Auch in den Schulen würden die Ansprüche an die Kinder steigen. So würden Autismus-Spektrum-Störungen früher auffallen.

Wer passt sich wem an?

Dass sie anders war als die anderen, bemerkte Laura schon in der ersten Klasse: „In der Schule war ich oft abgelenkt und bin häufig allein über den Schulhof gegangen, weil ich eine Pause von den ganzen Reizen brauchte“, sagt sie. Der Lehrerin fiel auf, dass sie nicht mit anderen Kindern spielte. Laura war auch oft verträumt, sie brauchte zum Beispiel lange, um ihren Schulranzen einzuräumen. Bald darauf bekam sie eine ADHS-Diagnose. Die Medikamente, die sie verschrieben bekam, hätten ihr zwar geholfen, sich besser zu konzentrieren, erzählt Katja. Aber sie hätten auch dazu geführt, dass Laura immer trauriger wurde. Das ging den Eltern zu weit, sie setzten die Medikamente ab. „Für uns war klar: Wir versuchen nicht unser Kind um jeden Preis an sein Umfeld anzupassen,“ sagt Katja. Stattdessen wechselte Laura an eine andere Schule.

Wegen Autismus: Keine passende Schule für Daniel

Als Daniel auf das Gymnasium kam, versuchte er lange Zeit, sich anzupassen. Es kostete ihn unheimlich viel Kraft, die unzähligen Reize – Geräusche, Licht, Gerüche – auszuhalten. Ständig befand er sich nervlich in einer Ausnahmesituation. Nachmittags zog er sich in sein verdunkeltes Zimmer zurück. Morgens mussten Katja und Jark mit Engelszungen auf ihn einreden, um ihn wieder herauszulocken. Eines Tages fanden sie statt des selbstbewussten 12-Jährigen einen 5-Jährigen vor, erzählt Jark: „Er weinte, wimmerte und bat darum, dass wir ihn nicht wieder zur Schule schickten.“ Daniel war total erschöpft, hatte keinen Antrieb mehr und nur wenig Freude am Leben.

Eine Kinder- und Jugendpsychiaterin diagnostizierte ihm eine Anpassungsstörung, er wurde krankgeschrieben. Seit einem Jahr beschulen ihn die Eltern zuhause. Die Schule und die Behörden halten an der Präsenz-Schulpflicht fest. Deswegen sei neulich auch das Jugendamt unangekündigt vorbeigekommen. „Anfang März hat die Bezirksregierung einen Bußgeldbescheid über 1.500 Euro an uns verschickt“, erzählt Jark. Der Druck ist groß. Doch in der Heimatstadt gibt es keine geeignete Schule für Daniel. Nun reisen sie an den Wochenenden durch ganz Deutschland, um nach passenden Schulen für ihn zu schauen.

Dass autistische Kinder vorübergehend nicht zur Schule gehen, ist nicht selten. Verschiedene internationale Studien geben an, dass zwischen 23 und 72% der autistischen Kinder und Jugendliche ab und zu oder langfristig nicht in die Schule gehen. Für Deutschland gibt es keine repräsentativen Daten. Die Gründe für die Nicht-Beschulung sind unterschiedlich: Mal schaffen es die Kinder und Jugendlichen nicht mehr in die Schule, mal sollen sie zu Hause bleiben, weil Fachpersonal fehlt. „Unser Schulsystem ist auf neurotypische Schülerinnen und Schüler ausgerichtet und nicht autismus-sensibel“, sagt Stephanie Meer-Walter, Pädagogin und Autismus-Beraterin. Sie wünscht sich, dass die Lehrkräfte durch Weiterbildungen besser auf autistische Kinder vorbereitet werden und Schulen dafür besser ausgestattet werden. Zum Beispiel durch Ruheräume als Rückzugsmöglichkeit bei Überreizung oder durch feste Strukturen und klare Kommunikation im Unterricht.

