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Der friedliche Kampf: Das schreibt der Nikolaikirchen-Pfarrer über die DDR-Demos 1989

Am 3. Oktober feiern wir den Tag der Deutschen Einheit. Tausende DDR-Bürger gingen im Herbst 1989 für ihre Freiheit auf die Straße. Vor seinem Tod schrieb Christian Führer, der damalige Pfarrer der Nikolaikirche, wie er diese Tage erlebt hat.

Teil 1: Hintergrund – Montag, 9. Oktober 1989

Wie zur Warnung trifft sich gerade heute Honecker mit der chinesischen Staatsdelegation des stellvertretenden Ministerpräsidenten Yao Yilin in Berlin. Die chinesische Gewaltlösung vom „Platz des Himmlischen Friedens“ scheint so nah wie nie. In Leipzig wird währenddessen über die Betriebe offiziell davor gewarnt, in die Innenstadt zu gehen, da man sich so als Staatsfeind zu erkennen gäbe. Im Volkspolizeiamt lautet die offizielle Devise für die Sicherheitskräfte: „Das Ziel des Einsatzes besteht in der Auflösung rechtswidriger Menschenansammlungen und (…) in der dauerhaften Zerschlagung gegnerischer Gruppierungen sowie der Festnahme der Rädelsführer.“ In den Krankenhäusern werden Blutkonserven gesammelt und Betten frei gemacht. Betriebskampfgruppen werden zusammengezogen und mit Gummiknüppeln bewaffnet. Hinter der „Runden Ecke“, wie die Stasizentrale im Volksmund heißt, nehmen Schützenpanzer Stellung.

Balkone werden abgesperrt

Schon am frühen Nachmittag besetzen 600 SED-Parteikader (ohne Parteiabzeichen) den Innenraum der Nikolaikirche, bevor Pfarrer Christian Führer die Balkone der Kirche absperrt – für die »Werktätigen«, die bis 17.00 Uhr arbeiten müssen, wie er bei der Begrüßung der Neulinge das Montagsgebet erklärt. Aber auch die Thomaskirche, die Michaeliskirche und die Reformierte Kirche bereiten sich auf die Friedensgebete vor.

„Wir sind das Volk“

Um 17.00 Uhr versammeln sich 10.000 Besucher in den vier völlig überfüllten Kirchen zum Montagsgebet. Bischof Johannes Hempel ruft in allen vier Kirchen die Besucher persönlich zum Gewaltverzicht auf und die Berichte aus Dresden machen Mut. Draußen warten Menschenmengen. Gemeinsam ziehen sie mit den Kerzen in der Hand zum Karl-Marx-Platz und von dort den Ring entlang. Sprechchöre skandieren „Wir sind das Volk“, „Gorbi, Gorbi“ und „Wir sind keine Rowdys“, daneben erschallen Lieder wie „We shall overcome“. Die 8.000 Einsatzkräfte kapitulieren angesichts der friedlichen 70.000. Den möglichen massiven Schusswaffeneinsatz will keiner anordnen. Selbst Einsatzleiter Helmut Hackenberg bekam von Egon Krenz keine klare Antwort. Erst als die Demonstranten schon den ganzen Innenstadtring ausfüllten, kam die Bestätigung der Leipziger Linie des Nichteingreifens, solange keine Gewalt von der Demo ausgeht. Mit Kerzenketten und dem Ruf „Keine Gewalt“ wird versucht, vor den sensiblen Punkten wie der Stasizentrale Provokationen auch aus der Demo heraus zu verhindern, was wie ein Wunder gelang.

Ein Lichtermeer

In Dresden lauschen derweil 20.000 Menschen in und vor den Kirchen den Berichten der Bürgervertreter der „Gruppe der 20“ über die Ergebnisse ihrer Gespräche mit Oberbürgermeister Berghofer am Morgen.

In Berlin bricht bei den 3.000 Besuchern in der Gethsemanekirche spontaner Jubel aus, als sie von dem friedlichen Verlauf in Leipzig hören. Der Platz rund um die Kirche wird zum Lichtermeer und auch hier ziehen sich die Sicherheitskräfte zurück. Lediglich in Halle gehen sie mit gewohnter Brutalität gegen 2.000 Demonstranten rund um die Marienkirche vor, wo sie eingekesselt massenhaft zu den „Zuführungspunkten“ gebracht werden.

Viel Gebet

Neben Leipzig, Berlin, Dresden und Halle finden Veranstaltungen in Magdeburg, Jena, Markneukirchen und Meerane statt, „die ihrem Charakter nach gegen die staatliche Ordnung in der DDR gerichtet waren“, wie ein Lagebericht am nächsten Tag meldet. Für einen friedlichen Verlauf der Montagsdemonstrationen haben an diesem Abend viele Gemeinden in der DDR gebetet.

