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Zwischen zwei Geschlechtern

Dr. Ute Buth beantwortet Fragen zur Intersexualität.

Was ist Intersexualität?

Der Duden definiert Intersexualität als „das Vorkommen von männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen in einem Individuum [einer sonst getrenntgeschlechtigen Art]“. Bei der Intersexualität ist die Geschlechtsbiologie uneindeutig. Man kann es auch von der lateinischen Bedeutung her erklären: „Inter“ bedeutet zwischen, Sexus steht für Geschlecht. Intersexualität meint also, dass es um einen „zwischengeschlechtlichen Zustand“ handelt. In der Medizin spricht man auch von Sexualdifferenzierungsstörungen. Intersexuelle Menschen werden je nach Ausprägung der Verschiedenartigkeit auch als Zwitter oder Pseudo- oder echte Hermaphroditen bezeichnet.

Welche Ausprägungen gibt es?

Die Intersexualität kann verschiedene Ursachen haben und dementsprechend ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Deshalb wird sie auch zu verschiedenen Zeitpunkten entdeckt: Manchmal ist sie schon zur Geburt offenkundig oder in der Pubertät setzt die erwartete Körperveränderung nicht wie bei den anderen ein. Bei wieder anderen wird sie erst sehr viel später im Erwachsenenalter entdeckt.

1. Veränderungen der Erbinformationen (Chromosomen): Wenn beim Verschmelzen der männlichen und weiblichen Erbinformation nicht die gängigen 46XY (männlich) oder 46XX (weiblich) entstehen, kann es zur Intersexualität kommen. Auf Grundlage der gängigen oder veränderten Erbinformation entwickeln sich nach der Zeugung bei jedem Menschen im Verlauf der frühen Schwangerschaft die Ausprägungen der jeweiligen Geschlechtsinformation.

2. Fehlende oder veränderte Keimdrüsen, das betrifft beim Mann die Hoden und bei der Frau die Eierstöcke. Sie enthalten die Keimzellen, die wir für die Fortpflanzung brauchen: Samenzellen beim Mann, Eizellen bei der Frau. Veränderungen an den Keimdrüsen können auch als sogenannte „Streifengonaden“ in Erscheinung treten, bei denen die spezielle geschlechtliche Ausbildung und damit die Fortpflanzungsfähigkeit ausbleibt. Es kommen diverse Varianten mit unterschiedlichen klinischen Erscheinungsbildern vor.

3. Ein hormonell verändertes Gleichgewicht bei den Geschlechtshormonen oder ihrer biochemischen Vorstufen kann im Körper eines Menschen zu gegengeschlechtlichen Veränderungen führen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der männliche Behaarungstyp am Körper von Frauen, insbesondere der Bartwuchs (Hirsutismus) oder umgekehrt die Bildung einer Brust beim Mann (Gynäkomastie), wenn zu viele weibliche Geschlechtshormone überwiegen. Achtung: Dies kommt nicht nur bei einer Intersexualität vor, sondern kann auch nur ein Zeichen dafür sein, dass das hormonelle Gleichgewicht verschoben ist. Die Ursachen für eine hormonelle Intersexualität können im Bereich der Niere, der Erbinformation oder der Keimdrüsen liegen.
4. Uneindeutige Geschlechtsorgane als Zeichen der Intersexualität: Ein großer Kitzler bei einem weiblichen Säugling wird gelegentlich mit dem Penis verwechselt oder sehr kleine Hoden mit den Schamlippen.

Wie kommt es dazu, dass das Geschlecht uneindeutig ist?

Zu Beginn des Lebens wird das Geschlecht des neuen Menschen normalerweise durch die Samenzelle des Mannes festgelegt. Zu der Grundausstattung von 46 Erbinformationen (23 von der Frau und 23 vom Mann) kommt die Geschlechtsinformation dazu. Die Frau (Erbinformation 46XX) gibt die Hälfte ihrer Geschlechtsinformation weiter, also ein X. Der Mann (Erbinformation 46 XY) gibt ebenfalls die Hälfte seiner Geschlechtsinformation weiter, also entweder X oder Y. Dazu muss ihre Geschlechtsinformation halbiert werden. Funktioniert bei dieser Reduzierung der vollständigen Erbinformation auf die Hälfte etwas nicht richtig, können statt 46 XX zum Beispiel 45 X0 auftreten. Dies nennt man auch Turner-Syndrom. Oder es bildet sich 47 XXY, das Klinefelter-Syndrom. Doch auch wenn auf Basis der Erbinformationen alles problemlos verläuft, können im weiteren Geschehen zum Beispiel durch falsche oder unvollständige Botenstoffe (Hormone) Eigenschaften ausgebildet werden, die eigentlich zum anderen Geschlecht gehören würden. Das liegt auch daran, dass die grundsätzliche Möglichkeit, männliche oder weibliche Geschlechtsorgane auszubilden, in jedem Menschen als Kernanlage vorliegt. Gemäß seiner Erbinformation bildet sich aber normalerweise auch vermittelt durch Botenstoffe das zu den Erbinformationen passende Geschlecht aus — und das andere Geschlecht wird unterdrückt.