Gemeinsam Kompromisse finden

Für viele Schwierigkeiten hat die Familie inzwischen Lösungen gefunden. Zum Mittagessen gibt es wenige, ausgewählte Mahlzeiten, wie Pellkartoffeln oder Chili sin Carne. Sehr gut funktioniert auch das Salatbuffet oder Raclette, bei dem die Teenager selbst auswählen, was sie essen. Laura besucht jetzt ein Gymnasium, von der Klassenlehrerin fühlt sie sich unterstützt. „Heute komme ich ganz gut mit meinem Autismus klar“, sagt sie. Wenn sie Anschluss zu Freundinnen suche, nerve sie ihr Autismus schon. Es falle ihr schwer, zu entschlüsseln, was sie von ihr erwarten. „Im Endeffekt gibt es aber für alles eine Lösung.“

Daniel schaffe es im Alltag immer besser, sich selbst zu helfen, sagt Katja. Früher hätte er Wutanfälle bekommen, wenn sich die Klamotten falsch anfühlten. „Mittlerweile schneidet er die Schilder selbst heraus oder sagt uns klar, wie wir ihm helfen können.“ Und auch wenn die Beschulung zu Hause für Daniel nur eine Notlösung ist, geht es Daniel damit besser als noch zu Schulzeiten. „Er kommt jetzt wieder mehr aus sich heraus und nimmt sich auch mal das Skateboard, um auf den Skateplatz zu gehen“, sagt Jark. Er brauchte die Pause, sagt Katja. „Jetzt kann er sich wieder auf eine neue Schule einlassen“. Beide Kinder wirken auf die Eltern im Alltag inzwischen ausgeglichen.

Katja und Jark wünschen sich, dass andere Menschen in ihrem Umfeld mehr Offenheit und Verständnis für ihre Kinder zeigen und ihre Bedürfnisse nicht klein reden. Und sie wünschen sich mehr Aufklärung: Wenn sie anderen erzähle, dass ihre Kinder Autismus haben, seien diese oft erschrocken, sagt Katja. Die würden dann wahrscheinlich gleich an Filme wie „Rain Man“ denken. „Aber Autismus ist ein riesiges Spektrum. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen mehr darüber informieren, wie vielfältig Autismus ist.“

Manche Menschen mit Autismus lernen in ihrem Leben nie zu sprechen und sind auch als Erwachsene auf eine Rundumbetreuung angewiesen. Andere haben studiert und führen ein selbständiges Leben. „Kennst du einen Autisten, kennst du einen Autisten“, fasst Jark zusammen. „Jeder Mensch bringt seine individuelle Persönlichkeit mit und niemand will in eine Schublade gesteckt werden.“ Auch Kitas, Schulen und Arbeitgeber müssten aus der Sicht der Familie besser auf den Umgang mit autistischen Menschen vorbereitet werden.

Janna Degener-Storr und Sarah Kröger

Einzelfallhilfe für ein autistisches Kind: Eine Mutter nimmt es selbst in die Hand

Um einen Kitaplatz für ihre autistische Tochter zu bekommen, braucht Anja eine Einzelfallhilfe. Als die Suche scheitert, hängt Anja ihren Job an den Nagel und begleitet ihr Kind selbst. Und sie stellt fest: Das ist eine wirklich erfüllende Aufgabe.

Es ist Sommer. Der Wasserspielplatz ist voll mit planschenden Kindern. Ruby liebt Wasser. Immer wieder geht sie zu ihrer Mutter Anja (Namen geändert). Sie soll ihre Hände zu einer Schale formen. In diese gießt Ruby dann Wasser und juchzt vor Freude. Stundenlang könnte sie das so machen. Ruby ist sechs Jahre alt. Mit vier Jahren wurde bei ihr frühkindlicher Autismus diagnostiziert. Das ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die bei Ruby dafür sorgt, dass sie bisher nicht spricht und im Alltag viel Unterstützung und eine Einzelfallhilfe braucht.