Teil 2: Christian Führer berichtet

Was mich bis heute am meisten bewegt: Mit dem Ruf „Keine Gewalt!“ war die Bergpredigt Jesu auf den Nenner gebracht! Aus dem Volk geboren, nicht von einem Pfarrer oder Bischof formuliert. Und sie haben nicht nur „Keine Gewalt!“ gedacht oder gerufen, sondern haben die Gewaltlosigkeit konsequent auf der Straße praktiziert. Menschen, die in zwei unterschiedlichen atheistischen Weltanschauungsdiktaturen aufgewachsen waren. Bei den Nazis mit Rassenhass und Kriegsvorbereitungen. An die Stelle Gottes war die „Vorsehung“ getreten. Bei den Realsozialisten mit Klassenkampf und Feindbild und atheistischer Propaganda: „Euren Jesus hat’s nie gegeben und euer Gefasel von Gewaltlosigkeit ist gefährlicher Idealismus. In der Politik zählen Geld, Armee, Wirtschaft, Medien. Alles andere kannst du vergessen!“ Dass die so erzogenen Menschen im Geist Jesu der Gewaltlosigkeit draußen auf der Straße handelten– Carl Friedrich von Weizsäcker sagte zu mir: „Das ist ein erschütternder Vorgang.“ Ich gehe noch einen Schritt weiter: Wenn je etwas das Wort „Wunder“ verdient, dann das. Ein Wunder biblischen Ausmaßes!

Zwischen Angst und Hoffnung

Als nach dem Friedensgebet alle aus der Kirche herausgekommen waren, setzte sich die Menschenmenge langsam in Bewegung. Die Kinder hatten sie zu Hause gelassen, weil es lebensgefährlich war. Zwischen Angst und Hoffnung bewegte sich der Zug Meter um Meter vorwärts auf dem Ring.

Mit allem gerechnet außer Kerzen und Gebeten

„Wir sind das Volk!“– das bedeutete auch: „Ihr ‚Volks‘-Polizisten, für wen steht ihr eigentlich hier? Für die paar Greise in Berlin – oder was?“ Wo das Volk steht, brauchst du bei 70.000 niemandem zu erklären. Die Staatsmacht war total überrascht und verunsichert. „Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten“, so der Volkskammerpräsident Horst Sindermann. Dafür hatten die Offiziere keinen Einsatzbefehl. Als der Zug der Menschen unangefochten den Innenstadtring passiert hatte und wieder am Ausgangspunkt angekommen war, herrschte eine ungeheure Erleichterung, dass nicht geschossen worden war. Keine zerstörte Schaufensterscheibe. Keine Sieger und Besiegten. Keiner verlor das Gesicht. Keiner büßte sein Leben ein.

Christian Führer (1943–2014), war 1989 Pfarrer in der Nikolaikirche in Leipzig. Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Das Wunder der Freiheit und Einheit“, erschienen bei SCM Hänssler und der Evangelischen Verlagsanstalt.

Was zum Feiern dazugehört!

Morgen, am 3. Oktober, jährt sich die deutsche Einheit zum 25.Mal! Feiern Sie aber bitte nicht nur 25 Jahre Deutsche Einheit, sondern auch 70 Jahre ohne Krieg. Feiern Sie die Errungenschaften der Demokratie, feiern Sie viele Jahrzehnte der Meinungsfreiheit in unserem Land, der Reisefreiheit, der Pressefreiheit, der Glaubensfreiheit. Dinge, die den meisten von uns längst selbstverständlich sind. Für die in anderen Teilen der Welt aber Menschen – manchmal unter Einsatz ihres Lebens – kämpfen.

Ich hoffe, dass sich uns im Feiern unserer Errungenschaften die Frage stellt, wie wir dazu beitragen können, diese Freiheit auch über unsere Grenzen hinaus zu tragen. Ein erster Schritt dazu ist es, die oben genannten Themen im Bewusstsein zu halten.

Ein zweiter Schritt ist es, die Menschen zu unterstützen, die aus Gebieten zu uns kommen, wo an Presse-, Meinungs- und Glaubensfreiheit nicht zu denken ist. Und die Flüchtenden, die uns erreichen, menschenwürdig zu empfangen. Ich wünsche mir praktische Hilfen und nahbare Menschen. Ich wünsche mir Begegnungen ohne Berührungsängste und viel Mut von allen Seiten.

Damit verbindet sich meine dritte Hoffnung: die Hoffnung, dass Kirchen und Gemeinden sich zukünftig weniger um sich selbst drehen. Sondern mehr verstehen, dass sie von Christus geliebt sind und selbst aufgefordert sind zu lieben, insbesondere die Hilflosen und Armen. Das erfordert Mut zu Veränderungen und vielleicht den Verzicht auf lieb gewordene Gewohnheiten.

Martin Gundlach

Chefredakteur von Family