Um einige Beispiele zu nennen: Funktionieren wichtige männliche Botenstoffe nicht am Erfolgsorgan oder werden gar nicht erst gebildet, können bei einem Jungen mit 46 XY weibliche Genitalorgane ausgebildet werden. Liegen aufgrund von Nebennierenstörungen beim Mädchen zu hohe männliche Hormone vor, vergrößert sich der Kitzler und wird nicht selten für einen Penis gehalten (AGS-Syndrom / Adrenogenitales Syndrom).

Wie häufig ist Intersexualität?

Eine konkrete Zahl ist schwer zu ermitteln. Denn je nach Variante/Ursache der spezifischen Veränderung werden einerseits sehr unterschiedliche Häufigkeiten angegeben. Andererseits kommen manche Veränderungen nur sehr selten vor oder werden in ganz unterschiedlichem Lebensalter und nicht umfassend erfasst. So ist es schwer, überhaupt verlässliche Zahlen zu nennen. Alles in allem gibt es Quellen, die von einem intersexuellen Baby auf (500 bis) 5000 Geburten ausgehen. Verschiedene Quellen sprechen von vermuteten ca. 80.000 bis 120.000 Intersexuellen in Deutschland. Eine große Zahl – und doch kennt kaum jemand einen von ihnen persönlich, weil es ein großes Tabu-Thema ist und Betroffene meist in der Familie zum Schweigen angehalten werden – oder sogar selbst nichts von ihrer besonderen Situation wissen.

Ist es besser, das Geschlecht uneindeutig zu lassen, bis das Kind selbst entscheiden kann oder sollten Eltern sich lieber von Anfang an festlegen?
Das ist eine schwierige und sehr komplexe Frage. Denn jede Entscheidung, die man trifft — für oder gegen eine eindeutige Zuordnung — hat Folgen. Zum Beispiel könnte man das Kind mit einer eindeutigen Zuordnung auf ein Geschlecht festlegen, zu dem es sich später nicht zugehörig fühlt. Oder aber es ist bei einer Nicht-Zuordnung Hänseleien oder Unverständnis anderer ausgesetzt, die sich nicht vorstellen können, dass es eine Zwischengeschlechtlichkeit überhaupt gibt. Auch sah das Deutsche Gesetz bis vor kurzem kein uneindeutiges Geschlecht vor. In der Praxis war also bislang eine wie auch immer geartete Zuordnung nötig. Viele Alltagssituationen sind schwierig: Was sagt man Verwandten oder Bekannten? Wer wird in die Information einbezogen und kann damit wie vertrauensvoll umgehen? Melden die Eltern das Kind in der Kita/ Schule als Junge oder Mädchen an? Man denke zum Beispiel auch an nicht zu vermeidende Situationen wie das Umkleiden beim Sportunterricht, Baden, Klassenfahrten etc.
In der Vergangenheit gab es unterschiedliche Strategien: Tatsächlich hat man im 19. Jahrhundert auch in Ermangelung operativer Möglichkeiten das Geschlecht uneindeutig gelassen und Betroffene mit 18 Jahren entscheiden lassen, zu welchem Geschlecht sie sich zugehörig halten wollen. Doch so fortschrittlich wie das klingt, war es nicht in jedem Fall. Betroffene mit auffälliger Intersexualität wurden zum Teil sogar auf Jahrmärkten ausgestellt. Mit Zunahme der Operationsmöglichkeiten gab es dann eine deutliche Bewegung hin zu frühen Entscheidungen und damit Operationen. Technisch war es zudem anfangs leichter, ein weibliches Genital zu formen, was für Jungen mit einem sehr kleinen Genital gravierende Folgen hatte, wenn sie nach einer solchen Operation dann als Mädchen aufgezogen wurden. Hinzu kommt, dass man früher dachte, es sei bei kleinen Kindern noch steuerbar, in welcher Geschlechtszugehörigkeit man sie aufzöge. Außerdem riet man Eltern früher, mit ihren Kindern nicht über die Operation oder deren Intersexualität zu reden. Das hatte nicht selten traumatische Folgen, wenn Kinder an sich Veränderungen wahrnahmen, die aber nicht zu ihrem „Erziehungsgeschlecht“ passten. Inzwischen weiß man, dass das Geschlecht bereits im Mutterleib mit geprägt wird und dass es nicht einfach durch Erziehung veränderbar ist.