„Ruby braucht Hilfe beim An- und Ausziehen oder wenn sie zur Toilette geht“, sagt ihre Mutter. Der soziale Kontakt mit anderen fällt ihr schwer, sie kann ihre Grenzen nicht einschätzen. Zum Beispiel zieht sie fremden Menschen an ihrer Kleidung oder fasst sie an. Besonders schwer fällt es ihr, Sinneseindrücke zu verarbeiten. Ist es ihr zum Beispiel zu laut oder zu turbulent, zieht sie sich vollständig in sich zurück oder schreit laut. Sie braucht deshalb eine überschaubare Anzahl fester Bezugspersonen und tägliche Routinen, um sich im Alltag zu orientieren.

Nicht erwünscht in der Regel-Kita

Anja ist freie Journalistin, nach der Geburt wollte sie bald wieder arbeiten. Mit neun Monaten kam Ruby zu einer Tagesmutter. Je älter und agiler sie wurde, desto schwieriger wurde es für die Tagesmutter, sie zu betreuen. Wollte sie mit den Kindern beispielsweise malen oder basteln, landeten die Bastelmaterialien regelmäßig auf dem Boden, wurden zerrissen oder in den Mund gesteckt. Es stellte sich heraus: Ruby war entwicklungsverzögert.

Mit vier Jahren sollte Ruby in eine Regel-Kita wechseln. Als die Kita aber von ihrer Diagnose erfuhr, war sie nicht mehr willkommen. „Sie sagten nicht direkt, dass Ruby nicht kommen darf“, berichtet Anja. „Aber sie rieten dringend davon ab. Bei ihnen wäre Ruby nicht gut aufgehoben.“ So erging es Anja und ihrem Mann auch bei der weiteren Suche nach einer Kita für Ruby – überall bekamen sie Absagen. Oft wurden sie auf die örtliche Inklusions-Kita verwiesen. Doch die war keine Option: Mit 34 Kindern waren die Gruppen für Ruby viel zu groß, dort würde sie untergehen. Außerdem stimmte der Gesamteindruck für Anja nicht: „Es wurde hier mehr beaufsichtigt als gefördert. Die Kita wirkte für mich wie ein Auffangbecken für alle Kinder, die aus irgendwelchen Gründen durch das Raster fallen.“

Suche nach einer Einzelfallhilfe

Nach langem Suchen fanden sie endlich eine Kita mit kleinen Gruppen, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Die Erzieherinnen hatten zwar kaum Erfahrungen mit Kindern mit Behinderung, die Leiterin wollte es aber gerne probieren. Anja und ihr Mann waren über diese guten Nachrichten erleichtert. Jetzt brauchten sie nur noch eine Einzelfallhilfe, da Ruby mittlerweile Pflegegrad 4 hatte und ohne Unterstützung nicht in die Kita gehen durfte. Sie suchten also nach einer Person, die Ruby mit dem Auto in die Kita fährt, wieder nach Hause bringt und vor allem in der Kita begleitet. Um zum Beispiel aus der Gruppe mit ihr zu gehen, wenn es ihr zu trubelig wird. Oder um sie auf die Toilette zu begleiten und aufpassen, dass sie nichts durcheinanderbringt.

Gleichzeitig sollte Ruby aber auch bewusst mit anderen Kindern in Kontakt gebracht und individuell gefördert werden. Zum Beispiel sollte sie üben, sich selbstständiger an- und auszuziehen. „Wir waren damals noch sehr naiv“, erzählt Anja, „Wir dachten: Wenn wir eine Einzelfallhilfe haben, dann ist das Problem gelöst. Dann haben wir diese eine Person, die Ruby bei allem unterstützt, das sie braucht.“

