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Misch dich ein!

Wenn Christen Verantwortung übernehmen, verändert sich die Gesellschaft. Ein Plädoyer von Uwe Heimowski.

Es war an einem Sonntagmorgen. Ich stand unter der Dusche. Meine Tochter klopfte an die Kabine. „Papa, ich muss dich mal was fragen“. Ich drehte das Wasser ab, wischte die beschlagene Scheibe frei und sah sie an. „Hallo Schatz, was gibt’s?“ Sie nestelte ein wenig an ihrem Schlafanzug, bevor sie ihren Satz formulierte. „Papa, heute ist doch die Wahl.“ Wir hatten zu dieser Zeit eine Jugendpastorin in unserer Gemeinde angestellt, meine Töchter waren ziemlich begeistert von ihr. Heute sollte nach einer Probezeit über eine feste Berufung abgestimmt werden. „Ja, heute ist die Wahl.“ Sie suchte die richtigen Worte. „Darf da jeder abstimmen?“ Baptistengemeinden sind Kongregationalisten, die Mitgliederversammlung (englisch „congregation“) ist das höchste Gremium. „Ja“, antwortete ich, „jedes Mitglied hat eine Stimme.“ Meine Tochter war noch nicht fertig. „Muss man seine Wahl auch begründen?“ „Nein, die Wahl ist geheim, jeder kann wählen, wie er möchte.“ Jetzt war Talitha entrüstet: „Aber das ist doch gemein. Dann kann man ja auch gegen sie stimmen, nur weil man sie nicht mag. Das ist doch kein Argument!“ Sie stampfte mit dem Fuss und rauschte aus dem Badezimmer. Völlig perplex (und ziemlich stolz) ließ sie mich in der Dusche zurück. Was für eine messerscharfe Analyse! Und das von einer gerade mal Zehnjährigen.

RÜCKZUG IN DIE SCHMOLLECKE

Die Begebenheit liegt etwa sieben Jahre zurück. Damals war von „Merkel muss weg“ noch keine Rede. Im Gegenteil: Noch 2013 ist mancher CDU-Kandidat auf „Mutti-Ticket“, also mit Kanzlerinnen-Bonus, in den Bundestag eingezogen.

Seither hat sich unser Land verändert. Nicht nur durch die Flüchtlingskrise. Seit 2009 arbeite ich im politischen Berlin, zunächst als Mitarbeiter eines Bundestagsabgeordneten, seit Oktober 2016 als politischer Beauftragter der Deutschen Evangelischen Allianz. Ich habe also einen ganz guten Überblick, würde ich sagen.

Und mir fällt auf: Immer mehr Menschen verhalten sich so, wie Talitha es bei der Wahl in der Gemeinde befürchtet hatte: Statt sich eine fundierte Meinung zu bilden und das Beste für das Gemeinwesen zu suchen (wie es der Prophet Jeremia fordert: „Suchet der Stadt Bestes und betet für sie zum Herrn“, Jeremia 29,7), schließen sie sich der Anti-Fraktion an: Sie schimpfen auf „die da oben“, sie verbreiten Halbwahrheiten, und häufig vergreifen sie sich im Ton, insbesondere in den sozialen Netzwerken. Gleichzeitig ziehen sie sich in ihre jeweilige Schmollecke zurück, statt politisch aktiv zu werden.

ABSAGE ANS MECKERN

Auch bei Christen lässt sich das beobachten. Sie beklagen den Verfall christlicher Werte in der Politik, überlassen aber anderen das Feld – doch warum sollte ein Nichtchrist christliche Werte befördern? Das müssen wir schon selbst tun. Man kann beklagen, dass das „C“ in der CDU nur noch Makulatur sei, wenn diese eine „Ehe für alle“ zulasse. Man kann lamentieren, dass statt der Erziehungsleistung einer Mutter nur noch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf die Agenda der Politik bestimme. Und so weiter und so fort.

Doch gilt nicht bei all dem immer: Wer nicht handelt, wird behandelt? Wenn Christen die Welt nach Gottes Maßstäben mitbestimmen wollen, dann sollten sie Verantwortung übernehmen. Die Bibel fordert uns an vielen Stellen dazu auf. Nehmen wir etwa die so genannte Goldene Regel, in der Jesus sehr klar formulierte: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen zuerst.“ (Matthäus 7,12). Das ist eine überdeutliche Aufforderung zu pro-aktivem Handeln und damit eine Absage ans Meckern oder daran, von anderen zu fordern, was wir selbst nicht zu geben bereit sind. Jesus sagt: Wartet nicht darauf, dass andere euch etwas Gutes tun. Fangt ihr damit an. Liebe Christen, seid aktiv, gestaltet, stellt euch an die Spitze, wenn es darum geht, etwas für das Wohl der Menschen und der Gesellschaft zu tun.

DER AUFTRAG DER CHRISTEN

Mag sein, dass wir für unsere Positionen nicht sofort Mehrheiten finden. Aber das darf uns nicht hindern. Jeder, der schon mal Hefekuchen gebacken hat, weiß: Die Hefe ist mengenmäßig nur ein kleiner Teil der Zutaten, aber sie wird buchstäblich in den gesamten Teig „hineingemischt“. Sich einmischen: das ist ein sehr naheliegendes Bild, wenn Christen sich die Frage stellen, ob sie sich politisch engagieren sollen. Jesus selbst hat dieses Bild gebraucht: „Womit soll ich das Reich Gottes vergleichen? Es gleicht einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mengte, bis es ganz durchsäuert war“ (Lukas 13,20f).

Der Auftrag der Christen, und das macht Jesus an vielen Stellen deutlich, ist es, das Evangelium vom Reich Gottes auszubreiten. Das tun wir, indem wir vom „König“ dieses Reiches reden: von Jesus, dem Sohn Gottes, unserem Retter und Herrn. Und wir tun es ebenso, indem wir aktiv für Recht und Gerechtigkeit wirken, indem wir mutig Frieden stiften, wo Unfrieden und unbarmherzige Zustände herrschen; wir tun es, indem wir Freude ausbreiten, also für ein gesellschaftliches Klima der Dankbarkeit und Zufriedenheit einstehen. „Denn das Reich Gottes ist … Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste“, schreibt Paulus (Römer 14,17).

Unsere Gesellschaft braucht Christen, die ihre Verantwortung wahrnehmen. An den unterschiedlichsten Stellen: in Parteien, in Elternvertretungen, als Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr oder als Trainer einer Jugendmannschaft, um nur einige wenige Möglichkeiten zu nennen.

ES GEHT UM VERANTWORTUNG!

Zurück zur Gemeindestunde. Einige Mitglieder kamen extra zur Wahl, obwohl sie vorher lange nicht da gewesen waren. So auch ein Mann in den Vierzigern. Kaum, dass er mich sah, schoss er auf mich zu. „Uwe, du arbeitest doch jetzt in Berlin. Hast du auch die Kanzlerin schon getroffen?“ Ich musste mich ein bisschen schütteln. „Ja“, antwortete ich, und wimmelte ihn ab.

Da hat einer nicht verstanden, worum es geht in der Politik. Es geht nicht darum, Karriere zu machen oder Prominente zu kennen. Auch nicht in erster Linie um Macht. Sondern um Verantwortung. Oder mit Talithas Worten: Es geht um Begründungen. Um das Verstehen von Zusammenhängen und dann um konstruktives Mitgestalten. Sei es im „großen“ Berlin oder im „kleinen“ (Gemeinde-)Alltag.

Uwe Heimowski vertritt die Deutsche Evangelische Allianz als deren Beauftragter beim Deutschen Bundestag in Berlin. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.