Somit ist das frühe medizinische Vorgehen heutzutage umstritten. Denn eine eindeutige Zuordnung, was für das Kind das Beste wäre, ist im Säuglingsalter nicht allumfassend möglich. Und die Zustimmung des Kindes kann man ja noch gar nicht einholen. Mit diesen Fragen befasste sich auch der Deutsche Ethikrat. Als Ergebnis verabschiedete der Bundestag in diesem Jahr ein Gesetz, das am 1. November in Kraft tritt: „Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in das Geburtenregister einzutragen.“ (PStG § 22 Abs. 3). Somit ist das Geschlecht auf dem Standesamt offen zu lassen. Da die Eltern bei konsequenter Auslegung des Gesetzes nun auch keine Wahlfreiheit haben, ist das Gesetz auf Kritik gestoßen. Betroffene Eltern stehen so weiterhin vor einer Einzelfallentscheidung und einem Dilemma, in dem sie sehr viel Weisheit brauchen. Denn selbst wenn sie im Interesse ihres Kindes die endgültige Entscheidung offen lassen, können sie nicht steuern, wie verantwortlich und feinfühlig andere mit ihrem Kind umgehen. Wollen sie sich für ein bestimmtes Geschlecht entscheiden, befürchten Kritiker des Gesetzes, sehen sie sich erst recht zu einer Operation gedrängt, um eine vermeintliche Eindeutigkeit zu schaffen. Aber auch damit wissen sie nicht, ob es langfristig die richtige Entscheidung war.

Welche Behandlungen/OPs sind jeweils nötig oder sinnvoll?

Zunächst sollte man bedenken: Behandlungen haben in der Regel das Ziel einer eindeutigen Zuordnung. Damit erschweren sie oder verunmöglichen sie ggf. eine spätere andere Entscheidung des intersexuellen Menschen. Die konkrete Behandlung hängt von der Ausprägung der Symptome und dem gewünschten Ergebnis/Veränderungswunsch ab. Manchmal werden Botenstoffe eines Geschlechts gegeben, die zu spezifischen Körperveränderungen führen. Vielleicht kennt dies der eine oder andere bereits von Nachrichten über geschlechtsumwandelnde Operationen. Vor einem solchen Eingriff erhält der Betroffene schon weit im Voraus die Botenstoffe des anderen Geschlechts. So bildet sich bei Frauen dann Bartwuchs oder ein männlicherer Körperbau, die Muskelmasse nimmt zu, die Stimme wird tiefer … Bei Männern, die weibliche Botenstoffe erhalten, verändert sich der Behaarungstyp, der Bartwuchs verschwindet, die Brust beginnt zu wachsen, die Stimme wird höher. Allerdings lässt sich nicht der Knochenbau nachträglich verändern. Und weibliche Geschlechtsorgane wie Scheide oder Gebärmutter entstehen nicht einfach durch die Gabe von weiblichen Botenstoffen. Hier ist dann die plastische Chirurgie gefragt. Anders als früher sind heutzutage geschlechtsangleichende Operationen grundsätzlich möglich. Sie erschaffen optisch und zum Teil funktionell das andere Geschlecht, können aber keine Keimdrüsen wie Hoden oder Eierstöcke entstehen lassen, sondern allenfalls Hoden optisch nachbilden.

Doch auch dann wenn man eine Operation plant, die keine umfassende Geschlechtsumwandlung bedeutet, sollte man Folgen bedenken. Wird zum Beispiel ein als „zu groß“ empfundener Kitzler des Mädchens verkleinert, operiert man in einem Bereich, der für das sexuelle Lustempfinden zuständig ist. Das kann Folgen für das spätere Sexualleben haben.

Welche körperlichen und seelischen Auswirkungen kann Intersexualität haben?