Nur noch Stress

Doch so einfach war es nicht: Nach neun Monaten mussten sie die Zusammenarbeit mit der ersten Einzelfallhilfe beenden. Sie weigerte sich zum Beispiel plötzlich, die Fahrten zur Kita und nach Hause zu übernehmen – obwohl das genauso abgesprochen war. Danach blieb Ruby drei Monate zu Hause. Die zweite Einzelfallhilfe bekam nach ein paar Wochen völlig überraschend von der Kita Hausverbot, weil sie nicht ins Team passe. Wieder musste Ruby zu Hause bleiben. Einige Wochen später fanden sie eine Tagesmutter mit älteren Kindern, die bereit war, Ruby aufzunehmen. Sie war sogar Autismus-Expertin. „Das war ein Sechser im Lotto“, sagt Anja. Ruby wechselte mit der alten Einzelfallhelferin zur Tagesmutter und gewöhnte sich dort ein. Die Gruppe verbrachte viel Zeit im Wald, die Ruhe und die Reizarmut dort taten Ruby sehr gut.

Bald kam die nächste Enttäuschung: Die zweite Einzelfallhelferin ließ sich wochenlang krankschreiben, auch mit ihr mussten sie die Zusammenarbeit beenden. Eine weitere Einzelfallhelferin wollte an ihrem Probetag Ruby nicht auf die Toilette begleiten, weil ihr das zu unangenehm war. „Die meisten Einzelfallhelferinnen, mit denen wir im Vorfeld gesprochen haben, hatten keine Ausbildung und waren vorher lange arbeitslos gewesen“, erzählt Anja. Es gäbe in diesem Job viele unqualifizierte Quereinsteiger und vielleicht wären ihre Erwartungen an sie auch zu hoch gewesen.

„Die vielen Zeiten, in denen Ruby zu Hause war, haben uns emotional total fertig gemacht“, erzählt Anja. Immer wenn es mit einer Einzelfallhelferin schwierig wurde, konnte sie Nächte lang nicht richtig schlafen und machte sich viele Gedanken. Beide ihre Jobs waren davon abhängig, dass die Betreuung von Ruby funktioniert. Mal blieb ihr Mann zu Hause und ließ sich krankschreiben, damit Anja arbeiten konnte. Doch oft blieb auch Anja zu Hause und versuchte ihre Aufträge nach hinten zu schieben oder am Abend abzuarbeiten. Denn Ruby musste rund um die Uhr beaufsichtigt werden. Außerdem ist sie kein Einzelkind: Im Haushalt leben noch ihre drei Jahre jüngere Schwester und ihr älterer Bruder, mittlerweile ein Teenager. Dass diese angespannte Situation nicht lange gut gehen konnte, war allen klar. „Irgendwann waren wir so erschöpft und haben gemerkt: Alles leidet darunter. Wir haben nur noch Stress.“

Entspannteste Zeit seit langem

War es denn wirklich ein so schwieriger und undankbarer Job, ihre Tochter in die Kita zu begleiten? Das hatte sich Anja in den letzten Monaten oft gefragt. Eigentlich musste es doch Spaß machen, gemeinsam mit den anderen Kindern in den Wald zu gehen. Immer wenn sie Ruby brachte, fühlte sie sich bei der Tagesmutter und den Kindern sehr wohl. „Irgendwann hat es dann bei mir Klick gemacht“, erzählt Anja. „Mir kam der Gedanke: Warum werde ich nicht einfach selbst Einzelfallhelferin?“ Sie schlug diese Idee der Tagesmutter, dem Sozialamt und dem Träger für Einzelfallhilfe vor – rechnete aber fest mit einer Absage. Denn all ihre bisherigen Lösungsvorschläge wurden immer abgelehnt. Doch zu ihrer Überraschung stimmten alle Beteiligten zu. So wurde Anja im März 2024 die Einzelfallhelferin ihrer Tochter. Leicht fiel ihr es nicht, ihren Job vorübergehend aufzugeben: „Meine Arbeit war mir immer sehr wichtig. Das war ein Riesenschritt für mich.“

Doch schon die ersten Tage genoss sie, es war richtig entschleunigend, berichtet Anja. Sonst saß sie tagsüber am Schreibtisch, schrieb Texte und produzierte Ergebnisse. Jetzt saß sie die meiste Zeit im Wald und war einfach nur da. Ohne dass sie etwas auf einer To-Do-Liste abhaken musste. Im Vergleich zu ihrem sonstigen Familienalltag mit Ruby war der Tagesablauf sehr entspannt. Die Tagesmutter kümmerte sich um Tagesprogramm und -struktur, Anja konnte sich auf Ruby konzentrieren. So wurde auch ihre Beziehung zu Ruby gestärkt: Zeit mit Ruby allein kam im Familien-Alltag mit den anderen Kindern sonst oft zu kurz. Es berührte Anja, wenn sie sah, wie Ruby in die Gruppe integriert wurde. Da Ruby nicht spricht, sollte sie lernen, über Bildkärtchen zu kommunizieren. Beim gemeinsamen Liedersingen suchte sie sich zum Beispiel eine Liederkarte aus, die Kinder sangen dann das Lied für sie.

Ihre Zeit als Einzelfallhelferin brachte Anja eine wichtige Erkenntnis: „Ich konnte nicht verstehen, warum es so schwierig sein soll, mit Ruby regelmäßig zur Tagesmutter zur gehen. Jetzt weiß ich: Es ist ein wirklich schöner Job.“ Ihr sei schon klar, dass sie als Mutter eine spezielle Perspektive hätte, weil sie mit Ruby sehr vertraut sei. Aber trotzdem seien die Rahmenbedingungen nicht schlecht, auch im Vergleich zu ihrer sonstigen Arbeit: „Aufgrund meines Hochschulabschlusses bekam ich 21 € pro Stunde. Vorbereitungsstunden, die ich zu Hause machte, konnte ich mir aufschreiben.“ Zudem sei es ein sehr sinnstiftender Job: Als Einzelfallhilfe könne man einen einzelnen Menschen unterstützen und intensiv kennen lernen.

Endlich willkommen

Seit September 2024 ist Anja wieder in ihren alten Job zurückgekehrt. Ruby besucht nun eine Förderschule, an der Kinder mit Behinderung willkommen geheißen und gezielt gefördert werden. Drei ausgebildete Fachkräfte betreuen sie hier in einer Gruppe mit sechs weiteren Kindern. Zusätzlich hat sie noch eine Einzelfallhelferin, die sie sich mit einem anderen Kind teilt. Ruby fühlt sich hier sehr wohl. Jeden Morgen freut sie sich auf die Schule, erzählt Anja. „Als ich sie morgens hingebracht habe, ist sie jauchzend ins Klassenzimmer gelaufen.“ Und auch wenn Ruby nachmittags gegen vier Uhr wieder zurückkommt, sei sie nach dem langen Schultag erstaunlich ausgeglichen.

Die Förderschule ist eine christliche Schule. Sie selbst sei keine Christin, sagt Anja. Doch schon oft habe sie positive Erfahrungen mit christlichen Einrichtungen gemacht, wenn es um ihre Tochter ginge. Auch die engagierte Tagesmutter, bei der Ruby zuletzt war, ist Christin. „Oft sind das Personen, die jeden Menschen einfach so nehmen wie er ist und ihn willkommen heißen“, stellt Anja fest. Das gehe ihr mit Ruby nicht immer so.

Für die nächste Zeit wünscht Anja sich, dass Ruby weiterhin gerne in die Schule geht und die Einzelfallhilfe bleibt. Denn wenn sie irgendwann mal länger ausfallen sollte, sagt die Lehrerin, müsse Ruby zuhause bleiben. Doch sie versucht gelassen zu bleiben, meint Anja: „Wir haben sehr engagierte Lehrerinnen, die sich für Ruby verantwortlich fühlen und gut mit uns kommunizieren.“ Ruby sei gerade gut versorgt.