Auch das ist von Fall zu Fall sehr verschieden und hängt stark von der Ausprägung im Einzelfall ab. Manche Menschen bemerken bis zur Pubertät gar nichts von ihrer Intersexualität, sind dann aber hochgradig irritiert, weil sie sich plötzlich nicht mehr als normal und zugehörig zu ihrer Geschlechtsidentität empfinden. Und das in einer Zeit, in der jungen Menschen auf dem Weg zum Erwachsenen gern möglichst unauffällig im breiten Mittefeld mitschwimmen. Andere fühlen sich ständig anders oder dem ihnen zugedachten Geschlecht nicht zugehörig, leiden unter der Schweigeverpflichtung, die ihnen womöglich auferlegt wurde oder finden erst später heraus, dass ihre Eltern oder Mediziner einmal grundlegende Entscheidungen hinsichtlich ihres Geschlechts getroffen haben. So wie Christiane Völlig, die als Mädchen einen zu großen Kitzler hatte. Die Geburtshelfer interpretierten ihn als Mikropenis und machen sie zum Jungen „Thomas“. Jahrzehntelang fühlte sie sich falsch in diesem Geschlecht. Mit 17 Jahren entdeckte ein Chirurg bei dem vermeintlichen Jungen in einer Blinddarm-Operation Gebärmutter und Eierstöcke. Mit 18 Jahren wurden sie ihr ohne ausreichende Aufklärung entfernt, männliche Botenstoffe wurden verabreicht und damit der Körper weiter vermännlicht. Erst mit weit über 40 Jahren erfuhr sie die ganze Geschichte – und lebt inzwischen nach einem langen Weg als Frau.
Vielen Intersexuellen geht es vor allem deshalb nicht gut, weil sie in einer Gesellschaft leben, in der in zwei einfachen Geschlechtsschubladen gedacht wird, in die sie nun einmal aufgrund ihrer Andersartigkeit nicht so ohne weiteres hineinpassen. Zwar ist die Anlage der Geschlechter von der Schöpfung her schon eindeutig männlich und weiblich gedacht. Aber wir leben in einer Welt, in der Krankheit und veränderte Erbinformationen nun einmal vorkommen. Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins, wie wir mit Intersexualität umgehen — und damit auch eine zentrale Frage der Aufklärung. Wenn das Phänomen Intersexualität nicht bekannt ist, führt dies zu viel mehr Irritationen und Ablehnung, als wenn es als eine körperliche Variante dazugehört, von der man weißt, dass sie vorkommt, und dass dies einen feinfühligen Umgang mit dem Betroffenen erfordert. Auch hier gilt wieder der biblische Grundsatz, dass man sich überlegen sollte, wie man selbst in einer solchen Situation behandelt werden wollte oder auch das eigene besondere Kind. „So wie ihr von den Menschen behandelt werden möchtet, so behandelt sie auch.“ (Matthäus, 7,12).

Können Intersexuelle Kinder bekommen?

Für viele Intersexuelle ist das nicht oder nicht so ohne Weiteres möglich. Im Einzelfall hängt es von der Ausprägung ihrer Geschlechtsmerkmale/-varianten ab und vor allem davon, ob funktionsfähige Keimdrüsen vorhanden sind oder nicht. Zum Beispiel ob die Frau eine Gebärmutter und funktionsfähige Eierstöcke hat oder ob der Mann funktionsfähige Hoden hat und der Penis zum Geschlechtsverkehr fähig ist. Manchmal kann man auch mit Botenstoffen/Hormonen die Situation so verändern, dass jemand, der intersexuell ist, Kinder bekommen/zeugen kann. Das sollte im Einzelfall genau untersucht werden. Darüber hinaus gibt es im Rahmen der künstlichen Befruchtung zum Teil noch Möglichkeiten, die aber ethische Fragen aufwerfen: Inwiefern beispielsweise eine Eizell- oder Samenspende verwendet werden sollte oder eine Leihmutterschaft in Frage kommt. Vieles davon ist aufgrund der deutschen Gesetzgebung und des Embryonenschutzgesetzes hierzulande auch nicht möglich.

Dr.med. Ute Buth ist Frauenärztin und Weißes-Kreuz-Fachberaterin. Die Sexualberaterin nach DGfS (Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung) leitet die Weißes-Kreuz-Beratungsstelle „herzenskunst“ in Bochum (www.herzenskunst-beratung.de).