Sarah Kröger ist Journalistin und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

„Er ist und bleibt mein Bruder“

Er war in rechten Gruppen aktiv, stand den Reichsbürgern nahe und den Querdenkern. Er wettert gegen Flüchtlinge und Juden. Wie geht seine Schwester damit um?

 

Wenigstens habe ich keinen Nazi in der Familie“, meinte meine Freundin lachend am Telefon, als wir uns über die Macken in ihrer Familie austauschten. Dann blieb ihr das Lachen im Halse stecken: „Oh, sorry, tut mir leid …!“ Da musste ich lachen – darüber, dass sie so peinlich berührt war – und sagte: „Es stimmt doch: Es ist wirklich schön, wenn man keinen Nazi zum Bruder hat!“

So ganz genau weiß ich nicht, ob mein Bruder sich aktuell zu den Nazis rechnet. Das wechselt. Im letzten Sommer war er noch auf Demos von den Querdenkern, in einer der letzten Nachrichten schrieb er, dass sie zu den „regierungsgesteuerten Gruppen“ gehörten. Als ich mich für Flüchtlinge engagierte, wurde sein Facebook-Konto wegen rechtsextremer Äußerungen gelöscht. Während ich für eine christliche Organisation arbeite, ist er mit irgendwelchen obskuren Druiden unterwegs. Sein Laptop wurde schon mehr als einmal gepfändet und auf rechtsterroristisches Material geprüft, da er mit den Reichsbürgern sympathisierte oder auch dabei war …
Es ist einfacher, wenn man keinen Nazi, Reichsbürger, Querdenker oder ähnliches in der Familie hat. Aber seine Geschwister kann man sich eben nicht aussuchen. Vielleicht hätte er auch lieber einen kleinen Raufbold zum Bruder gehabt, statt mich, der kleinen braven Schwester.

Ein „schwieriger Junge“

Stephan (Name geändert) wuchs in einer christlichen Vorzeigefamilie auf. Meine Eltern sind in der Kirche aktiv, engagieren sich darüber hinaus ehrenamtlich im Ort. Perfekte Eltern gibt es nicht. Aber ich bin überzeugt, dass meine Eltern ehrlich versucht haben, Stephan mit viel Liebe und Geduld zu erziehen. Doch er passte von klein auf nicht in die Muster, die unsere Gesellschaft vorgibt. Im Kindergarten galt er als aggressiv, in der Grundschule konnte er nicht lange stillsitzen: ein Zappelphilipp. Einerseits konnte er sämtliche Quartett-Karten auswendig, andererseits waren seine Deutsch-Hausaufgaben oft eine Qual – für uns alle. Schließlich wurde die Diagnose ADHS gestellt, und mein Bruder bekam Ritalin. Meine Eltern suchten mit ihm Therapeuten und Ärzte auf, aber Stephan blieb ein „schwieriger Junge“.

Vielleicht schlüpfte ich, weil diese Rolle schon besetzt war, in die Rolle des „Sonnenscheins“. Ich lebte eher angepasst, brachte gute Noten nach Hause und machte meinen Eltern möglichst wenig Probleme. Die hatten sie ja auch schon mit Stephan. Mein Bruder war mir oft unangenehm. Bei Verwandtenbesuchen mussten wir einmal früher nach Hause, weil mein Bruder „sich wieder mal daneben benommen hatte“. Ich war manchmal wütend auf ihn, manchmal war er mir einfach nur peinlich. In einer Therapiesitzung sollte mein Bruder seine Familie aufstellen, erzählte mir mein Vater einmal. Die Therapeutin stellte für jedes Mitglied eine Figur aufs Brett. Mein Bruder nahm die Figur für mich direkt wieder vom Brett herunter: „Die kann in die Mülltonne.“ Die Beziehungsdynamik zwischen uns war von klein auf nicht die beste.
In den christlichen Kinderstunden fiel mein Bruder immer als Außenseiter auf, als Störenfried, als Unruhestifter. Besonders meiner Mutter war das sehr unangenehm – und ich denke, dass Stephan das gespürt hat. Der Gemeindekontext mit lauter (vergleichsweise) braven Kindern wirkte wie eine Dunkelfolie, vor der er besonders mit seiner Andersartigkeit hervorstach.
Wenn ich heute mit Stephan über den christlichen Glauben spreche, bekomme ich sehr gemischte Botschaften. Manchmal ist er sehr interessiert, aber oft spürt man, dass institutionalisierter Glaube für ihn ein rotes Tuch ist. Ich verstehe das ein Stück weit. Kirche oder Gemeinde waren für ihn kein Ort, wo er Liebe und Geborgenheit empfunden hat, sondern wo er sich als Außenseiter fühlen musste. Statt bedingungsloser Gnade hat er vermutlich eher die Botschaft verstanden, dass er so, wie er ist, nicht gut genug, lieb genug, vernünftig genug, normal genug ist, um dabei zu sein.

Nur schwarz und weiß

Erst als Stephan erwachsen war, wurde eine Form von Autismus festgestellt. Mein Bruder denkt die Welt gern in schwarz-weiß, klare Grenzen (und Abgrenzungen) helfen ihm, sich zu orientieren. Empathie ist für ihn fast nicht möglich, aber dafür kann er nichts. Er teilt seine Meinungen ungefiltert mit – ob er sein Gegenüber damit verletzt oder nicht. Er hat einen sehr hohen IQ, aber soziale Kompetenzen besitzt er kaum. Er wirkt oft schusselig und tollpatschig. Er kann aus Erfahrungen nur bedingt lernen; das ist Teil seiner Autismus-Spektrum-Störung.

War unsere Beziehung nur schlecht? Nein, bestimmt nicht. Wir teilten unsere Liebe zu Tieren und führten oft zusammen die Hunde von Nachbarn aus. Einmal schenkte mein Bruder mir eine Tasse zum Geburtstag, auf der stand: „Hab dich lieb.“ Stephan ist immer sehr ehrlich, und die Eigenschaft schätze ich bis heute.
Als Kind hatte ich oft die naive Vorstellung, dass er sich nur „richtig bekehren“ müsse, und dann würde endlich alles gut. Ich habe mich manchmal auch bemüht, dazu beizutragen, was erwartungsgemäß nicht von Erfolg gekrönt war. Stephan merkt sehr schnell, ob etwas fair ist oder nicht, ob Druck in einer Beziehung ausgeübt wird oder jemand ihn gängeln will. Meine Avancen in die Richtung sind (zum Glück) fehlgeschlagen. Wenn ich heute zurückdenke, dann tut es mir leid, dass ich ihn in mein Schema pressen wollte, anstatt ihn so anzunehmen und zu lieben, wie er ist.

Feindbilder übernommen

Stephan zog mit Anfang 20 aus, emanzipierte sich von der Familie und lebt nun sein eigenes Leben. Dabei hat er Menschen kennengelernt, bei denen er nicht ständig als Außenseiter auffällt. Eine übersichtliche Einordnung der Welt, ein Drinnen und Draußen, klare Strukturen, die meinem Bruder entgegenkommen. Mit dieser Welt hat er auch die Feindbilder, die Abgrenzung und die Verschwörungsideologien übernommen. Ich vermute, dass er in diesen Kreisen endlich das Gefühl hat, genug zu sein, dazuzugehören, ein Teil zu sein. Sie übertrugen ihm Aufgaben, er durfte dort Reden halten, sie haben ihm eine Stimme und eine Stellung gegeben. Die rechten Gruppen, in denen er verkehrt, haben es scheinbar geschafft, ihm das zu vermitteln, was unsere christlichen Gemeinden ihm nicht geben konnten. Das ist etwas, was mir immer wieder sehr weh-tut. Jesus hat es hinbekommen, genau für die Menschen attraktiv zu sein, die am Rand der Gesellschaft standen. Wieso fühlen sich diese Menschen in unseren Gemeinden nicht wohl?

Meine Eltern sind mit Organisationen im Kontakt, die Familien und Aussteigern aus der rechten Szene Unterstützung anbieten. Wir bleiben in Kontakt mit ihm. Mir passiert es immer wieder, dass ich mit ihm streite, weil er Behauptungen aufstellt, die ich nicht stehen lassen will. Ich versuche, an seine Logik zu appellieren, an seinen gesunden Menschenverstand. Aber das bleibt fruchtlos.
Ich wäre zwar gern für ihn da, aber gleichzeitig kann ich auch nicht gut damit umgehen, wenn er mir ungefiltert Dinge an den Kopf wirft, die mich verletzen, provozieren, aufwühlen und verunsichern. Vielleicht ist es seine Art, um Aufmerksamkeit zu bitten. Doch ich bin nicht unbegrenzt fähig, meine Gefühle beiseitezuschieben. Wenn es mir gut geht, lasse ich mich auf Gespräche mit ihm ein, setze dabei aber Grenzen. Manchmal habe ich aber das Bedürfnis, mich vor verbalen Angriffen zu schützen, und ziehe mich zurück. Ich versuchte zum Beispiel, ihn mit logischen Argumenten zu widerlegen, als er behauptete, Flüchtlinge würden 2.000 Euro und ein iPhone geschenkt bekommen, wenn sie ins Land kämen („Was für einen Umsatz Apple zusätzlich gehabt haben muss! Und Wahnsinn, wie reich die Kommunen plötzlich sind!“). Sobald er aber anfängt, Dinge zu sagen, die menschenverachtend sind, oder er mich persönlich (bewusst?) angreift, bremse ich das Gespräch aus.
Bis heute sind die Kontakte sehr ambivalent. Auf der einen Seite schickt er in den Familien-Chat einen Link zu einem christlichen Video, das ihn angesprochen hat. Im gleichen Chat schreibt er wenig später antisemitische Hetze.

Viel barmherziger

In manchen Momenten denke ich, dass die Welt doch einfacher wäre, wenn mein Bruder einfach „normal“ wäre. Aber es sind nur Momente. Stephan ist für mich ein persönlicher Check-Up für die Authentizität meines Glaubens. Durch ihn ist mein Bedürfnis groß geworden, dass Gemeinde ein Ort wird, an dem sich Menschen wie Stephan zu Hause fühlen können. Er fordert mich immer wieder heraus und zeigt mir, dass es eine Welt außerhalb meiner Blase gibt. Er ist und bleibt mein Bruder, ich habe ihn lieb, auch wenn ich so vieles nicht mit ihm teile. Als Familie haben wir viel gelernt. Wir sind vermutlich alle sehr viel barmherziger mit anderen Familien, die nicht ins Schema F passen. Meine Mutter hat einige Kontakte zu anderen Müttern, die Kinder im autistischen Spektrum haben.

Ich bete für ihn, dass er Menschen, vielleicht Christen findet, die ihn so annehmen, wie er ist und keine belastete Vorgeschichte mit ihm haben. Ich wünsche mir für ihn, wir könnten ihm als Familie mehr Rückhalt geben, und gleichzeitig will ich mich von seinen Vorstellungen und Aussagen deutlich abgrenzen. Die Frage, wie ich, wie wir am besten mit Stephan umgehen sollten, wie es aussieht, ihn bedingungslos und wie Jesus zu lieben, bleibt für mich ein Weg, auf dem noch einiges an Strecke vor mir liegt.

Die Autorin möchte anonym bleiben.